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Veröffentlicht am 18.05.2017

Vielversprechender Reihenauftakt mit undurchsichtigen Mordfällen

Die Morde von Morcone
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Robert Lichtenwald, ein Münchner Wirtschaftsanwalt, hat sich seinen Lebenstraum erfüllt und nennt ein Rustico in der idyllischen Maremma sein eigen. Eigentlich wollte er dort mit Frau und Tochter "la dolce ...

Robert Lichtenwald, ein Münchner Wirtschaftsanwalt, hat sich seinen Lebenstraum erfüllt und nennt ein Rustico in der idyllischen Maremma sein eigen. Eigentlich wollte er dort mit Frau und Tochter "la dolce vita" genießen, doch die beiden hatten andere Pläne, und Robert verbringt sein Sabbatjahr alleine im Süden.
Auf einer Wanderung entdeckt er in einer halbverfallenen Kirche eine Leiche, der der Mörder ein "L" in die Haut geritzt hat. Robert ahnt noch nicht, dass es nicht bei einem Mord bleiben wird...

Ist der letzte Urlaub schon so lange her, dass eine kleine Auszeit dringend nötig ist? Dann bekommt man mit diesem Titel sehr viel Toskana-Ambiente, denn leckeres Essen, die wunderbare Landschaft und die typisch italienische Lässigkeit finden trotz der Morde ihren Platz in diesem Buch - beinah so gut, wie ein echter Kurztrip nach Italien.
Mir haben Regionalkrimis manchmal ein bisschen zu viel Ambiente und zu wenig Mordermittlung, doch der Autor hat hier für meinen Geschmack die goldene Mitte getroffen. Die Mordserie ist sehr mysteriös, erst nach dem dritten Mord hatte ich eine Idee, wo überhaupt das Motiv liegen und die Verbindung zwischen den Opfern sein könnte. Aber damit wusste ich noch lange nicht, wer der Täter ist - damit tappte ich bis zum großen Finale im Dunkeln, was mein Leserherz bei einem Krimi natürlich immer höher schlagen lässt.

Bei einem Toskana-Krimi mit einem deutsch-italienischen Ermittlerduo bleibt es natürlich nicht aus, dass mit dem ein oder anderen Klischee gespielt wird, doch Stefan Ulrich übertreibt es zum Glück nicht damit, sondern setzt sie wohldosiert und manchmal auch überraschend ein.
Die Figurenzeichnung konnte mich überzeugen, Robert ist zum Glück weder der Typ "staubtrockener Anwalt" noch "depressiver Ermittler" und mit der Journalistin Giada bekommt er zudem temperamentvolle, südländische Unterstützung.

Mit etwa 280 Seiten ist dieser Krimi fast etwas zu schnell ausgelesen, andererseits war er so aber auch von Anfang bis Ende sehr spannend und hat mir unterhaltsame Lesestunden beschert. Und ich habe auch große Lust auf weitere Fälle des cleveren Wahlitalieners bekommen - sowohl für Italien- als auch für Krimifans empfehlenswert.

Veröffentlicht am 23.03.2017

Aufbruch in eine neue Ära

Die letzten Tage der Nacht
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New York, 1888: Der junge Anwalt Paul Cravath ist zwar noch Berufsanfänger, aber durch einen glücklichen Zufall bereits Partner in einer erst kürzlich gegründeten Kanzlei. Er betreut zwar nur einen einzigen ...

New York, 1888: Der junge Anwalt Paul Cravath ist zwar noch Berufsanfänger, aber durch einen glücklichen Zufall bereits Partner in einer erst kürzlich gegründeten Kanzlei. Er betreut zwar nur einen einzigen Mandaten, doch der sichert ihm viel Prestige und ein gutes Auskommen: George Westinghouse, der unter anderem Glühbirnen fertigt, und sich aus diesem Grund in mehreren hundert Verfahren wegen der Verletzung von Thomas Edisons Patent verantworten muss.
Es entbrennt ein jahrelanger Rechtsstreit um nichts weniger als die Frage, welcher der beiden Konkurrenten am Ende das Monopol auf die Versorgung des ganzen Landes mit Licht und Strom erhält.

Graham Moore entführt seine Leser in das ausgehende 19. Jahrhundert - eine Ära, die unser Leben bis heute verändert. Zu Beginn des Buches ist das neue, helle elektrische Licht noch ein Novum, das selbst in der Metropole New York nur kleine Abschnitte von Manhattan erleuchtet, der Rest der Welt schlägt sich noch mit Gas- oder Öllampen durchs Leben. Obwohl die ersten Glühbirnen schon einige Jahre zuvor die Menschheit in ihren Bann zogen, ist es Edison noch nicht gelungen, ein großflächiges, stabiles Stromnetz zu installieren, denn bisher kann Strom nur über sehr kurze Distanzen transportiert werden - an diesem Problem arbeiten sowohl Edison als auch Westinghouse, doch auch nach jahrelanger Forschung ist noch keine Lösung in Sicht.

Der Autor haucht neben den bekannten historischen Personen wie Westinghouse, Edison oder Nikola Tesla auch weniger populären wie dem Anwalt Paul Cravath und der Schauspielerin Agnes Huntington neues Leben ein. Es gelingt ihm sehr gut, diese Figuren plastisch darzustellen und nachvollziehbar handeln zu lassen. Die kurzen, knackigen Kapitel (jeweils eingeleitet mit Zitaten größer Köpfe wie beispielsweise Steve Jobs oder Bill Gates) lassen am Ende oft Fragen offen, die nicht sofort beantwortet werden und so Spannung beim Leser aufbauen.
Graham Moore ist nicht nur Schriftsteller, sondern auch Drehbuchautor, und es steht bereits fest, dass es eine Verfilmung zu "Die letzten Tage der Nacht" geben wird. Eddie Redmayne wird in die Rolle des Anwalts Paul schlüpfen. Die kurzen Kapitel, und die sich daraus ergebenden häufigen Szenewechsel und Zeitsprünge erzeugten bei mir bereits das Gefühl "einen Film zu lesen", was mir auch gut gefallen hat und sehr unterhaltsam war.

Leider ist diese Art der Umsetzung des Stoffes aber auch der Grund für meinen einzigen Kritikpunkt: an den wahren Begebenheiten wurde so viel verändert, dass am Ende ein zehnseitiges Nachwort nötig ist, um die Geschehnisse kurz im tatsächlichen zeitlichen Ablauf darzustellen und auch wurden mindestens zwei der historischen Personen Dinge angedichtet, die sie nachweislich nicht getan haben, oder die eben reine Erfindung sind.
Dadurch kann man "Die letzten Tage der Nacht" aus meiner Sicht leider nicht als historischen Roman betrachten, sondern eben nur als Roman, der lose auf einer wahren Geschichte beruht.

Wenn man das Buch nicht mit dem recht hohen Anspruch an einen historischen Roman liest, sondern es eher als Gegenpol zum Film "Der große Edison" mit Spencer Tracy in der Titelrolle betrachtet, wird man aber durchaus gut unterhalten. Zudem hat Protagonist Paul als Jurist nur wenig Ahnung von Technik, muss aber zumindest die Grundlagen verstehen, um seinen Mandaten richtig vertreten zu können - so konnte ich sogar auch ein paar interessante Details über Physik und Elektrotechnik für mich mitnehmen, die ich in der Schule wohl verpasst hatte.

Trotz meiner Kritik bezüglich der historischen Details bewerte ich das Buch mit vier Sternen, denn die großen Visionäre Westinghouse, Edison und Tesla werden mit ihrer völlig unterschiedlichen Herangehensweise an ihre bahnbrechenden Erfindungen dem Leser nahegebracht - wenn auch in einer Großteils fiktiven, aber atmosphärischen und spannenden Umsetzung.

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Veröffentlicht am 27.01.2017

Tillys Erben

Fastenopfer
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In der Nacht zum Aschermittwoch haucht der Benefiziumsverwalter Rainer Schutt-Novotny in seinem Büro unter einem imposanten Gemälde des Feldherrn Tilly sein Leben aus. Es handelt sich nicht um einen natürlichen ...

In der Nacht zum Aschermittwoch haucht der Benefiziumsverwalter Rainer Schutt-Novotny in seinem Büro unter einem imposanten Gemälde des Feldherrn Tilly sein Leben aus. Es handelt sich nicht um einen natürlichen Tod, was die beiden Mühldorfer Kripobeamten Max Kramer und Fritz Fäustl auf den Plan ruft...

Hier bin ich mal wieder reingefallen: bei "Fastenopfer" handelt es sich um den zweiten Teil einer Reihe, was auf den ersten Blick leider nicht ersichtlich war. Erst als ich schon ein ganzes Stück gelesen hatte, wurde mir klar: Hier muss es einen Vorgängerband geben. Er heißt "Gnadenort" und ist schon vor etwa zwei Jahren beim Ullstein Verlag erschienen. Eigentlich ist "Fastenopfer" ein neuer, in sich abgeschlossener Fall, den man auch völlig problemlos ohne die Vorkenntnisse aus dem ersten Band lesen kann. Zumindest kann man das, wenn man nicht wie ich diese Macke hat, dass man eine Reihe ganz oder gar nicht lesen mag. So ist auch der Vorgängerband bei mir eingezogen und wurde natürlich zuerst gelesen - immer diese Folgekosten

Die Handlung spielt hauptsächlich im idyllischen Wallfahrtsort Altötting, und man merkt auch deutlich, dass Anton Leiss-Huber über seine Heimat schreibt, wo er sich wie in seiner Westentasche auskennt. Mir gefiel besonders gut, dass der Mordfall eindeutig im Vordergrund steht, und nicht zugunsten eines komödienstadelähnlichen Spektakels im Vorbeigehen gelöst wird. Obwohl ich eigentlich sehr gerne Regionalkrimis lese, gibt es da doch gerade bei den bayrischen Vertretern einige, die man im Grunde kaum noch als Krimi bezeichnen kann. Die Eberhofer-Reihe von Rita Falk würde mir hier zum Beispiel einfallen, die ich nach dem vierten Band nicht mehr weiterverfolgt habe, weil ich das ewige Susi-Franz-Hin-und-Her nicht mehr ertragen konnte, und auch nicht mochte, dass man als Leser immer mehr den Eindruck bekommt, alle Bayern wären irgendwo zwischen vertrottelt und grenzdebil zu verorten.

Trotzdem kommt der regionale Touch nicht zu kurz, viele Figuren sprechen bayrischen Dialekt, was natürlich in den Dialogen zum Tragen kommt. Der Autor hat einen guten Mittelweg getroffen, als Bayerin finde ich mich dialektmäßig wieder, aber auch als "Preusse" hat man bestimmt keine Verständnisprobleme.
Das eingangs im Buch erwähnte Tilly-Benefizium ist übrigens nicht der Phantasie des Autors entsprungen, das gibt es tatsächlich. Obwohl der berühmte Feldherr aus dem dreißigjährigen Krieg nicht nur in der Altöttinger Gegend ein Begriff ist, war es mir neu, dass tatsächlich bis 2009 täglich eine Messe für ihn gelesen wurde. Auch dass die Abschaffung der "auf ewig" ausgelegten Vereinbarung für einigen Wirbel sorgte, ist ein skurriles, aber nettes Detail - wieder was dazugelernt.

Auch die Figurenzeichnung ist sehr gut gelungen, man findet genau die richtige Portion Schrulligkeit, so dass die Personen weder farblos noch überzeichnet wirken - besonders gern mochte ich das Team Schosi-Hirlinger, die überengagierte Pfarrersköchin, die immer auf die schlanke Linie ihres Monsignore achtet - und das ohne Rücksicht auf Leib und Leben des Herrn Hirlinger.

"Fastenopfer" ist ein solider Krimi, der mich bestens unterhalten hat und auch bis zum Schluss im Dunkeln tappen ließ, was die Auflösung angeht. Den Vorgänger "Gnadenort" kann ich übrigens ebenfalls wärmstens empfehlen: Auch wenn keine Vorkenntnisse benötigt werden, wirken doch ein paar (für die Krimihandlung aber nebensächliche) Handlungsdetails schlüssiger und machen die Geschichte noch einen Tick runder.

Veröffentlicht am 03.01.2017

"Ich habe Angst, dass die Leute aufhören, nach mir zu suchen."

DEAR AMY - Er wird mich töten, wenn Du mich nicht findest
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Nach einem Streit mit ihren Eltern packt die 15-jährige Katie Browne eine Tasche und verlässt wutentbrannt ihr Zuhause. Danach verschwindet sie spurlos. Die Polizei sucht eine Weile erfolglos nach dem ...

Nach einem Streit mit ihren Eltern packt die 15-jährige Katie Browne eine Tasche und verlässt wutentbrannt ihr Zuhause. Danach verschwindet sie spurlos. Die Polizei sucht eine Weile erfolglos nach dem Mädchen, hält sie aber für eine weitere jugendliche Ausreißerin und geht nicht von einem Verbrechen aus.
Katies Lehrerin Margot Lewis arbeitet nebenbei für das Lokalblättchen, sie hat dort unter dem Titel "Dear Amy" eine Ratgeber-Kolumne. Einige Wochen nach Katies Verschwinden erhält sie einen verstörenden Brief von einem Mädchen namens Bethan Avery, das behauptet, von einem Mann entführt worden zu sein, der sie nun schon seit einer Ewigkeit gefangen hält. Wie sich herausstellt, verschwand Bethan bereits in den Neunzigern, sie gilt offiziell als tot. Erlaubt sich hier jemand einen bösen Scherz mit Margot? Oder ist das Mädchen tatsächlich noch immer am Leben und in der Gewalt ihres Entführers?

"Dear Amy" wurde in Deutschland vom Knaur-Verlag veröffentlicht, der Debütroman der Autorin Helen Callaghan gehört zum Genre Psychothriller und ist mit einem "Premium-Crime"-Sticker belabelt. Dabei handelt es sich sozusagen um eine Art Gütesiegel des Verlages, mit dem besonders lesenswerte Thriller ausgezeichnet werden - im aktuellen Verlagsprogramm gibt es drei dieser Premium-Crime-Titel.
Die wunderbare Aufmachung des Buches möchte ich kurz erwähnen: Das Cover in den düsteren Schwarz- und Grautönen mit dem grell-grünen Akzent ist für mich ein absoluter Hingucker. Es handelt sich um ein großformatiges Softcover, und auf der Innenseite des Umschlags ist in krakeliger Handschrift der erste Brief von Bethan abgedruckt - ich hatte schon vor der ersten Seite absolutes Gänsehautfeeling.

Der Leser schaut der Ich-Erzählerin Margot Lewis über die Schulter, schlittert mit ihr in diesen Abgrund im Kampf gegen die Zeit, die für Katie allmählich abläuft. Zwischendurch gibt es kurze Kapitel aus der Sicht des Entführungsopfers Katie, die Einblick in ihr Martyrium geben. Und wie es sich für einen richtigen Psychothriller gehört, sind die Dinge oft nicht so, wie sie auf den ersten Blick erscheinen, wodurch für den Leser automatisch die richtigen Fragen aufgeworfen werden.

Mich hat dieser Thriller schon von der ersten Seite an gepackt, der Erzählton wird zunehmend düsterer und die Protagonistinnen Margot und Katie sind glaubwürdig gezeichnet. Ich konnte mich in beide hineinversetzen und mit ihnen mitfiebern. Besonders Katies Erlebnisse, obwohl oft nur angedeutet, sorgten für einen dicken Kloß im Hals. Das Szenario ist schließlich nicht so weit von realen Fällen wie Kampusch oder Fritzl entfernt, obwohl die Geschichte dennoch eine andere Richtung einschlägt.

Meiner Meinung nach hat Helen Callaghan einen tollen Thriller mit nachvollziehbarem psychologischen Hintergrund geschrieben, die Spannungskurve bewegt sich durchgehend aufwärts und lebt von der Frage, was mit Bethan Avery geschah.
Sie ist der Schlüssel zur aktuellen Entführung, der Schlüssel zu Katie, die nur gerettet werden kann, wenn das Geheimnis um Bethan rechtzeitig gelüftet wird.

Für die volle 5-Sterne-Wertung reicht es nicht ganz, weil ich schon recht früh die richtige Ahnung zur Auflösung hatte. Aber ich gebe vier Sterne, weil das die Spannung nicht im Geringsten gemindert hat - ich habe die zweite Hälfte des Buchs in einem Lesemarathon bis vier Uhr früh verschlungen, weil ich einfach nicht mehr aufhören konnte.

Veröffentlicht am 17.12.2016

"Deine Taten sind das Echo meiner Befehle."

Echo Boy
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Yorkshire, 2115: Die 15-jährige Audrey Castle führt ein normales Teenagerleben - sie wohnt bei ihren Eltern, besucht täglich den virtuellen Unterricht und die Stunden bei der Echo-Haushaltshilfe Alissa, ...

Yorkshire, 2115: Die 15-jährige Audrey Castle führt ein normales Teenagerleben - sie wohnt bei ihren Eltern, besucht täglich den virtuellen Unterricht und die Stunden bei der Echo-Haushaltshilfe Alissa, und bald will sie in Oxford Philosophie studieren. Eigentlich. Denn eines Tages passiert das Unfassbare, Alissa hat eine schwerwiegende Fehlfunktion und tötet Audreys Eltern. Audrey selbst kann nur mit knapper Not entkommen und rettet sich ausgerechnet zu ihrem Onkel Alex. Der Onkel Alex, der ein riesiges Firmenimperium besitzt, das Echos in Massenproduktion fertigt. Und mit dem sich Audreys Vater Leo, bekennender Technologie-Skeptiker und Aktivist, bereits vor Jahren überworfen hat.
In Alex Castles Haus wimmelt es nur so vor Echo-Prototypen, die vom Technologie-Tycoon persönlich auf Herz und Nieren (bzw. auf Funktionalität und Gehorsam) überprüft werden, bevor sie die Serienreife erhalten. Und hier trifft Audrey auf Daniel - ebenfalls ein Echo, und schon wieder einer, der sich höchst seltsam verhält...

Der Grundgedanke dieser Geschichte, "der Geist in der Maschine", ist natürlich jedem, der schon mal einen Terminator-Film, die Asimov-Verfilmungen Der 200 Jahre Mann und I, Robot, oder - etwas aktueller - die Fernsehserie Humans gesehen hat, nicht neu.
Die Maschinen, die man bisher als Robots, Synths oder Androiden kennt, werden in Matt Haigs Zukunftsvision als "Echos" bezeichnet, das Akronym für "Elektronischer Computerisierter Humanoider Organismus". Sie werden je nach der ihnen zugedachten Aufgabe entworfen: Haushaltshilfen sind ordentlich und organisiert, Buchhalter können gut mit Zahlen umgehen und Bodyguards, Polizisten und Soldaten sind sehr stark und haben gute Reflexe. Daniel allerdings ist kein Echo, der passgenau auf eine Aufgabe zugeschnitten ist, und zudem hat er noch einige Eigenschaften, die ein Echo eigentlich überhaupt nicht mitbringen sollte: er fühlt körperlichen und emotionalen Schmerz, Traurigkeit, Zuneigung, Hoffnung, quält sich mit Schuldgefühlen - die komplette Bandbreite menschlicher Empfindungen ist ihm vertraut. Kein Wunder also, dass er Alex Castle höchst suspekt ist, und auch Audrey begegnet ihm aufgrund ihrer Vorgeschichte natürlich wie auch allen anderen Echos mit höchstem Misstrauen.

Es dreht sich also alles um die Frage: Wann hört eine Maschine auf, eine Maschine zu sein? Wie viel Bewusstsein, Kreativität und Neugier braucht es, damit sie zu einem Menschen mit Rechten wird, auch wenn sie von einem Computerchip und künstlichen Organen betrieben wird?
Ein sehr komplexes philosophisches Thema, über das man wirklich lange nachdenken kann, auch wenn eine so ausgereifte künstliche Intelligenz, wie Daniel sie besitzt, noch sehr ferne Zukunftsmusik sein dürfte.

Aber abseits von spannenden philosophisch-moralischen Fragen hat Matt Haig hier auch einfach einen packenden SF-Roman abgeliefert, der sich zwar eigentlich an ein jugendliches Publikum richtet, mir aber auch sehr gut gefallen hat, obwohl ich dem Zielgruppenalter schon eine Weile entwachsen bin. Einen Großteil des Lesegenusses machte für mich der ausgesprochene detaillierte Weltentwurf aus. Obwohl manches furchteinflößend und besorgniserregend war, war es mir ein Vergnügen, in diese fantastische Zukunft mit all ihren ausgefeilten technischen Spielereien abzutauchen. Man erfährt natürlich auch, welche gesellschaftlichen, technischen und umweltbedingten Entwicklungen aus unserer heutigen Welt in nur 100 Jahren Audreys zukünftige Welt erschaffen haben. Obwohl es oft nur Randnotizen oder Nebensätze sind, bleibt das doch hängen und ich dachte mir einige Male: "Ehrlich? Könnte das passieren?"
Auch die Figuren waren glaubwürdig gezeichnet, besonders sind hier die Protagonisten Audrey und Daniel zu erwähnen. Sie haben jeweils eigene Abschnitte, sie führen ein "Gedankenbuch" und können so beide aus der Ich-Perspektive die Ereignisse schildern und auch ihre Gedanken und Gefühlsregungen unmittelbar mit dem Leser teilen, was mir sehr gefallen hat.
Und zu guter Letzt hat der Autor meinen Geschmack getroffen (Achtung, sehr subjektiv!), weil er es geschafft hat, ein Buch zu schreiben, in dem es größtenteils um Emotionen geht, die obendrein auch noch mit einer Teenie-Romanze gekrönt werden, ohne dass er auch nur ein einziges Mal ins Kitschige abgeglitten oder zu gefühlsduselig geworden wäre.

Auch wenn das Grundthema von Echo Boy eine Adaption älterer Werke ist, ist es Matt Haig dennoch gelungen, eine neue, eigene Geschichte daraus zu machen. Keine dystopische Welt, in der die Maschinen die Menschheit versklavt haben wie in Terminator, keine Haushaltshilfe mit einem nicht reproduzierbaren Produktionsfehler wie im 200 Jahre Mann und auch keine langweilige Welt, die genauso ist wie unsere, abgesehen von den Synth, wie in Humans, sondern eine fesselnde Story, die in einer vorstellbaren Zukunft spielt.

Es reicht nicht ganz für die Höchstwertung, weil ich doch bei dem ein oder anderen Detail das Gefühl hatte, dass es nicht ganz stimmig ist. Und obwohl die Geschichte an sich abgeschlossen und jede offene Frage beantwortet ist, gibt es doch einen Punkt, der mir fast etwas weh getan hat (und auf den ich leider nicht näher eingehen kann ohne zu spoilern). Ich hatte zwar zum Schluss alle Antworten, aber trotzdem das Gefühl, dass die Geschichte von Audrey und Daniel noch nicht auserzählt ist.
Aber dennoch eine klare Leseempfehlung - man muss sicher kein Hardcore-Science-Fiction-Fan sein, um an diesem Buch Gefallen zu finden.