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Veröffentlicht am 08.03.2021

Hasserfüllte Botschaften erwarten dich

Hinter diesen Türen
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„Und da wurde mir klar, was für eine verkorkste Dynamik das war – dass es in meiner Beziehung zu diesem gestörten kleinen Mädchen nicht um Geborgenheit und Fürsorge ging, sondern um Macht und Überlegenheit, ...

„Und da wurde mir klar, was für eine verkorkste Dynamik das war – dass es in meiner Beziehung zu diesem gestörten kleinen Mädchen nicht um Geborgenheit und Fürsorge ging, sondern um Macht und Überlegenheit, um Sieger und Verlierer in einem Krieg. Nein. Ganz egal, wie die Situation am Ende ausgegangen war – gewonnen hatte ich nicht.“

Inhalt

Rowan Caine zieht es aus einem ganz bestimmten Grund nach Schottland, dort will sie als Kindermädchen einer Familie beruflich Fuß fassen und darüber hinaus etwas aus ihrer eigenen Vergangenheit klären. Doch das Anwesen der Familie Elincourt übertrifft ihre kühnsten Vorstellungen, die Vorderseite des Hauses befindet sich noch im restaurierten viktorianischen Stil, während der Anbau durch Glas und modernste Technik besticht. Ziemlich schnell wird sie mit den ihr anvertrauten drei Mädchen alleingelassen und sieht sich den Tücken der hochmodernen Haustechnik gegenüber. Binnen weniger Tage wird ihr klar, dass sie dieser Stelle nicht gewachsen ist, so wie auch die fünf Nannys vor ihr, die alle das Weite gesucht haben. Im Haus scheint etwas nicht mit rechten Dingen zuzugehen, sie hört nächtliche Geräusche, stößt auf einen Giftgarten, der nicht gesichert ist, entdeckt das alte Geheimnis des Hauses und bricht bald schon in Panik aus, nachdem mitten in der Nacht alle Lichter angehen, wilde Musik durch die Räume schallt und Türen offenstehen, die sie ganz sicher verschlossen hat …

Meinung

Dies ist mein zweiter Thriller aus der Feder der britischen Erfolgsautorin Ruth Ware, die mich bereits mit „Woman in cabin 10“ gut unterhalten konnte. Ihr aktueller Thriller ist aber noch um Längen besser, so gut, dass ich ihn kaum aus der Hand legen konnte und unbedingt erfahren wollte, ob es sich um mysteriöse Geistergeschichten handelt, oder ob es jemanden gibt, der für die unerklärlichen Dinge die Verantwortung trägt. Beide Möglichkeiten werden hier mittels diverser Erzählstränge verfolgt und lassen den Leser miträtseln.

Zunächst einmal passt die Erzählperspektive des Buches ausgesprochen gut, denn Rowan, die Nanny schreibt ihre Geschichte selbst nieder, sie sitzt mittlerweile im Gefängnis und wendet sich hilfesuchend an einen Strafverteidiger, der ihr empfohlen wurde, weil er angeblich auch die ganz hoffnungslosen Fälle zu einem versöhnlichen Ende führt. Rowan wurde angeklagt, denn angeblich hat sie eines der Kinder der Elincourts vorsätzlich umgebracht, aber so war es nicht und die junge Frau muss versuchen, alles so genau wie möglich zu beschreiben, um überhaupt eine realistische Chance auf Freilassung zu erhalten. Wären da nur nicht die vernichtenden Indizien und eine Vorgeschichte, die sie lieber nicht offenbaren würde …

Dieser Thriller ist absolut genial, angefangen bei der Hintergrundgeschichte, hin zu den seltsamen, gruseligen Ereignissen im sanierten alten Herrenhaus und letztlich durch die mentale Nähe zur Hauptprotagonisten, deren Verzweiflung und Beklemmung immer mehr Raum einnehmen und regelrecht beängstigend wirken. Besonders spannend fand ich die Figur des Kindermädchens selbst, denn sie hat sich zwar ein perfektes Image zurechtgebastelt, lässt aber durch ihre subjektive Meinung viel offen: eigentlich mag sie Kinder längst nicht so sehr, wie geglaubt und irgendein Geheimnis umgibt auch ihre Person, weshalb sie sich oft anders verhält, als es normalerweise üblich wäre und der Leser rätselt ständig mit, was sie eigentlich verschleiern möchte und warum.

Selbst die Chronologie des Thrillers konnte mich überzeugen, mit diversen Zeitsprüngen, die sowohl die Vergangenheit einbeziehen als auch die Gegenwart und letztlich auf ein fulminantes Finale zusteuern. Bei den Gedanken und Geschehnissen des allerletzten Abends, hätte ich mir noch mehr Intensität gewünscht, weil Rowan so plötzlich und unwiderruflich vor den Scherben ihres Lebens steht und erst im Nachhinein für Klärung sorgen kann, aber letztlich spielt das keine Rolle mehr, denn es gibt ein dunkles Geheimnis, ein totes Mädchen und unzählige Fragen, die andere beantworten müssen.

Fazit

Dieser temporeiche, subtile Spannungsroman konnte mich absolut überzeugen, so dass ich begeisterte 5 Lesesterne vergebe. Gerade der Mix zwischen Verbrechen und Gruselgeschichte übte auf mich einen ganz besonderen Reiz aus - zwischendurch habe ich diverse Szenarien vor Augen gehabt, die dann doch rational erklärbar waren, aber im ersten Moment nicht so wirkten. Wer Gefallen an mysteriösen Ereignissen und mörderischen Ambitionen findet, ist hier genau richtig. Ich werde wohl mindestens noch ein weiteres Buch der Autorin auf meine Leseliste setzen, und empfehle diesen bedrückenden Gruselthriller gerne weiter.

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Veröffentlicht am 05.03.2021

Die Grenze zwischen gut und böse

NEBEL
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„Aber so war ihr Beruf bisweilen – ein Spiel, das in der Grauzone zwischen Tag und Nacht gespielt wurde. Nie konnte sie ihren Sieg in vollen Zügen genießen. Nie war ihre Arbeit wirklich getan.“

Inhalt

Die ...

„Aber so war ihr Beruf bisweilen – ein Spiel, das in der Grauzone zwischen Tag und Nacht gespielt wurde. Nie konnte sie ihren Sieg in vollen Zügen genießen. Nie war ihre Arbeit wirklich getan.“

Inhalt

Die Weihnachtszeit ist für Hulda Hermannsdóttir im Jahr 1987 die schwerste ihres Lebens, denn nachdem sich ihre halbwüchsige Tochter Dimma das Leben genommen hat, befindet sie sich am absoluten persönlichen Tiefpunkt. Alles Glück scheint ihr abhanden gekommen zu sein und die Ehe mit Jón ist nur noch eine Farce. Schon im Februar hält sie es nicht mehr in den eigenen vier Wänden aus und stürzt sich wieder in die Polizeiarbeit. Diesmal soll sie einen Mord auf einem abgelegenen Bauernhof im Osten des Landes aufklären. Bei den Leichen handelt es sich um ein Ehepaar, welches bereits seit Jahr und Tag den letzten Hof in der Gegend bewirtschaftet. So wie es aussieht liegen die Toten schon mindestens zwei Monate in ihrem Haus und der Täter müsste längst über alle Berge geflohen sein. Hulda nimmt sich dem Schicksal der Ermordeten an, auch wenn sie selbst tief in der Krise steckt und entdeckt Parallelen zu einem Vermisstenfall, den sie schon geraume Zeit auf ihrem Schreibtisch liegen hat …

Meinung

Der isländische Bestsellerautor Ragnar Jónasson beweist auch in seinem dritten Fall der Hulda-Hermannsdóttir-Reihe viel kriminalistisches Feingefühl und entwirft ein angenehm spannendes Szenario, bei dem der Leser vorerst nicht weiß, wer die Bauersleute bedroht und warum, oder ob sich die verwirrte Frau nur einbildet, dass der schutzbedürftige Fremde ihre Gastfreundschaft ausnutzen wird. Der Schreibstil ist zielgerichtet, prägnant und oftmals in wörtlicher Rede verfasst, so dass man fast ein stiller Beobachter der Szenerie sein darf. Dadurch entwickelt die Handlung trotz ihres eher geringen Aktionspotentials, einen Sog, dem man sich nur schwer entziehen kann. Gerade das Düstere, die dunklen Vermutungen und das latente Gefühl der Bedrohung locken den geneigten Leser immer weiter hinein in eine mörderische Stimmung, bei der die Grenze zwischen gut und böse nach und nach verwischt.

Während in den ersten beiden Bänden der Trilogie oftmals die Position der Kommissarin innerhalb ihrer männerdominierten Arbeitswelt zum Thema stand, tritt Hulda hier eher in den Hintergrund. Die Zusammenhänge zwischen dem Tod der Tochter und den häuslichen Vorfällen sind dem Leser ja schon bekannt, da die Geschichte rückwärts erzählt wird und man in Band eins eine kurz vor der Pensionierung stehende Hulda kennenlernt, während sie hier in ihrem vierten Lebensjahrzehnt steckt. Da ich alle Bände kurz hintereinander gelesen habe, muss ich abschließend sagen, dass mir der Stil aller Bücher zugesagt hat, ich aber eindeutig mehr Interesse an den Mordfällen hatte als an dem Leben der Kommissarin. Aus diesem Grund gefällt mir der Abschluss wohl auch am besten, weil der Autor dort bereits die Hintergrundgeschichte erzählt hat und nur noch hin und wieder einen Abstecher ins Detail unternimmt.

Fazit

Ein richtig spannender Roman mit sehr stimmungsvollem Hintergrund und eher leisen Erzähltönen, der mich gerade deshalb sehr gut unterhalten konnte. Hier vergebe ich gerne 5 Lesesterne, für den besten Band dieser Reihe, der alles nochmals Revue passieren lässt und dennoch ein ganz eigenständiges Konstrukt ist. Positiv empfinde ich auch den leichten Ton, mit dem man nun verabschiedet wird, denn manchmal empfinde ich gerade den letzten Band einer guten Reihe etwas wehmütig und blicke ihm mit einem tränenden Auge hinterher. Hier wirkt das in der Gesamtheit nicht so tragisch, vielmehr entsteht der Eindruck eine Person ein Stück ihres Lebensweges begleitet zu haben und tiefer geschaut zu haben, als es ihre unmittelbare Umgebung gekonnt hätte, gerade weil Hulda nicht zu den redseligen Menschen gehört, die jedem ihre Lebensgeschichte offenbart. Ich empfehle die Reihe weiter, sie bietet gute, stimmungsvolle Atmosphäre gepaart mit einer kriminalistischen Handlung, die zwar wenig Neues bietet, dafür aber sehr menschlich wirkt.

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Veröffentlicht am 25.02.2021

Der ganze verdammte unvermeidliche Schmerz

Hard Land
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„Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. ...

„Ich stellte mir vor, dass das eigene Ich aus vielen Puppen bestand, aus mutigen und ängstlichen und stillen und lauten, und überall hingen die Fäden. Doch man konnte nie sehen, wer sie in der Hand hielt. Wer der innere Puppenspieler war.“

Inhalt

Sam Turner hat die typischen Probleme eines Teenagers, allen voran seine traurige Rolle als Außenseiter, der er nur zu gerne entkommen würde. Aber die coolen Typen meiden ihn und außerdem wüsste er gar nicht, was er machen sollte, um endlich dazuzugehören. Stattdessen bewirbt er sich für einen Ferienjob im ortsansässigen Kino in der amerikanischen Kleinstadt Grady, um wenigstens eine sinnvolle Aufgabe zu haben. Dort arbeiten bereits drei weitere Jugendliche, die allerdings schon etwas älter als Sam sind. Eine davon ist Kirstie Andretti, die Tochter des Kinobetreibers. Und in diesem Sommer wird alles anders, denn Sam verliebt sich zum ersten Mal in ein Mädchen und auch wenn Kirstie schon mehr Erfahrung und einen Freund hat, entwickelt sich zwischen ihnen dennoch eine innige, lebensbejahende Freundschaft. Sam könnte glücklich sein, wenigstens für diesen einen Sommer, bevor seine neuen Freunde aufs College wechseln werden und er wieder allein dasitzt. Doch ausgerechnet da, kehrt die Krebserkrankung seiner Mutter zurück, diesmal schlimmer und kräftezehrender als beim ersten Mal und Sam muss einsehen, dass er schneller erwachsen werden muss, als ihm lieb ist.

Meinung

Der deutsche Autor Benedict Wells, dessen Roman „Vom Ende der Einsamkeit“ einer meiner Favoriten ist, hat sich in seinem aktuellen Buch den Herausforderungen und Gedanken eines jungen Menschen angenommen, der einerseits ganz zeitlose, klassische Probleme Jugendlicher mit sich herumträgt doch zum anderen ein zwiegespaltener Teenager ist, der durch eine gewisse äußere Tragik schneller erwachsen werden muss, als andere.

„Hard Land“ ist ein Coming-of-Age Roman, der die gesamte Breite dieser besonderen Zeit abdeckt, sie bildlich wach werden lässt und dabei eine klare Figurenzeichnung und einen realistischen Blick in eine Welt wirft, in der jeder schon einmal feststeckte und an deren Ende die gereifte Persönlichkeit steht.

Der Roman bekommt von mir das Prädikat „Jahreshighlight“, weil es eines der Bücher ist, welches nicht nur universell gilt, sondern weil es Erinnerungen wachruft, den Leser selbst zurückversetzt in die eigene Jugend, in die Gedankenwelt einer vergangenen Zeit, die man doch nicht vergessen wird, weil die Erlebnisse von damals viel prägender waren, als gedacht. Egal, in welchem Lebensjahrzehnt man steckt, diese Erzählung schafft es mühelos, jene Gedankenstränge aufleben zu lassen und mit den Protagonisten mitzufühlen – eine Lektüre, die man auch ein zweites oder drittes Mal lesen kann und die immer wieder neue Töne anschlägt.

Besonders gut gefallen hat mir neben dem flüssigen Schreibstil und der facettenreichen Charakterisierung der Protagonisten, die bloße Schilderung diverser Momentaufnahmen. Egal ob es sich dabei um eine Party handelt, bei der zu viel Alkohol fließt oder um die Eindrücke eines Jungen als er seine Angebetete zum ersten Mal in ihrer Unterwäsche sieht, egal ob es die Verletzungen sind, denen sich ein Heranwachsender stellen muss, wenn er merkt, dass ein Elternteil ihn verlassen wird und es gerade derjenige ist, der ihm mental viel nähersteht.

Egal welcher Satz hier geschrieben steht, in jedem steckt eine Menge Weisheit oder einfach die Ehrlichkeit derjenigen, die hier agieren und stellvertretend für die Leser die Vergangenheit aufleben lassen. Auch als Verfilmung könnte ich mir diese Romanvorlage bestens vorstellen, weil es ein generalistisches Thema mit einer sehr emotionalen Umsetzung ist und dennoch niemals ins klischeehafte abdriftet.

Ich mag es, wenn Romane sich den großen Fragen des Lebens widmen, diese aber auf kleine persönliche Entscheidungen und Gedanken herunterbrechen, so dass gerade das Zwiespältige deutlich wird. Und dieses Buch vollzieht diesen Vorgang über die gesamte Länge von gut 300 Seiten. Es sind Gedanken zu Freundschaft, Familie, Trennung, Zukunft, Liebe, Verantwortung – und doch stehen diese einzelnen Punkte nicht separat im Raum sondern werden miteinander in eine Interaktion gebracht, so dass deutlich wird, wie schwer es fallen kann eine Entscheidung zu treffen und wie sehr man später daran verzweifeln kann, genau diese Option gewählt zu haben und nicht die andere, inklusive der persönlichen Vorwürfe so nach dem Motto: „Warum habe ich nur?“

Fazit

Ich vergebe begeisterte 5 Lesesterne für diesen zeitlosen, innigen Roman, der vom Protagonisten selbst aus seiner Erinnerung heraus geschildert wird. Große Lebensfragen, menschliche Beziehungen, getroffene Entscheidungen und der ein oder andere unvorhersehbare Einschnitt – alles wird hier miteinander in Einklang gebracht und ergibt ein nahezu perfektes Leseerlebnis, mit viel mehr als nur einer endgültigen Aussage.

Ganz nebenbei ist es auch ein Aufruf dazu, wie wichtig menschliche Bindungen sind, auch wenn sie manchmal sehr schmerzhaft sein können, auch wenn das Leben der Liebe nur eine gewisse Zeit zugesteht, so kann man doch gerade durch andere und deren Einfluss und Gedankenspiele wachgerüttelt werden und findet sich über kurz oder lang in einer Welt wieder, wo trotz Traurigkeit auch wieder Platz für neue Pläne geschaffen wird.

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Veröffentlicht am 15.02.2021

Glücklich ist, wer vergisst ...

Der zweite Reiter
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„Er dachte an seinen Beruf und daran, wie hart er stets gearbeitet hatte, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Alles vergebens. Alles umsonst. Die Menschen waren es nicht wert, gerettet zu werden.“

Inhalt

Rayonsinspektor ...

„Er dachte an seinen Beruf und daran, wie hart er stets gearbeitet hatte, um dem Gesetz Geltung zu verschaffen. Alles vergebens. Alles umsonst. Die Menschen waren es nicht wert, gerettet zu werden.“

Inhalt

Rayonsinspektor August Emmerich ermittelt hier in seinem ersten Fall, der ihn in die dunklen Gassen und Kneipen Wiens nach dem ersten Weltkrieg führt. Mehrere Todesfälle, die zusammenzuhängen scheinen, säumen seinen Weg. Doch seine eigenen Ermittlungen sind nicht erwünscht, denn seine Vorgesetzten glauben nicht an Tötungsdelikte, wollen Emmerichs Arbeit lieber unterbinden und setzen ihn stattdessen auf den stadtbekannten Schmugglerring an, dessen Chef ein alter Bekannter des Inspektors aus Kindertagen ist.

Aber Emmerich gibt keine Ruhe und seine Gegner müssen schwere Geschütze auffahren, um den Ermittler auszuschalten. Plötzlich wird er selbst verhaftet, weil er angeblich der Mörder sein soll und keinen interessieren seine Unschuldsbeteuerungen. August Emmerich gelingt die Flucht aus dem Gefängnis und er taucht nun als Flüchtling selbst ab, stellt aber umso engagierter Nachforschungen an, welcher Zusammenhang zwischen den vielen Toten besteht. Als er auf ein altes Foto stößt, wird die Gemeinsamkeit aller schnell deutlich: sie waren Soldaten in Galizien und sind dort durch brutale Foltermorde bekannt geworden – steht der Rächer nun auf der Seite der Guten und übt Selbstjustiz, oder handelt es sich um den einzigen Mann auf dem Bild, dessen Gesicht unkenntlich gemacht wurde …

Meinung

Bereits mehrfach bin ich auf die Kriminalreihe um den Inspektor Emmerich aufmerksam gemacht worden und habe das Buch nun im Rahmen einer Challenge aus dem Regal geholt, um mir ein eigenes Urteil zu bilden. Und auch mich konnte dieser Krimi, der 2017 mit dem Leo-Perutz-Preis ausgezeichnet wurde, vollends überzeugen.

Normalerweise lese ich lieber Thriller, weil dort die psychologische Komponente des Mörders im Zentrum steht und weniger die mühsame Polizeiarbeit der Ermittler, doch dieser Krimi hat ganz andere Qualitäten.

Zunächst einmal entwirft er ein realistisches Bild der damaligen Umstände und Lebenssituation, er nimmt den Leser direkt mit auf die Straßen Wiens und zeigt förmlich nebenbei die gesellschaftlichen Bedingungen auf. Er sensibilisiert den Leser für die große Armut, die vielen Kriegsverletzten, die Trinker, Bettler und Drogenabhängigen, die ihr Leben nur noch ertragen, indem sie irgendwie den nächsten Tag überleben. Für Frauen, die sich prostituieren, die ihre Kinder kaum durchbekommen und deren Lebenserwartung so niedrig ist, wie ihr Geld für eine warme Mahlzeit. Und er zeigt auch das andere Gesicht der Weltstadt, wo es für all jene, die es mit der Wahrheit nicht so ernst nehmen, die ein oder andere Lücke gibt und die Möglichkeit durch glückliche Zufälle an ungeahnte Reichtümer zu gelangen. Und mittendrin steht August Emmerich, der es meist nicht so genau mit dem Gesetz nimmt, sich aber konsequent auf die Seite der Armen und Geschundenen stellt, die er zwar nicht alle retten kann, aber ihnen wenigstens zu Gerechtigkeit verhelfen möchte.

Alex Beer schafft eine besondere Atmosphäre, fast filmreife Szenen, sympathische Protagonisten und eine temporeiche, von vielen glücklichen Umständen begleitete Erzählung, die ich mit zunehmender Begeisterung gelesen habe.

Die Kapitel sind angenehm kurz und der Stil animiert zum Weiterlesen, weil sich alles recht dramatisch entwickelt und gekonnt auf das Finale zusteuert. Tatsächlich bekommt man hier als Leser wesentlich mehr als eine Kriminalhandlung präsentiert – es ist vielmehr ein Abtauchen in die Erzählung selbst. Wunderbar sympathisch auch die Zeichnung des Hauptprotagonisten und dessen Assistenten Ferdinand Winter – zwei ganz unterschiedliche Menschen, die zunächst mit großer Skepsis dem anderen begegnen, dann aber ein immer besseres, eingespieltes Team werden.

Fazit

Ich freue mich, dass ich nun noch weitere 3 Bände dieser Serie vor mir habe und vergebe begeisterte 5 Lesesterne für den Auftakt der Reihe. Dieser Krimi kombiniert eine geschickte Handlung mit einem historischen Sittengemälde und starken, einprägsamen Figuren, die man schnell ins Herz schließt. Man erlebt immer wieder überraschende Wendungen und findet gerade den Einfallsreichtum von August Emmerich verblüffend und amüsant.

Für mich definitiv ein Lieblingsbuch und das erste Highlight im Kalenderjahr! Ich werde diese Reihe zeitnah weiterverfolgen und mich mit anderen Ermittlungen des Rayonsinspektors, der es nun endlich in seine bevorzugte Abteilung „Leib und Leben“ geschafft hat und sich im folgenden gleich von Anfang an um die Mordermittlungen in der österreichischen Hauptstadt kümmern darf.

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Veröffentlicht am 16.01.2021

Mit der Erinnerung gewinnt unser Leben ein Gesicht

Der Apfelbaum
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„War die Erinnerung an glückliche Zeiten das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden konnte, drohte sie jetzt zur Hölle zu werden, der kaum einer entkam.“

Inhalt

Otto und Sala, zwei junge ...

„War die Erinnerung an glückliche Zeiten das einzige Paradies, aus dem man nicht vertrieben werden konnte, drohte sie jetzt zur Hölle zu werden, der kaum einer entkam.“

Inhalt

Otto und Sala, zwei junge Menschen lernen sich 1932 in Berlin kennen, er ist einer der Einbrecher, der von ihr überrascht wird, wie er sich nicht nach Wertgegenständen im gutbetuchten Hause Nohl umsieht, sondern seine Nase lieber in ein Buch steckt und sie ist die Frau, die ihn nicht an die Polizei verpfeift. Anfangs ist ihnen das Glück noch hold, denn obwohl Otto aus der Arbeiterklasse stammt und Sala aus einem intellektuellen Elternhaus kommt, steht für beide fest, dass sie füreinander bestimmt sind, egal, wie groß die Kluft zwischen ihren sozialen Hintergründen auch sein mag. Doch dann kommt der Krieg dazwischen und Sala muss Deutschland verlassen, denn als Tochter einer jüdischen Mutter, wird es für sie immer gefährlicher. Und Otto bleibt in Deutschland, wird Sanitätsarzt der Wehrmacht und gerät erst gegen Ende des Krieges in russische Gefangenschaft. Zwischen diesen Punkten bewegt sich ihre Liebesgeschichte, überschattet von den historischen Ereignissen, zerrissen von räumlicher Distanz und überfrachtet von unerfüllten Hoffnungen. Jeder beschreitet seinen Weg und trotz anderer Partner bleibt diese alles überdauernde Verbindung zwischen ihnen bestehen. Nach Kriegsende kehrt Sala zurück nach Deutschland, mittlerweile ist sie Mutter einer Tochter doch im Herzen hat sie nie aufgehört, an den Tag zu glauben, an dem sie mit Otto glücklich werden kann …

Meinung

Dies ist in weiten Teilen der persönliche Familienroman des als Schauspieler bekannt gewordenen Christian Berkels, der hier seinen Wurzeln nachspürt. Obwohl die handelnden Personen Vorbilder in der Realität haben, so sind es Kunstfiguren, deren Interaktion miteinander zu fiktiven Ereignissen und Situationen führt, wie der Autor selbst im Vorwort festhält. Und das merkt man der Erzählung auch an, denn sie wahrt immer einen gewissen Abstand zwischen einer deutlich emotionalen Beteiligung und einer objektiven Sicht der Dinge. Sie schwankt zwischen großer Nähe und sachlicher Abgrenzung, so dass alles auch reine Fiktion sein könnte und keinerlei biografische Bezüge aufweisen müsste. Dieser Umstand ist für mich ein ganz großes Plus der Geschichte, denn der Autor konzentriert sich mehr auf die Schilderung zweier Liebender, ihr jeweiliges Leben in Anbetracht der politischen Hintergründe und die Zuneigung zueinander, die sie immer wieder zusammenkommen lässt, selbst wenn es der Beziehung an Beständigkeit und Absolution fehlt. Und ganz nebenbei entwirft er damit ein Gesellschaftsporträt mit zahlreichen Nebenprotagonisten, Wegbereitern, Freunden, Zufallsbekanntschaften und mehr oder weniger glücklichen Zufällen.

Bereits vergangenes Jahr habe ich „Ada“, den Folgeroman gelesen, in dem sich die hier begonnene Geschichte aus einer anderen Perspektive fortsetzt. Umgekehrt wäre das Leseerlebnis sicherlich noch beeindruckender, weil man dann die ein oder andere Wende besser versteht und die Figuren gewissenmaßen schon eine Vergangenheit haben, doch auch so funktioniert das Modell des Romans und lässt mich als zufriedenen Leser zurück.

Der Schreibstil des Autors entspricht absolut meiner Wellenlänge, nicht nur weil er schöne literarische Formulierungen verwendet und zahlreiche Parallelen zieht, sondern vor allem, weil er es schafft, tatsächlich mehr Geschichte zu vermitteln als persönliche Nähe entstehen zu lassen. Gerade für mich, als sehr emotionalen Leser, der sich lieber mit den Protagonisten identifiziert, ist das faszinierend, wie man so viel sagen und ausdrücken kann, ohne tatsächlich Sympathien zu wecken. Trotz persönlicher Einfärbung wirkt alles sehr neutral und gerade dadurch aussagekräftig und wahrhaftig. Ein zweiter Punkt, den ich normalerweise auch nur bedingt mag, ist das Wechseln der Erzählperspektive, das Springen der Handlung zwischen den Zeiten, mal in die Vergangenheit, dann wieder in die Gegenwart. Sehr oft wirken die Geschichten dadurch unruhig und unausgeglichen. Ganz anders hier – ich hatte niemals das Gefühl, dass es nicht passt, dass es zu bunt und wild durcheinander gewürfelt wurde. Einfach perfekt, genau im richtigen Maße und das schon von Anfang an.

Hinzu kommen viele Sätze, die ich gerne zweimal gelesen habe, weil sie so viel Aussagen über die Menschen, die Bedeutung der Familie, den Wert menschlicher Beziehungen bieten – ein weiterer Pluspunkt auf meiner imaginären Anspruchsliste an gute Belletristik (ein Beispiel aus dem Buch: „Erdrückender als das Schicksal, das man mit vielen teilte, war das Schicksal, das einen ganz allein betraf, der Moment, in dem sie für immer zu erkennen glaubte, wer sie war: ein Mensch, eine Tochter, die es nicht wert war, von ihrer Mutter geliebt zu werden.“)

Fazit

Für diesen objektiven und gleichzeitig biografisch inspirierten Familienroman, der mehrere Jahrzehnte, viele Generationen und einige Kontinente umspannt, vergebe ich gerne 5 Lesesterne. Es ist eine eher stille Erzählung, deren Tragik zwar klar auf der Hand liegt aber niemals auf dem Präsentierteller dargereicht wird. Es bleibt viel Raum zum Nachdenken, zum Nachspüren und Erwägen der verschiedenen Optionen. Manchmal bleibt nur das Fügen in das Schicksal, manchmal hilft das Aufbegehren, manchmal die Flucht nach vorn und dann wieder der Rückzug aus dem Schlachtgetümmel. Außerdem finde ich es sehr lobenswert, wenn sich Menschen mit ihrer Vergangenheit auseinandersetzen, wenn sie ihren vielleicht schon verstorbenen Familienmitgliedern ein Denkmal setzen und sich durch die vielen verstreichenden Jahre zwischen damals und heute kämpfen, um sich selbst im Kreislauf des Lebens zu sehen – die Großeltern, die Eltern, die Kinder, die Enkel, die Urenkel – jede Generation hat ihre Berechtigung, ihren Wert und eine weitreichende Bedeutung, wenn das eigene Leben ein Gesicht bekommen soll.

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