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Veröffentlicht am 24.03.2017

Nicht der beste Roman des Jahres, aber ein sehr unterhaltsamer

Der beste Roman des Jahres
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Pünktlich zum ersten September - als die Jury des Deutschen Buchpreises 14 Titel von der Longlist strich, mit ihrer Wahl einen Streit über die Benachteiligung der Frauen im deutschen Literaturbetrieb entfachte ...

Pünktlich zum ersten September - als die Jury des Deutschen Buchpreises 14 Titel von der Longlist strich, mit ihrer Wahl einen Streit über die Benachteiligung der Frauen im deutschen Literaturbetrieb entfachte und Diskussionen über die Vorhersehbarkeit des Gewinnertitels und das Fehlen, ach, so wichtiger Titel über sich ergehen lassen musste - erschien Edward St. Aubyns neuer Roman mit dem vielversprechenden Titel "Der beste Roman des Jahres".

Ein Buch, das sich ganz anders als die fünf Romane aus der autobiografischen "Melrose"-Reihe nicht mit dem englischen Hochadel, sexuellem Missbrauch und Drogenkonsum beschäftigt, sondern sich ganz dem britischen Literaturbetrieb widmet. Mit einer der renommiertesten Literaturauszeichnungen der Welt, dem Elysia-Preis, soll der beste Roman des Jahres prämiert werden.
Die Entscheidung soll eine fünfköpfige Jury fällen, die aus einem Politiker als Vorsitzenden, einer Literaturhistorikerin, einer Kolumnistin, einem Schauspieler und einer Krimiautorin besteht. Keiner der Auserkorenen hat ein tieferes Interesse an den literarischen Erzeugnissen der Gegenwartsautoren. Sie alle verfolgen ihre eigenen Ziele und versuchen, den größtmöglichen Nutzen aus der Angelegenheit zu ziehen. Von den eingereichten Büchern wird kaum eine Zeile gelesen und so ist sogar ein versehentlich eingereichtes indisches Kochbuch im Rennen um den begehrten Preis dabei.

Der Gedanke liegt nahe: Der Autor, der 2006 selbst mit seinem Roman "Muttermilch" für den Man Booker Prize nominiert und doch leer ausgegangen ist, veröffentlicht, verbittert oder einfach nur amüsiert, eine Satire über den korrupten, inkompetenten und selbstsüchtigen Literaturbetrieb. Doch St. Aubyns selbst sagt, die Bezeichnung "Satire" treffe auf seinen Roman nicht zu. Weder werden reale Personen karikiert, noch basiert die Geschichte auf tatsächlichen Begebenheiten (gut, Literaturpreise gibt es natürlich wirklich).

Und wenn der Autor das so sagt, glaube ich ihm das. Zumal es mir entgegenkommt, statt einer Satire eine Komödie lesen zu dürfen, die mir satirische Anspielungen auf Persönlichkeiten der britischen Literaturszene erspart. Die hätte ich wohl sowieso nicht bemerkt.

St. Aubyn widmet sich nicht nur der Kritikerseite, sondern macht auch vor Verlegern und seiner eigenen Berufsgruppe, den Schriftstellern, keinen Halt. Die gesamte Literaturszene wird aufs Korn genommen. Und ganz gleich ob es um den intellektuellen Franzosen geht, der in seinen ekstatischen Reden über Philosophie, Literatur und anderen, nicht klar erkennbaren, Themen aufgeht, die verführerische, junge Schriftstellerin, die sich Gefühle für andere Menschen nicht leisten kann, oder die Jurorin, die heimlich mit einem Synonym-/Satzbaustücke-Computerprogramm mittelmäßige Krimis schreibt - jeder einzelne Charakter ist völlig überzeichnet und skurril. Und doch ist es der kühle, distanzierte Ton, den St. Aubyns Stil ausmacht und der im Zusammenspiel mit der kuriosen und origenellen Geschichte eine besondere Komik erzeugen lässt.

Wenn auch sicher nicht "Der beste Roman des Jahres", ist St. Aubyns Geschichte dennoch eine empfehlenswerte - sowohl unterhaltsame als auch amüsante Lektüre.

Veröffentlicht am 24.03.2017

Die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft

Tschick
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Seine Mutter ist in der Entzugsklinik, sein Vater auf Geschäftsreise mit seiner Assistentin. Der Außenseiter Maik Klingenbergs soll die Sommerferien allein in der Villa seiner Eltern verbringen und bereitet ...

Seine Mutter ist in der Entzugsklinik, sein Vater auf Geschäftsreise mit seiner Assistentin. Der Außenseiter Maik Klingenbergs soll die Sommerferien allein in der Villa seiner Eltern verbringen und bereitet sich auf sechs einsame und langweile Wochen vor. Doch dann kommt Tschick. Der Neue in seiner Klasse, der einen Lada aufbricht und ihn auf eine Tour in die Walachei mitnimmt. Denn dort wohnt Tschicks Onkel. Doch sie wissen nicht, wo die Walachei ist, und so kurven die zwei pubertierenden Achtklässler durch das brandenburgische Niemandsland – immer auf der Hut, nicht entdeckt zu werden.

Es ist eine planlose, skurrile Reise durch die deutsche Provinz, die von unerwarteten Begegnungen mit fremden Menschen geprägt ist: „Die Welt ist schlecht und der Mensch ist auch schlecht. Trau keinem, geh nicht mit Fremden. Das hatten mir meine Eltern erzählt. Und das Fernsehen erzählt es auch. Und vielleicht stimmte das ja auch, und der Mensch war zu 99 Prozent schlecht. Aber das Seltsame war, dass Tschick und ich auf unserer Reise fast ausschließlich dem einen Prozent begegneten, das nicht schlecht war“, erzählt Maik.

Herrndorf bedient sich einer jugendlichen Erzählweise, die lebendig, authentisch und keineswegs aufgesetzt wirkt, und legt Maik Klingenberg eine poetisch-lockere Sprache in den Mund, die den der 14-Jährigen zum sympathischen und klugen Erzähler macht.

Es ist die Geschichte einer ungewöhnlichen Freundschaft, voller Komik und skurrilen Zufällen, in der eine leise Traurigkeit mitschwingt, durch die dieser Roman zu einer unterhaltsamem und gleichzeitig anrührenden Lektüre wird.

Veröffentlicht am 24.03.2017

Ein erschütternder Erfahrungsbericht

Sie nannten mich "Es"
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Heute lebt Dave Pelzer mit seiner Familie in Südkalifornien. Nachdem er jahrelang für die U.S. Air Force tätig war, engagiert er sich heute als amerikanischer Schriftsteller für Kinderhilfsorganisationen.

Doch ...

Heute lebt Dave Pelzer mit seiner Familie in Südkalifornien. Nachdem er jahrelang für die U.S. Air Force tätig war, engagiert er sich heute als amerikanischer Schriftsteller für Kinderhilfsorganisationen.

Doch schon in den 70er Jahren wurde sein Name bekannt. Als 12-Jähriger machte Pelzer als Opfer der drittschwersten Kindesmisshandlung, die bis dahin in Kalifornien gemeldet wurde, Schlagzeilen.

In „Sie nannten mich „Es“ erinnert sich der Autor an seine Kindheit. Die ersten Jahre waren geprägt von einem harmonischen Miteinander, von einem beschützenden Vater und einer liebevollen Mutter, die ihren Kindern ein behütetes Zuhause geben wollten. Doch im Laufe der Jahre geriet das Verhalten seiner Mutter außer Kontrolle. Während seine beiden Brüder weiterhin aufopfernd umsorgt wurden, misshandelte sie Dave zu jeder Gelegenheit, die sich ihr bot. In grausamen „Spielchen“ quälte sie ihn körperlich und psychisch und testete Tag für Tag ihre und seine Grenzen weiter aus. Er wurde gezwungen Kot und Erbrochenes zu essen, Chemikalien zu trinken, unter dem Bett auf Zeitungspapier zu schlafen und stundenlang im eiskalten Wasser in der Badewanne zu liegen. Mit Essensentzug und Schlägen peinigte sie ihn jahrelang und tötete ihn beinahe, als sie ihm ein Messer in den Bauch rammte. Sein Vater sah weg, zuckte mit den Schultern und ließ es geschehen.

Halb verhungert bettelte er auf dem Schulweg nach Brot. Seinen von blauen Flecken übersäten Körper erklärte seine Mutter mit Stürzen und Missgeschicken des Kindes. Weder Mitschüler noch Nachbarn oder Lehrer wurden misstrauisch. Stattdessen wurde die Schikane auch außerhalb der Wohnung fortgeführt.

Erst Jahre später wurde das Schulpersonal tätig. Es alarmierte die Polizei und Dave wurde in die Obhut des Jugendamts übergeben. Für ihn begann ein neuer Lebensabschnitt – als freier Mensch, der über sich selbst bestimmten konnte. Er gründete eine eigene Familie, bekam einen Sohn und akzeptierte seine Vergangenheit als einen Teil von sich.

Heute wird viel über Kindesmisshandlung gesprochen. Immer wieder werden neue Fälle bekannt, über die in den Medien berichtet wird. Doch in den 70er Jahren war das noch anders. Dave Pelzer geht es nicht darum, Ursachen für das Fehlverhalten seiner Mutter zu finden. Er hinterfragt ihre sadistischen Handlungen nicht, forscht nicht in ihrer Vergangenheit oder bietet Erklärungen für ihre Aggressionen. Stattdessen macht er auf die Opfer aufmerksam und ermutigte mit seiner Arbeit dazu, nicht wegzusehen, auf Hinweise zu achten und aktiv zu werden, um gegen Misshandlung an Kindern vorzugehen.

Es ist ein erschütternder Erfahrungsbericht, der gleichzeitig Mut macht. Denn trotz der jahrelangen Folter hat der Autor einen Weg gefunden, ein glückliches Leben zu führen.

Veröffentlicht am 24.03.2017

Die Stärke des Todes

Das Phantom des Alexander Wolf
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Nachdem Gaito Gasdanow in seiner Heimat Russland in den 90er Jahren wiederentdeckt wurde, veröffentlichte nun der Hanser Verlag den ersten Roman (in Originalsprache 1947 erschienen) des Autors in deutscher ...

Nachdem Gaito Gasdanow in seiner Heimat Russland in den 90er Jahren wiederentdeckt wurde, veröffentlichte nun der Hanser Verlag den ersten Roman (in Originalsprache 1947 erschienen) des Autors in deutscher Übersetzung: „Das Phantom des Alexander Wolf"

Als 15-Jähriger meldete sich Gasdanow freiwillig zum Militär und kämpfte im Bürgerkrieg mit. Dann floh er erst nach Konstantinopel, dann nach Paris, wo schätzungsweise über 50.000 russische Emigranten Zuflucht suchten. Er lernte das harte Emigrantenleben kennen, schuftete als Lokomotivwäscher und Lastträger im Hafen, war teilweise obdachlos und arbeitete schließlich nachts als Taxifahrer, um tagsüber Vorlesungen besuchen zu können.

Ab 1926 tauchten die ersten Erzählungen des Autors auf. Auch im Exil schrieb er russisch.

Mit dem in den Feuilletons viel zitierten ersten Satz des Romans: „Von allen meinen Erinnerungen, von all den unzähligen Empfindungen meines Lebens war die bedrückendste die Erinnerung an den einzigen Mord, den ich begangen habe." wird die Geschichte des Ich-Erzählers eingeleitet. Er erinnert sich an den russischen Bürgerkrieg, in dem er einen jungen Mann erschoss und mit seinem Pferd floh. Jahre später entdeckt er in einem Buch eine Geschichte, in der sein Erlebnis so detailliert beschrieben wird, dass er keine Zweifel mehr daran hat, dass sein vermeintliches Opfer noch lebt. Während er nach dem Autor sucht, lernt er Jelena kennen und verliebt sich in sie.

Gasdanow erzählt hier die Geschichte eines Mannes, der sich nach Jahren mit einer Realität konfrontiert sieht, die er nicht mit seinen starken, ihn ausfüllenden Erinnerungen vereinbaren kann. Ein stiller Streit, ein Krieg bricht aus zwischen den Protagonisten – um die Frage, ob das Schicksal zwingende, unabänderliche Entscheidungen trifft, um die Stärke des Todes und die Rolle des Menschen. Ein spannender, bis ins Kleinste durchdachte Roman, der es mit seinem Ende schafft, den Leser zu überraschen und gleichzeitig den letzten Baustein auf ein perfekt konstruiertes Werk zu setzen.

Veröffentlicht am 24.03.2017

Eine dystopische Gesellschaftsvision

Der Circle
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Geheimnisse sind Lügen. // Teilen ist Heilen. // Privatsphäre ist Diebstahl. - Das sind die goldenen Regeln des Circles. Drei Slogans, mit denen Eggers nicht nur auf Orwells "1984" verweist, sondern die ...

Geheimnisse sind Lügen. // Teilen ist Heilen. // Privatsphäre ist Diebstahl. - Das sind die goldenen Regeln des Circles. Drei Slogans, mit denen Eggers nicht nur auf Orwells "1984" verweist, sondern die Idee eines Überwachungsstaates auch ins digitale Zeitalter überträgt. Doch längst ist es nicht mehr "Big Brother", der alles und jeden beobachtet. Wir selbst werden zu Schöpfern einer gläsernen Welt, in der nichts mehr dem einzelnen gehört.

Nach "Zeitoun" und "Ein Hologramm für den König" greift der amerikanische Schriftsteller auch hier wieder hochaktuelle Themen auf und kreiert eine beängstigende Zukunftsvision. Mae Holland ist eine der glücklichen Angestellten des international beliebten Internetkonzerns "Circle". Eine Firma, die ihren Mitarbeitern alles bietet: hochmoderne Arbeitsplätze, Konzerte weltberühmter Popstars, ein von Sterne-Köchen zubereitetes 24-h-Buffet, Sportmöglichkeiten und jede Menge Partys.

Zehntausende junge, dynamische Beschäftigte arbeiten an neuen, visionären Ideen, die alle eins zum Ziel haben: Dem Menschen eine einzige Internetidentität zu bieten, über die alles abgewickelt werden kann. Die alle sozialen Netzwerke, Ämter und Banken überflüssig machen wird und darüber hinaus eine zentrale Sammelstelle für alle personenbezogenen Informationen wird. Doch damit nicht genug. Mithilfe von kleinen Kameras kann jede Stadt, jedes Geschäft, jedes Haus und jeder noch so abgelegene Ort beobachtet werden. Politiker, Circle-Mitarbeiter und Privatpersonen ermöglichen ihren Viewern mit einer Kamera, die sie um den Hals tragen, ihren gesamten Tag live mitzuerleben. Nichts bleibt mehr unbemerkt. Die Welt und das Leben werden transparent. Jeder hat Zugriff auf einen enormen Informationspool; keiner kann eine Straftat begehen, ohne sofort identifiziert zu werden; und niemand kann sich dem System entziehen, ohne gefunden zu werden.

Kurzum: Das totalitäre Überwachungssystem eines monopolistischen Unternehmens. Eine Ordnung, die moderne, technische Möglichkeiten mitsamt ihrem Entwicklungspotential ins Extreme führt. Eggers erschafft eine Dystopie, die nicht nur denkbar, sondern auch beängstigend nah zu sein schein. Und genau hier liegt vielleicht auch die Schwachstelle des Romans. Maes Naivität, ihre viel so leicht auszuräumenden Zweifel fügen sich wunderbar in das Gesamtkonzept des Romans, wirken aber gerade in Anbetracht der gegenwärtigen Diskussionen über den Schutz persönlicher Daten und der Privatsphäre befremdlich. Ohne nennenswerten Widerstand zu leisten, lässt Mae sich von den Vorteilen einer transparenten Welt überzeugen. Sie ist keine kritische Abweichlerin, kein Winston Smith, sondern eine dankbare Mitläuferin. Jegliches Misstrauen lässt sich mit wenigen Worten der Initiatoren aus dem Weg räumen; und die zahllosen Komplimente und bestätigenden Nachrichten im sozialen Netzwerk überschatten jedes negative Gefühl mit der Gewissheit, geliebt zu werden. Zehntausende junge, innovative und hochintelligente Mitarbeiter lassen sich völlig problemlos von wenigen Argumenten nicht nur überzeugen, sondern auch begeistern - stehen sie schließlich unter dem Druck, andernfalls nicht mehr Teil des soziales Netzwerks zu sein. Drohungen, psychische oder körperliche Bestrafen scheinen nicht notwendig. Dabei ist von Orwells überzeugender Subtilität bei Eggers nichts zu spüren. Die Manipulationstechniken sind erschreckend plump, die Gespräche durchschaubar, die Strategie des Circles offensichtlich. Es gibt keine Sprache zwischen den Zeilen. Nichts, was sich der Leser über das Gesagte hinaus noch denken könnte. Die Geschichte mitsamt seinen interpretatorischen Möglichkeiten wird ihm auf dem Silbertablett serviert.

Und auch wenn Eggers' Roman mit seiner dystopischen Gesellschaftsvision sowohl mit Spannung als auch mit einer guten Geschichtet aufwartet, drängt sich dem Leser die Schwachstelle des Romans unfreiwillig auf. Es fehlt die Komplexität. Die Heldin ist eine einfach gestrickte junge Frau, die manipulativen Techniken des Circles sind durchschaubar, es mangelt beim Lesen an gedanklichen Überraschungsmomenten - und an Subtilität und Tiefe.