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Veröffentlicht am 25.07.2022

Das perfekte Sommerbuch

Freundin bleibst du immer
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Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass sich ihre Wege trennten; dass sie unbeschwert und voller Freude auf das Leben, das ihnen nach dem Studium bevorstand, zusammensaßen und sich und ihren ...

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass sich ihre Wege trennten; dass sie unbeschwert und voller Freude auf das Leben, das ihnen nach dem Studium bevorstand, zusammensaßen und sich und ihren Abschluss an der Universität Zaria feierten. Während es Enitan nach New York verschlug, wo sie nun geschieden und alleinerziehend mit ihrer Tochter Remi wohnt, pflegt Zainab ihren nach mehreren Schlaganfällen gelähmten Mann. Funmi hingegen lebt in Hülle und Fülle, sie ist reich: Shoppen-bei-Harrods-reich, Fahrer-und-Diener-und-was-ihr-Mann-macht-ist-unklar-aber-definitiv-korrupt-wobei-sie-lieber-nicht-darüber-nachdenkt-reich. Doch auch wenn tausende Kilometer, mehrstellige Dollarbeträge und abrupte Fluchten sie trennen, das Leben es nicht immer gut mit ihnen meinte, niemals brach der Kontakt zwischen den drei Freundinnen ab. Und umso größer ist die Wiedersehensfreude, als sie nun bei der Hochzeit von Funmis Tochter Destiny in Lagos wieder vereint sind. Das Wiedersehen bringt Erinnerungen ans Licht: an ihre gemeinsame Zeit, ihr Kennenlernen, an das, was sie liebten und verloren. Aber während sie in Vergangenem schwelgen, müssen sie erkennen, dass ihre Töchter ihnen in ihrem rebellischen Wesen in nichts nachstehen.

Es ist diese wärmende, behagliche Atmosphäre, die Tomi Obaros Debütroman „Freundin bleibst du immer“ (OT: Dele Weds Destiny: A Novel, aus dem Englischen von Stefanie Ochel) zu einem absoluten Wohlfühlbuch macht – trotz dessen das Leben der drei Freundinnen Enitan, Funmi und Zainab nicht immer einfach war. Aus ihren jeweiligen Perspektiven beschreibt die Autorin ihr Zusammentreffen, ihre familiären Hintergründe und persönlichen Schicksale. Sie alle hatten einst Träume, wollten Geschichten schreiben, Krankenschwester werden, ein sicheres, gutes Leben führen und Teil einer liebevollen Familie sein. Ihrem ersten Zusammentreffen Anfang der 1980er Jahre an der Universität Zaria gingen Neid und Abschätzigkeit voraus, Überheblichkeit prallte auf Schüchternheit und Bewunderung, doch allmählich rauften sie sich zusammen, waren aufeinander angewiesen und stärkten sich stets gegenseitig den Rücken: in Gesundheit, in Krankheit, in anderen Umständen. Als es 1987 bei studentischen Aufständen zu einem tödlichen Unglück kommt, verändert sich alles und ihre Wege trennen sich.

Mit ausdrucksstarker, schwereloser Sprache und spielerischer Leichtigkeit entwirft Obaro drei grundverschiedene Protagonistinnen, die man sofort ins Herz schließt. Ihre Entwicklung von der Studienzeit bis hin ins Erwachsenenalter, von jungen, zuversichtlichen Mädchen zu vom Leben gezeichneten Müttern, die sich nun in ihren Töchtern gespielt sehen, hat mich mitgerissen, mein Herz mit jedem Auf und Ab tanzen lassen. Sie gibt einen wertvollen, lebendigen Einblick in das Leben in Nigeria, die Klassenunterschiede und gesellschaftlichen wie kulturellen Besonderheiten gegenüber der westlichen Kultur, insbesondere der Hochzeitszeremonie. Darüber hinaus thematisiert sie Rassismus aufgrund von Hautfarbe und Aussehen, Gewalt und sexuellen Missbrauch sowie Abtreibung und psychische Erkrankungen, lässt immer wieder auch den Konflikt der Generationen zwischen Tradition und Moderne durchscheinen. Teilweise werden einzelne Aspekte nur oberflächlich behandelt, wie eine Randerscheinung, doch das tut der Atmosphäre der Erzählung keinen Abbruch, lässt sie eher ausgewogen erscheinen. Lediglich das flüchtige Betrachten der psychischen Probleme ließ mich ein wenig grummeln; hier hätte ich mir mehr Tiefe und Dialog gewünscht.

Müsste ich mich festlegen, ich denke, ich wäre Team Enitan; mit ihrer bodenständigen, ehrlichen Art und ihrer „Begeisterung“ für WhatsApp-Gifs sowie dem Risiko, das sie für die Liebe eingegangen ist, ist sie mir sofort ans Herz gewachsen und ihr Mut imponiert mir. Und doch sind sie alle unglaublich liebenswert und ich habe die gemeinsame Zeit mit den drei Frauen und ihren Töchtern sehr genossen. Eine sommerliche Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Bilder, die bleiben

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"Aber was ist das allerschlimmste das du gesehen hast?" (S. 9)

Kayleigh braucht Geld. Nachdem sie einige Monate im Callcenter arbeitete, sind ihre Ansprüche nun relativ gering und sie bewirbt ...

"Aber was ist das allerschlimmste das du gesehen hast?" (S. 9)

Kayleigh braucht Geld. Nachdem sie einige Monate im Callcenter arbeitete, sind ihre Ansprüche nun relativ gering und sie bewirbt sich auf eine Stelle, die zwar wenig aussagekräftig klingt, jedoch zwanzig Prozent mehr Lohn verspricht: "Mitarbeiter (m/w/d) im Qualitätsmanagement". Nach erfolgreicher Eignungsprüfung wird sie übernommen, arbeitet nun als Content Moderator für eine Social Media Plattform, deren Namen sie nicht nennen darf. Ihre Aufgabe: täglich mindestens 500 Videos und Postings ansehen, die als gewaltsam, rassistisch oder suizidal eingestuft wurden, und entscheiden, ob sie gelöscht werden oder stehen bleiben dürfen. Die Arbeitsbedingungen bei HEXA sind hart, die Arbeit zermürbend und die Gefahr, gekündigt zu werden, groß. Ein Team aus Supervisors bewertet ihre Arbeit, erstellt eine Erfolgsquote und analysiert, wie viel Zeit sie braucht, denn: Zeit ist Geld. Würde man Kayleigh nachts aufwecken, sie wüsste alle Regeln auswendig, und doch gelingt es ihr, trotz allem eine professionelle Distanz zu dem Gesehenen zu bewahren - und Spaß an der Arbeit zu finden. Nicht zuletzt wegen Sigrid. Während der gemeinsam im Pub verbrachten Feierabende kommen sie sich näher, verlieben sich; ihr Glück scheint vollkommen. Doch plötzlich verändert sich alles: Ihre Kollegen halten dem psychischen Druck nicht mehr stand, brechen zusammen, reden über Verschwörungstheorien - und Sigrid beginnt sich zunehmend von ihr zu distanzieren. Kayleigh versteht nicht, was vor sich geht. Ist sie die Einzige, die dem Druck standhalten kann - oder merkt sie nur nicht, wie sie sich allmählich verändert?

Eindringlich und aufwühlend entwirft Hanna Bervoets in ihrem Roman "Dieser Beitrag wurde entfernt" (OT: Wat wij zagen, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten) ein Psychogramm der gegenwärtigen Gesellschaft, in der Social Media und die Nutzung von Smart Devices über den Alltag und die soziale Interaktion bestimmen. Ein Leben ohne wäre für die meisten undenkbar. Was wir sehen, beeinflusst uns und unser Handeln, unser Denken - unser Leben. Was nicht ungefährlich ist, denn: die Abhängigkeit entsteht leise. Hanna Bervoets blickt hinter das Bild, das wir auf unsere Bildschirmen sehen, unter Umständen selbst erzeugen: Sie deckt auf, unter welchen abstrusen, unmenschlichen Bedingungen die Menschen arbeiten, die darüber bestimmen, was wir in der digitalen Parallelwelt sehen, welchen Bildern sie ausgesetzt sind, um uns vor traumatischem oder negativ beeinflussendem Content zu schützen.

Nachdem ihre Kollegen bei HEXA gekündigt hatten, Kayleigh selbst auch schon seit mehreren Monaten nicht mehr dort arbeitete, wurde eine Sammelklage gegen die Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen der Arbeit auf ihre mentale Gesundheit aufgesetzt. Herr Stisic, der zuständige Anwalt, fordert sie nun unerbittlich dazu auf, sich an der Klage zu beteiligen. Darauf hat Kayleigh keine Lust, doch sie ist bereit, ihm von ihren Erfahrungen bei HEXA zu erzählen, wenn er sie dafür in Ruhe lässt. Es gleicht einem Geständnis oder viel eher einer Offenbarung, wie Kayleigh ihre sexuellen Erfahrungen mit anderen Frauen, ihre Zeit als Content Moderator und die Beobachtungen und Erfahrungen, die sie machen musste, mitteilt. Nüchtern reflektiert sie, wie die Grenze zwischen moderierter und gelebter Realität allmählich verschwimmt, sie und ihre Kollegen ohne psychologische Betreuung in der Luft schweben mussten, immer unter dem Druck standen, zu versagen. Und das Bedürfnis verspürten, helfen zu müssen. Solange, bis sie daran zerbrechen.

Auf der einen Seite finde ich den Roman in seiner Intention unglaublich interessant, die Kritik, die die Autorin übt, und auch den sanft gezogenen Vergleich zwischen der Arbeit bei HEXA und der Unbeständigkeit von Kayleighs Beziehungen, dass all das der subjektiven Einschätzung, dem Blickwinkel unterliegt. Doch irgendwo fehlte mir die Tiefe in den Beschreibungen der psychologischen Auswirkungen, das gewisse Etwas und letztlich die Empathie und Nähe zu den Charakteren und ihren Schicksalen. Nichtsdestotrotz ein kurzweiliges, eindringliches Buch, das zum Denken anregt und Spuren hinterlässt.

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Veröffentlicht am 01.06.2022

Damals im Sommer

Man vergisst nicht, wie man schwimmt
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"Die Möglichkeiten sind unendlich. Wenn man eine Geschichte schreibt, meine ich. Wo und wann diese beginnt. Wie man sie verzweigt, wie Handlungsstränge und Figuren sich treffen und gegenseitig ...

"Die Möglichkeiten sind unendlich. Wenn man eine Geschichte schreibt, meine ich. Wo und wann diese beginnt. Wie man sie verzweigt, wie Handlungsstränge und Figuren sich treffen und gegenseitig beeinflussen. Und wie die Geschichte endet. Man kann es sich aussuchen. Solange man nicht weiß, wie es wirklich ausgegangen ist." (S. 203)

Niemals hätte Pascal gedacht, dass dieser eine letzte Tag des Sommers, der 31. August 1999, ihm so viel bedeuten, sein Leben für immer verändern würde. Zunächst scheint alles wie immer, die Sonne knallt auf den Asphalt und lässt die Luft flimmern, sein Heimatort Bodenstein liegt in sommerlicher Trägheit. Doch während die anderen Spaß im Freibad oder im Skatepark haben, wünscht sich Pascal nur, dass dieser Sommer endlich zuende geht. Er hat den Spaß am Sommer verloren, seit er nicht mehr schwimmen gehen kann. Wieso, weiß nicht einmal sein bester Freund Viktor. Stattdessen hängen sie zuhause ab oder spielen "Tony Hawk Pro Skater" auf der Xbox - und dann fällt plötzlich Jacky, dieser rothaarige Wirbelwind, in ihre Welt. Nur ein gemeinsamer Tag bleibt ihnen, denn am nächsten Tag würde der Zirkus, mit dem sie in der Stadt ist, seine Zelte abbauen. Ein Tag wie ein Leben, die Zeit scheint stillzustehen - und Pascals Bestreben, sich nicht zu verlieben, niemals!, schmilzt unter Jackys blauen Augen dahin.

„Jeder von uns hat diese Menschen, an die man ab und an denkt und bei denen wir uns fragen, wie ihre Geschichte weiterging.“

Die Luft flimmert warm und golden, den Geruch von Sonnencreme auf der Haut, das Salz der Pommes im Freibad an den Fingern - und im Kopf dieses eine Lied, "Dream of Californication", Soundtrack eines Sommers. Genau das sind die Vibes, die Christian Huber mit seinem Romandebüt "Man vergisst nicht, wie man schwimmt" in mir weckte. Auf melancholische Art wohltuend und wärmend erzählt er, verdichtet auf einen einzigen langen Tag im Jahr 1999, die Coming of Age-Geschichte des 15-jährigen Pascal, genannt Krüger, einem in sich gekehrten, aber unglaublich kreativen und empathischen Jungen, dem seit seiner Kindheit drei schwerwiegende Geheimnisse auf der Seele liegen. Um all das, was er erlebt und fühlt, zu verarbeiten, schreibt er Geschichten, nur für sich. Doch auch das scheint ihm nicht zu helfen, einfach unbeschwert zu leben, diese Hürde zu überwinden, die ihn zurückhält und all das hinter sich zu lassen und sich zu öffnen. So lebt er einfach vor sich hin, bis: Jacky. Dieses Mädchen mit den roten Haaren. Im Begriff, eins der neuen Nokias zu klauen, fällt sie auf der Flucht vor dem Ladenbesitzer in sein Leben, als er und Viktor gerade in demselben Laden Xbox zocken - nicht ahnend, dass das ihren Tag - und Krügers Leben - völlig auf den Kopf stellen soll. Das Zirkusmädchen lockt Krüger aus der Reserve, schafft es, die Mauern, die er um sich baute, sanft zum Fallen zu bringen. Und sogar seine Regeln abzulegen, wohlwissend, dass dies ihr erster und einziger gemeinsamer Tag sein würde.

Dieses Buch ist wie eine warme Umarmung, ein Kaleidoskop zurück in die Kindheit, als jeder Tag unendlich schien, unbeschwert und sorgenlos; es lässt einen die Welt draußen einfach vergessen. Die Art und Weise, wie Christian Huber seinen Protagonisten Pascal behutsam, beinahe zaghaft, sich immer weiter öffnen, im übertragenen wie im Wortsinn Schicht um Schicht ablegen lässt, zu erfahren, wie er Mut fasst und an allem, was ihn zurückhielt, wächst - das ist ganz groß. An manchen Stellen erschien es mir alles ein bisschen drüber, ein bisschen zu gewollt, und doch hat dieses Buch wirklich gut getan. Muss ja auch nicht immer alles bis ins Kleinste auf Glaubwürdigkeit seziert werden, manchmal will man auch einfach nur vor der Realität fliehen, Kopf aus und weg. Davon mal abgesehen, habe ich aber auch viel aus dem Buch mitgenommen, und das zählt am Ende noch viel mehr als alles andere: Steh zu dir selbst, und sei mutig. Wozu auf später warten, ergreife jetzt deine Chance, lebe und liebe im Hier und Jetzt, denn das kann dir niemand zurückbringen.

Veröffentlicht am 08.08.2021

Ein Meisterwerk

Auszeit
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„Ich glaube, alles ist eine Frage der Geschwindigkeit. Man muss eine Grundbetriebsgeschwindigkeit haben, die einen über die tausend kleinen Abgründe hinwegträgt, die in jeder Handlung, ja, eigentlich in ...

„Ich glaube, alles ist eine Frage der Geschwindigkeit. Man muss eine Grundbetriebsgeschwindigkeit haben, die einen über die tausend kleinen Abgründe hinwegträgt, die in jeder Handlung, ja, eigentlich in jedem Gedanken versteckt sind.“ (S. 85)

Henriette muss raus. Abschalten und nachdenken, Abstand gewinnen zu ihrer Studienarbeit, zu dem, was war, zu der Rolle, die sie hätte ausfüllen können. Sie hätte Mutter sein können, aber sie trieb das Kind ab, und fragt sich nun, wie es überhaupt so weit kommen konnte, was sie eigentlich vom Leben will, was ihre Ziele sind, denn immer öfter fühlt sie sich haltlos, schwebt ohne Anker absichtslos durch die Welt. In einer Ferienhütte nahe Landshut, weit ab vom grauen Alltag, möchte ihre Freundin Paula ihr dabei helfen, sich zu erden – bis ihr Freund Tom ins Bild tritt und Staub aufwirbelt.

In ihrem Debütroman „Auszeit“ skizziert Hannah Lühmann eine Gefühlswelt, die wohl jeder:m bekannt ist: Ausgebranntheit, Unwohlsein, Ziellosigkeit – man sucht einfach den Sinn des Ganzen, warum man das macht, was man gerade macht. Äußerst präzise, aber doch auf eine Weise distanziert, seziert Lühmann über den Verlauf des Romans die Gefühlsschwankungen der Protagonistin Henriette, die kurz nach ihrer Abtreibung in einer Art Loch ist, sich einsam fühlt, deprimiert, und noch dazu im Hinblick auf ihre Dissertation zum Thema Werwölfe in der Literatur am Nullpunkt angekommen ist. War die Promotion eh nur ein notdürftiger Ausweg aus ihrer Ziellosigkeit im Leben, treibt sie sie nun noch viel mehr in die Verzweiflung: „Ich konnte meinen Fehler nicht zugeben, ich konnte die Jahre nicht rückgängig machen, also konnte ich nicht aufhören.“ (S. 12)

Düster, bedrückt ist die Grundatmosphäre des Romans, wenn die länger werdenden Schatten der Bäume beschrieben werden, Henriette sich in die Theorie der Werwölfe vertieft, wenn sie ihren Gefühlen Raum verleiht, ihre Ängste und ihre Trauer zu Worten werden. Ihre Situation scheint ausweglos und vertrackt, und doch britzelte stets auch ein wenig Hoffnung mit bei, die bis zum Ende währte.

Der Roman hat mich noch lange nach der Lektüre beschäftigt. Zunächst war ich ratlos, wusste nichts mit dem Gelesenen anzufangen, fand alles auf eine Art überzogen, zu reduziert, einfach nicht stimmig, doch nun, ein paar Tage später, muss ich immer wieder an Henriette denken, wie sie stellvertretend für die Ziellosigkeit der heutigen Generation steht, denen alle Möglichkeiten offenstehen, sich aber nicht entscheiden können oder – und das ist noch eine ganz andere, aber unglaublich relevante Ebene – denen es finanziell gar nicht möglich ist, ihre Ziele zu verwirklichen. Auch das Thema Kinder: Immer später entscheiden sich Frauen dazu, Mutter zu werden, benötigen heutzutage nicht einmal mehr einen Partner, um eine Familie zu gründen; kurz: der klassische Lebensentwurf stirbt aus. Mich hat bewegt, wie sehr sich Henriettes Psyche durch die Schwangerschaft verändert hat, durch den Ausblick auf eine Aufgabe in ihrem Leben, die Aussicht, gebraucht zu werden, nicht mehr alleine zu sein: „Ich wusste, dass es zwei Lösungen für mich gab, die eine hieß "Zeit" und die andere hieß "jemand". Menschen wie ich, vielleicht Menschen überhaupt, brauchten entweder sehr viel Zeit, eine Länge, sie bräuchten etwas Lineares, einen Raum, in den sie sich hineinentwickeln konnten - oder aber sie brauchten einen anderen Menschen, der sie begrenzte, der ihnen etwas vorgab, der ihnen half, ihre Motive zu entwickeln.“ (S. 101f)

Ein wirklich denkwürdiges Debüt, dass Zeit zur Entfaltung braucht, dann aber mit eiskalter Faust in Beschlag nimmt.

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Veröffentlicht am 13.05.2021

Welcome to Berlin

Mond über Beton
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"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine ...

"Ach, da kann einem ja nur das Herz aufgehen, der Kotti tritt die Tür zu seinem Herzen immer einfach ein, und innen drin wird's ganz warm und mit Wind, bald ist Sommer, im Torbogen vom NKZ steht noch eine Flasche Wodka mit Schluckresten.“ (S. 95)

Hier spielt das wahre, das düstere Leben; sozialer Brennpunkt, eiskalter Beton, Drogenhochburg ist „diese[s] herrlich schwarze Loch von Berlin“ (S. 57): das Kottbusser Tor. Als städtebauliches Projekt Anfang der Siebziger aus dem Boden gezogen, ist der Kotti auch weit über die Grenzen Berlins hinaus bekannt. In Gebäudekomplex Neues Zentrum Kreuzberg, kurz NKZ, wohnen die unterschiedlichsten Menschen, die alle ihre Geschichte zu erzählen, ihr Päckchen zu tragen haben: Mutlu mit seinen Söhnen Barış und Barik; Mutlus Nichte Aylin; das alte Pärchen Marianne und Günther; und nicht zuletzt die Witwe Stanca mit ihrem Hund. Sie machen das NKZ zu dem, was es ist, und das NKZ beeinflusst ihr Leben und ihre Schicksale gleichermaßen.

Seit dem Tod seiner Frau Hilal ist Mutlu nicht mehr der, der er einmal war, lediglich ein Schatten ist übrig geblieben von ihm, und so bemerkt er nicht, wie seine Söhne allmählich ins Drogenmilieu abrutschen, immer auf der Suche nach dem Durchbruch, dem ultimativen YouTube-Fame. Aylin hingegen ist es leid, für ihre Neffen zu sorgen, hat sie doch selbst genügend eigene Probleme: ihr Studium, ihre Arbeit im Gemüsemarkt von Mutlu und im REWE, und seit neustem auch den Junkie Ario, der ihr, seinem Engel, immer öfters nachstellt. Marianne und Günther haben genug davon, in welche Richtung sich der Kotti verändert, es ist einfach nicht mehr sicher hier! Überall liegen die Abfälle der Junkies, die eh an jeder Ecke herumlungern, und die Jungen von Mutlu sind auch nicht mehr so lieb, wie sie als Kleinkinder mal waren. Doch zumindest müssen sie sich nicht wie Stanca um die Miete sorgen: Seit dem Tod ihres Mannes hadert sie, im nach Deutschland gefolgt zu sein, und hat nun einen jungen Studenten zur Untermiete. Sie alle verbindet aber eine Gefahr, die im Verborgenen lauert und ihrer aller Leben ein neues Ende schreiben soll.

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