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Veröffentlicht am 08.06.2021

Unerlaubt, illegal, unmoralisch

Die rote Frau
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„Die Reichen und Mächtigen haben es sich schon immer richten können. Das war bereits in der Monarchie so und wird in der Republik auch nicht anders werden. Von wegen schöne neue Welt.“

Inhalt

Trotz der ...

„Die Reichen und Mächtigen haben es sich schon immer richten können. Das war bereits in der Monarchie so und wird in der Republik auch nicht anders werden. Von wegen schöne neue Welt.“

Inhalt

Trotz der Tatsache das es Rayonsinspektor August Emmerich nun in die Abteilung „Leib und Leben“ geschafft hat und eigentlich mit Mordfällen betraut werden müsste, hält man ihn an der kurzen Leine, denn seine zielgerichtete, ungewöhnliche Vorgehensweise ist so manchem Kollegen ein Dorn im Auge. Aus diesem Grund sieht er sich eher mit Lappalien konfrontiert, die er abarbeiten muss, um seinen erkämpften Posten zu erhalten.

Andererseits ermittelt die gesamte Abteilung an einem heiklen Mordfall, bei dem ein Gönner der Armen kaltblütig ermordet wurde. Als nun vorzeitig ein armer Obdachloser als Täter dingfest gemacht wurde, den Emmerich aus der Armenunterkunft persönlich kennt, gibt es für den Inspektor nur einen Weg: der Verurteilte ist unschuldig. Allerdings werden die Hebel, die zu dessen Freilassung notwendig wären, einfach nicht bedient. Ungeachtet der Etikette und des Dienstweges, macht sich Emmerich zusammen mit seinem Kollegen Winter auf die Suche nach dem wahren Mörder und sticht damit direkt in ein Nest aus Korruption und dunklen Machenschaften, bei dem die Reichen und Mächtigen der jungen Republik ihre Schäfchen schnell ins Trockene bringen möchten …

Meinung

Dies ist der zweite Band aus der Reihe um Inspektor August Emmerich, der es im Wien des Jahres 1920 abermals mit einem heimtückischen Verbrechen zu tun bekommt. Nachdem ist bereits nach der Lektüre des ersten Bandes absolut begeistert war, wollte ich nun unbedingt die Fortsetzung lesen und abermals freut sich mein Leserherz, ob der spannenden, unterhaltsamen Krimilektüre, die den Zeitgeist gekonnt einfängt und einen sympathischen, wenn auch äußerst sperrigen Hauptprotagonisten auf die Verbrecherwelt loslässt. Für mich ist klar, diese Reihe lese ich ambitioniert weiter, die Folgebände sind schon bestellt.

Tatsächlich gibt es zwei wesentliche Punkte, die mich hier überzeugen: zum einen ist es die Einbettung der Handlung in ein von Hunger, Armut und Korruption geprägtes Großstadtleben, welches ein stimmiges, wenn auch trauriges Hintergrundszenario bietet. Angefangen bei den Kriegsversehrten, hin zu Glücksspiel und Prostitution, über die katastrophalen Wohn- und Lebensumstände der einfachen Bevölkerung bis hin zu den Sympathisanten der Monarchie, die den verlorenen Krieg als eine Schmach empfinden und schon jetzt zu den Wegbereitern der kommenden Jahrzehnte werden. Dieser historische Aspekt ist absolut gelungen und zieht sich wie der rote Faden durch die eigentliche Kriminalhandlung.

Der zweite ausschlaggebende Punkt ist das Ermittlerduo Emmerich/Winter, die so gar nicht zu den anderen Aktenträgern passen und trotz ihrer vielen Unterschiede ein vortreffliches Team abgeben: während der junge Ferdinand, etwas naiv und sehr unbeleckt daherkommt, aber das Herz am rechten Fleck hat, agiert der ältere Emmerich absolut nach seinem Bauchgefühl und folgt seiner oftmals halsbrecherischen, dem Gesetz nur unzureichend verpflichteten Lebenseinstellung. Doch genau diese Zusammenarbeit scheint es zu brauchen, um die wirklich kniffligen Fälle zu lösen. Und so gelingt es den beiden, sich trotz aller Widerstände einen Namen zu machen, denn wer Erfolge vorweisen kann, rückt in der Hierarchie des Polizeiapparates nach oben.

Fazit

Auch Band 2 der Reihe ist mir wieder die volle Punktzahl wert und ich lese gleich weiter mit „Der dunkle Bote“. Vielleicht erfährt man nun noch etwas mehr vom aus dem Ruder gelaufenen Privatleben des Inspektors, der seine Geliebte an ihren zurückgekehrten Mann verloren hat und darunter ebenso leidet, wie unter der Tatsache, dass die Gerechtigkeit nicht siegen könnte. Von mir gibt es eine Leseempfehlung für alle, die einen spannenden Mix aus Krimi, Gesellschaftsstudie und Unterhaltungsliteratur mögen.

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Veröffentlicht am 30.05.2021

Jugend hat keine Tugend

Töte mich
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„Sérieuse hatte ihn mit Agamemnon und Iphigenie geschlagen. Nun tauchten aus seinen rudimentären Erinnerungen an den Religionsunterricht Abraham und Isaak auf. Ein Hoffnungsschimmer streifte ihn, machte ...

„Sérieuse hatte ihn mit Agamemnon und Iphigenie geschlagen. Nun tauchten aus seinen rudimentären Erinnerungen an den Religionsunterricht Abraham und Isaak auf. Ein Hoffnungsschimmer streifte ihn, machte aber bald einem noch tieferen Schmerz Platz.“

Inhalt

Graf Henri Neville steckt in der Zwickmühle: Denn nachdem ihm eine Wahrsagerin prophezeit hat, dass er auf seiner letzten Garden Party auf seinem stattlichen Anwesens zum Mörder eines Gastes werden wird, überlegt er krampfhaft, wie so ein Mord standesgemäß ablaufen könnte und wer überhaupt das passende Opfer wäre. Ihn schreckt es nicht, dass er nach vollbrachter Tat ins Gefängnis gehen muss, denn er ist ohnehin verarmt und der Landbesitz eine einzige Schuldenfalle. Doch Graf Neville hat schon von Kindesbeinen an den Grundsatz der gehobenen Gesellschaftsschicht verinnerlicht: es spielt keine Rolle, welche Taten du verübst, solange sie moralisch vertretbar sind. Leider gibt es unter den geladenen Gästen zwar viele mögliche Opfer, aber keines scheint das geeignete. Als ihn seine verschrobene jüngste Tochter Sérieuse das Angebot macht, doch sie zu töten, statt eines Fremden, eröffnen sich ganz neue Perspektiven. Wäre da nicht sein schlechtes Gewissen und die unsagbare Strafe, die es ihm nach der Tat bis ans Ende seines Lebens unmöglich machen würde, seine persönlichen Ansprüche zu erfüllen …

Meinung

Dieser kleine, feine Roman mit gerade mal 111 Seiten Umfang konnte mich sehr begeistern, denn die 1967 geborene belgische Diplomatentochter Amélie Nothomb, die bereits zahlreiche Romane veröffentlicht hat, spinnt hier ein diffiziles Kammerspiel, welches sich zum gedanklichen Schlagabtausch zwischen Vater und Tochter entwickelt. Einerseits ist dieses Buch zeitlos und universell, weil es nichts weiter als ein moralisches Gedankenexperiment ist, andererseits wirkt es märchenhaft-leicht und absolut unterhaltsam, weil es so ohne Rahmenhandlung und Kenntnis der näheren Umstände auskommt. Für die Entwicklung der Protagonisten bleibt wenig Raum, man erfährt als Leser nur ein paar Hintergründe, die nicht genügen, um die Motivation der 17-jährigen Tochter tatsächlich nachzuvollziehen. Stattdessen konzentriert sich die Autorin auf den Aspekt des Standesdünkels und so manch skurriler Begebenheit, die eine so haarsträubende Idee schließlich in einem ganz anderen Licht erscheinen lässt.

Fazit

Ich habe mich hier bestens unterhalten gefühlt und einen leichten, beschwingten Roman gelesen, der ein eigentlich unvorstellbares Dilemma auf die humoristische Art und Weise löst und vergebe gerne 5 Lesesterne. Sicherlich ist das keine besonders anspruchsvolle Lektüre mit Tiefgang, allerdings tut das dem Lesevergnügen keinen Abbruch, insbesondere wenn man sich auf dieses Experiment mit den Möglichkeiten und Unvorstellbarkeiten einlässt.

Gerne hätte dieses Buch noch ein paar mehr Seiten haben dürfen und vielleicht noch einen kleinen Ausblick in das Beziehungsgeflecht der Familie Neville nach dem Ende der Garden Party liefern können, doch auch so passt es wunderbar. Von der Autorin werde ich gewiss noch weitere Bücher lesen – dieses hier hebt sich positiv von der Menge der Bücher ab, die ich sonst in den Händen halte und lässt jegliche Schwere vermissen, was für mich normalerweise immer ein Kritikpunkt ist, nicht jedoch, wenn so klar erkennbar ist, in welche Richtung eigentlich argumentiert werden soll.

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Veröffentlicht am 19.05.2021

Muttersein auf Messers Schneide

Der Verdacht
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„Vielleicht war das für mich auch eine Art Rechtfertigung. Mein Verhalten war pathologisch. Und ich konnte nicht aufhören, sie dafür zu bestrafen, dass es sie gab. Wie leicht war es da, meine Kopfhörer ...

„Vielleicht war das für mich auch eine Art Rechtfertigung. Mein Verhalten war pathologisch. Und ich konnte nicht aufhören, sie dafür zu bestrafen, dass es sie gab. Wie leicht war es da, meine Kopfhörer aufzusetzen und so zu tun, als existierte sie nicht.“

Inhalt

Blythe ist mehr als verzweifelt, als sie es dreizehn Jahre nach der Geburt ihres ersten Kindes fertig bringt, ihrem Ex-Mann die eigene Version der Geschichte zu erzählen, indem sie ihm alles, was sie in ihrer gemeinsamen Zeit tatsächlich bewegte, in Briefform zukommen lässt. Unbarmherzig rechnet sie mit sich selbst ab, aber auch mit der gemeinsamen Tochter und der vollkommen zermürbten Ehe, die zwangsläufig zum Scheitern verurteilt war.

Blythe hat nicht nur eine zerrüttete Kindheit hinter sich, in der sie nie mütterliche Liebe spürte, nun findet sie sich auch noch selbst in der Rolle der Mutter wieder und fühlt sich ihrem Kind nicht gewachsen. Aber schlimmer noch, es ist nicht nur, dass sie es nicht lieben kann, sie fürchtet sich regelrecht vor ihrer Tochter Violet. Sie ist ein kaltherziges Kind und scheint nur Interesse daran zu haben, die Schwachstellen anderer aufzudecken, um sie unbarmherzig auszunutzen. Mehr als eine friedliche Koexistenz gelingt der jungen Mutter nicht und dass, obwohl sie sich so auf ihr eigenes Kind gefreut hat. Ein zweites Baby scheint eine gute Lösung für die zahlreichen Probleme der Familie zu sein und eine Möglichkeit für Blythe sich mit ihren eigenen Gefühlen auszusöhnen, doch nach der Geburt ihres Sohnes Sam spitzt sich das Ungleichgewicht weiter zu. Zwar spürt die junge Frau nun die ganze Liebe zum Zweitgeborenen, doch Violet beobachtet die sich verändernde Situation mit Argwohn und warum sollte sie ihren besonderen Stand aufgeben wollen, warum den Kampf mit der eigenen Mutter einstellen – denn geliebt wird sie ja so oder so nicht …

Meinung

Die kanadische Autorin Ashley Audrain entwirft in ihrem Debütroman eine gleichermaßen authentische wie bedrückende Geschichte, ja fast das Psychogramm einer gestörten Seele. Dabei wählt sie eine kleine, sehr normale Familie, die sich nach und nach immer mehr von innen auflöst und regelrecht in ihre kleinsten Bestandteile zersetzt. Dabei lenkt sie ihr Augenmerk besonders auf die Mutterschaft einer jungen Frau, die selbst kein gutes Vorbild hatte und sich nun trotz einiger Zweifel an das Abenteuer wagt. Sehr schnell wird deutlich, wie groß die Kluft zwischen ihren Gefühlen ist, denn alles, was sie sich wünschte, kann sie einfach nicht empfinden, die Beziehung zwischen ihr und der Tochter ist vom ersten Moment an gestört und aus ihrer Gefühlswelt findet sie keinen Ausweg, ganz im Gegenteil, sie sieht bestimmte Verhaltensweisen an ihrem Kind, die sie noch tiefer in den dunkeln Gefühlsstrudel hinabziehen.

Dieser Roman wirft eine Menge Fragen auf und weckt ambivalente Gefühle – einerseits kann man sich als Leser wunderbar in die Gedankengänge der Hauptprotagonistin hineinversetzen und kommt ihren Emotionen sehr nah, andererseits gibt es immer wieder Stellen im Buch, die zeigen, wie labil die Mutterfigur hier ist und welch schlimme Folgen es haben kann, wenn nicht einmal der Partner das Offensichtliche wahrhaben möchte und stattdessen lieber die Flucht ergreift. Gerade der Aspekt, wie sich eine Partnerschaft verändert, wenn plötzlich gemeinsamer Nachwuchs da ist, hat mir ausgesprochen gut gefallen. In diesem Fall ist das Gefüge nur wahnsinnig schnell und äußerst fatal in eine Schieflage geraten. Das Kind wird nicht wie gewünscht zum Bindeglied, sondern entzweit die Partner immer mehr.

Ein weiteres Plus dieser Erzählung ist eine ungewöhnliche Perspektive, denn alle bisherigen Romane, die ich zur Thematik Mutter-Tochter-Beziehungen gelesen haben, schildern zwar oft ein Unverständnis der beiden füreinander und eine klare Abgrenzung voneinander, aber hier liegt der Handlungsschwerpunkt eindeutig auf der Mutter und ihrer fehlenden Liebe zur Tochter. Es gibt einige Stellen im Text, da spricht die Heranwachsende ihre Mutter direkt darauf an, warum sie ihr keine Liebe entgegenbringen kann, warum sie ihre Tochter so sehr hasst. Und tatsächlich, die Mutter schreibt oftmals den Satz „Ich hasse sie“. Dennoch schafft es dieser Roman, dass man als Leser gewissermaßen wertungsfrei bleiben möchte und stattdessen lieber gefesselt der eigentlichen Handlung folgt, die ich mir übrigens auch absolut spannend in einer Verfilmung vorstellen könnte.

Etwas störend empfand ich die gewählte Briefform, gerade im Schriftbild wirkt die 2. Person Singular im Präteritum äußerst umständlich und etwas sperrig, ganz anders als der Inhalt selbst aber doch so, dass es mir gerade in den Erzählpassagen ohne wörtliche Rede negativ aufgefallen ist.

Fazit

Ganz klar hier werden es 5 Lesesterne und eine absolute Leseempfehlung, denn diese Geschichte punktet mit einer großen Authentizität, wirbelt eine Vielzahl an Gedanken auf, fasziniert und verschreckt gleichermaßen und liest sich stellenweise so atemlos wie ein guter Thriller. Es ist ein gekonnter Mix aus Spannungsmomenten, gepaart mit tiefen Emotionen und sehr menschlichen Verhaltensweisen. Immer wieder regt der Text zum Nachdenken an und lässt Fragen aufkommen: Wie gehe ich selbst mit der Mutterrolle um? Warum haben es ungeliebte Kinder so schwer und ist das alles wirklich so ausschlaggebend für die nächste Generation? Ich glaube dieses Buch hätte mir zu einer anderen Zeit im Leben Bauchschmerzen bereitet, denn kurz nach einer Entbindung mit ähnlichen Fragen im Herzen, wie die Erzählerin wirkt das sicherlich verstörend – mit dem entsprechenden Abstand ist es allerdings ein literarischer Leckerbissen und ziemlich weit oben auf der Liste meiner Lieblingsbücher, also ein Jahreshighlight allemal!

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Veröffentlicht am 14.04.2021

Die Erdkugel auf ihrer richtigen Bahn

Löwen wecken
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Du begreifst nie, wie komplex die Wirklichkeit ist, solange du nicht versuchst, dir eine alternative Wirklichkeit zu schaffen. Und da war schon was dran, an dem, was er erzählte, etwas, das ihn vom klaren ...

Du begreifst nie, wie komplex die Wirklichkeit ist, solange du nicht versuchst, dir eine alternative Wirklichkeit zu schaffen. Und da war schon was dran, an dem, was er erzählte, etwas, das ihn vom klaren Territorium der Lüge entfernte.“

Inhalt

Etan Grien ist Arzt, liebender Ehemann und Familienvater und war Zeit seines Lebens immer prinzipientreu. Doch als er eines Nachts auf dem Nachhauseweg einen Menschen überfährt, gerät seine so alltägliche, normale Welt vollkommen durcheinander. Etan begeht Fahrerflucht, nachdem er sich kurz versichert hat, dass er dem Eritreer, der vor ihm im Wüstensand liegt nicht mehr helfen kann. Schlagartig wird ihm bewusst, dass er nun lügen muss oder für sein Vergehen alles verliert, was ihm lieb und teuer ist. Als am nächsten Morgen eine dunkelhäutige Frau vor seiner Tür steht und ihm seine verlorene Geldbörse überreicht, die sie bei ihrem tödlich verletzten Mann gefunden hat, begreift Etan, dass er so leicht nicht aus der Situation herauskommen wird, denn die Fremde hat alles, was sie braucht, um ihn zu erpressen und Etan beginnt ein gefährliches Doppelleben, welches ihn bald schon an seine Grenzen bringt …

Meinung

Viel zu lange schon lag dieses Buch auf meinem SUB und nun habe ich es im Rahmen einer Challenge endlich zur Hand genommen und mich in die ferne und auch nahe Welt der Lügen, des Betrugs und der schicksalhaften Begegnungen vorgewagt und mich gemeinsam mit den Hauptprotagonisten auf eine psychologische Reise in ihr Inneres gewagt.

Dieser Roman benötigt nicht allzu viele Zutaten, um seine Durchschlagskraft zu entwickeln, denn eigentlich ist es nur dieser kurze Moment, der Katalysator, den es braucht, um eine Kette an Ereignissen auszulösen, die dieses Buch in vielschichtigen Gedankengängen nach und nach freilegt.

Es sind zwei wesentliche Merkmale, die diese Erzählung so verstörend und gleichzeitig menschlich machen: zunächst ist es das Dilemma eines bisher nie negativ in Erscheinung getretenen Mannes, der sich plötzlich mit der vernichtenden Frage konfrontiert sieht, wieso er zu so einer Tat überhaupt fähig ist, er der nie gelogen hat, der immer auf der Seite der Guten stand und selbst viel Wert auf Integrität und Ehrlichkeit legt. Und dann ist es noch die Gegenseite, die zu Wort kommt, in Form einer Fremden, die bisher niemand wahrgenommen hat, die eine von tausenden Flüchtlingen ist, die in der Masse verschwinden, deren Leben noch nie einfach, schön und voller kleiner Wunder war.

Beide Gegenpole treffen aufeinander und müssen feststellen, dass es dieses Dogma zwischen Recht und Gerechtigkeit nicht gibt. Doch während Etan mit der Entwicklung seines eigenen Charakters zum vermeintlich schlechteren hadert, besinnt sich Sirkit, die Unfallzeugin eines anderen, wohlwissend, dass ihr Handeln immer eine Reaktion beim anderen auslösen wird und sie damit erstmals in ihrem Leben die Macht hat, eine Veränderung willentlich herbeizuführen.

Die in Tel Aviv lebende Autorin Ayelet Gundar-Goshen formt hier ein äußerst interessantes, leicht nachvollziehbares Gedankenkonstrukt zweier Menschen, die ein dunkles Geheimnis teilen, aus dem bald schon neue Entwicklungen entstehen. Dabei wechselt sie gekonnt die Erzählperspektiven, mal aus der männlichen, dann wieder der weiblichen Sicht und sie verwebt die Ereignisse so dicht und massiv, dass auch die Nebenprotagonisten unfreiwillige Zuschauer werden bzw. dazu verdammt sind, unwissend zu bleiben, ungeachtet ihrer Fähigkeit die zahlreichen Veränderungen wahrzunehmen. Im Hintergrund läuft beim Leser ein ganzer Film ab, der sich weniger auf die einzelnen Szenen konzentriert, sondern vielmehr auf die emotionale Ebene, die ungesagten Worten, die nur erdachten Möglichkeiten und den Wunsch, zumindest einem der Protagonisten beizustehen und sei es nur moralisch, selbst wenn das auf Grund der eindeutigen Indizien unverantwortlich erscheint.

Fazit

Ich bin begeistert von dieser Charakterstudie, die ganz nebenbei ein buntes Spektrum an Gedanken und Gefühlen wachrüttelt und vergebe gerne 5 Lesesterne für diese Ausnahmegeschichte. Das Beste daran – sie ist universell, übertragbar und egal wie realitätsnah sie auch sein mag, die Handlungen aller sind nachvollziehbar, empathisch und längst nicht so undenkbar, wie vermutet.

Der Kerngedanke hinter der manchmal abenteuerlichen Erzählung ist wie ein Fels, zunächst steht man vor einer schier unüberbrückbaren Wand, aber je länger man hinschaut, desto mehr Wege werden sichtbar und irgendwann scheint es sogar möglich das Massiv zu umgehen oder zu erklimmen. Es muss einfach wieder möglich sein, dass sich die Erdkugel eines Menschen in der richtigen Bahn bewegt, auch wenn man vorher glaubte, in einem vollkommen anderen Universum gelandet zu sein. In diese Situation darf man als Leser auf gut 400 Seiten eintauchen und wenn man das Buch zuklappt, bleibt nachhaltige Begeisterung für eine kleine Idee und ihre mannigfaltige Entwicklung.

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Veröffentlicht am 06.04.2021

Die Summe aller Unwahrheiten

Die Wahrheit der Dinge
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„Manchmal hat er den Eindruck, als steckten zwei Menschen in ihm …Er ist weder der eine noch der andere, gerade in den letzten Tagen wird das deutlich. Bleibt die Frage: Wer ist er eigentlich?“

Inhalt

Frank ...

„Manchmal hat er den Eindruck, als steckten zwei Menschen in ihm …Er ist weder der eine noch der andere, gerade in den letzten Tagen wird das deutlich. Bleibt die Frage: Wer ist er eigentlich?“

Inhalt

Frank Petersen ist Strafrichter in Hamburg, einer mit Erfahrung und gesundem Menschenverstand, ein zuverlässiger, korrekter Mann, dem es nicht um Gefühle geht, sondern um Objektivität. Aber derzeit steckt er in einer handfesten Lebenskrise: seine Frau Britta hat ihn verlassen, um die vielen Ehejahre Revue passieren zu lassen und sie kommt nur dann zurück, wenn Petersen einsieht, was in ihrer Partnerschaft alles schiefläuft, sein Sohn Jannis spricht nicht mehr mit dem Vater und beruflich wird es für ihn immer enger, nachdem der BGH mehrere seiner Urteile revidiert hat. So begibt er sich mühselig auf Spurensuche in sein eigenes Leben, um vielleicht den Punkt zu finden, an dem alles in die falsche Richtung lief. Eigentlich ist er sich sicher ihn zu kennen, denn vor 4 Jahren hat eine Nebenklägerin kurz vor der Verurteilung den Angeklagten erschossen, während Petersen nur danebenstand und sein Urteil nicht mehr verkünden brauchte – und diese Frau, die er zu gerne verstehen möchte, wird nun aus der Haft entlassen. Der Richter in Nöten sucht Antworten auf seine vielen Lebensfragen und stattet der Entlassenen einen Besuch ab, vielleicht liegt darin ein Neuanfang für ihn …

Meinung

Der deutsche Autor Markus Thiele, selbst Jurist, widmet sich in diesem Roman den vielen Graustufen zwischen Recht nach dem Gesetz und Gerechtigkeit nach dem menschlichen Empfinden. Dabei entwirft er eine sehr menschliche Charakterstudie, die gerade dem Strafrichter Petersen eine entscheidende Schlüsselrolle zukommen lässt. Wie fühlt sich ein Mann, der vollkommen überzeugt ist von den Gesetzten und ihrer Gültigkeit und dennoch miterleben muss, wie wenig Bestand ebendiese in manchen Situationen haben?

Im Nachwort des Buches zeigt der Autor die Parallelen zu wahren Kriminalfällen, auf denen diese Geschichte, wenn auch zweckentfremdet basiert. Aber die Verbindung zwischen Fiktion und Realität ist hier absolut überzeugend gelungen, so dass der Leser für die vielen kleinen Nuancen sensibilisiert wird und immer tiefer in die Gedankenwelt des Hauptprotagonisten eintaucht.

Die Handlung des Buches erstreckt sich auf zwei Handlungsstränge, zunächst die gegenwärtige Lage, in der Frank Petersen sein ganz persönliches Dilemma offenlegt und immer wieder eine Rechtfertigung für seinen Charakter und seine Entscheidungen gibt, während er verzweifelt zu verstehen versucht, warum gerade die Familie seine „Unfehlbarkeit“ kritisiert und sich konsequent zurückzieht. Und dann geht der Leser gemeinsam mit Corinna Maier den Weg in die Vergangenheit. Lernt eine glückliche junge Frau kennen, die binnen weniger Monate alles verliert, was sie liebte und bei Gelegenheit zur Mörderin wurde, die im Gerichtssaal Selbstjustiz übte, weil ihr Vertrauen in die Gerichtsbarkeit zerstört war. Das Zusammentreffen der beiden Charaktere, die sich so unähnlich gar nicht sind, bringt letztlich die entscheidende Wende im Geschehen.

Von diesem Roman bin ich positiv überrascht und sehr angetan, weniger wegen einer anspruchsvoll gehobenen Sprache oder einer grandiosen Idee, als vielmehr von der moralischen Umsetzung und differenzierter Betrachtungen zum Thema Schuld, Aufarbeitung, Strafe und Schicksal. Die Geschichte bleibt sehr nah an der Realität, die Charaktere sind vielschichtig und gewissenhaft gezeichnet und die Thematik lädt den Leser dazu ein, sich intensiv mit der Entwicklung zu beschäftigen. Nicht zuletzt das Seelenleben des Richters, der sich ununterbrochen nach der individuellen Verantwortung für sein Handeln fragt und objektiv keine Schuld bei sich finden kann, wird hier in allen Schattierungen wahrnehmbar.

Fazit

Sehr gern vergebe ich 5 Lesesterne für diesen besonders menschlichen Roman, dessen Protagonist genauso gerne Kaffee trinkt, wie Gedanken eruiert und sowohl privat als auch beruflich bereit ist, die Dinge ehrlich zu hinterfragen und sich offen, aber nicht schutzlos seinen Zweifeln aussetzt. Das große Plus dieser Erzählung ist neben der interessanten Gerichtsthematik und den Parallelen zu tatsächlichen Verbrechen das intensive Auseinandersetzen mit juristischer Entscheidungsfindung, die niemals losgelöst von dem jeweiligen Menschen geschehen kann, selbst wenn dieser sich verpflichtet hat, vorurteilsfrei und gesetzestreu zu entscheiden. Die Lektüre bietet sehr viele Ansatzpunkte für Diskussionen und führt den Leser zurück auf sein eigenes Selbstverständnis über die Unfehlbarkeit Einzelner in einer funktionierenden Gesellschaft, die großen Wert auf ihre Rechtssprechung legt. Vom Autor möchte ich sehr gerne ein weiteres Buch lesen und setze „Das Echo des Schweigens“ direkt auf meine Wunschliste.

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