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Veröffentlicht am 07.04.2017

Ist Liebe auch im Alter möglich?

Und jetzt lass uns tanzen
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Marguerite, 78 Jahre alt, und Marcel, 73 Jahre alt, begegnen sich bei einem Kuraufenthalt im Süden Frankreichs zum ersten Mal. Beide haben vor geraumer Zeit ihren Ehepartner verloren. Sie sind die Protagonisten ...

Marguerite, 78 Jahre alt, und Marcel, 73 Jahre alt, begegnen sich bei einem Kuraufenthalt im Süden Frankreichs zum ersten Mal. Beide haben vor geraumer Zeit ihren Ehepartner verloren. Sie sind die Protagonisten des Buchs „Und jetzt lass uns tanzen“ der Belgierin Karine Lambert. Nicht nur die zunehmenden großen und kleinen Zipperlein sondern auch die Leere in ihren Wohnungen gestalten ihr Leben wie einen Tanz auf dem Drahtseil. Die Figuren auf dem Cover des Romans nehmen den Leser auf direktem Weg mit hinein in die Geschichte. Für Marguerite und Marcel wird die gemeinsame Zeit zu einem Balanceakt auf schmalem Grat zwischen dem Bekenntnis zueinander und der Sorge ihrer Kinder über das entstandene Verhältnis.

Marguerite war mit ihrem Mann Henri über 50 Jahre verheiratet. Henri war einige Jahre älter als sie und ein angesehener Notar. Er ist unerwartet verstorben. Nach einem großen Schicksalsschlag in der Familie hat sie als junge Frau bei Henri Sicherheit, Beständigkeit und in gewissem Maße auch Wohlstand im Leben gefunden. Seine Entscheidungen hat sie nie in Frage gestellt. Ganz nach seinen Vorstellungen war sie das Schmuckstück an seiner Seite. Eigene Wünsche hat sie den seinen routinemäßig untergeordnet. Das Glück wurde von einem gemeinsamen Sohn ergänzt, der in die Fußstapfen des Vaters getreten ist.

Ganz anders ist das bisherige Leben von Marcel verlaufen. Der frühere Tierpfleger ist gebürtig aus Algerien und als Jugendlicher mit seinen Eltern während des Unabhängigkeitskampfs nach Frankreich geflüchtet. Begleitet wurden sie von der Nachbarsfamilie, die es aber eines Tages wieder in die Heimat zog. Doch sieben Jahre später kehrt Nora, die Tochter der Nachbar zu ihm zurück. Hier zeigt sich die Geschichte einer Flucht und Möglichkeiten eines Neuanfangs, wie sie heute nicht aktueller sein könnten. Marcel und Nora sind ebenfalls fast 50 Jahre verheiratet als Nora tragisch verstirbt. Marcels Tochter sorgt sich um ihren Vater und schenkt ihm eine Reise, auf der er Marguerite kennen lernen wird.

Marguerite und Marcel sind zwei sehr unterschiedliche Charaktere. Wären sie noch jung, würde wahrscheinlich auch der Altersunterschied deutlich sichtbarer sein. Außerdem kommen sie aus verschiedenen Gesellschaftsschichten. Marguerite wohnt im großzügigen Einfamilienhaus, Marcel lebt in einer Wohnung im 2. Stock eines Mietshauses. Aber sie haben auch eine große Gemeinsamkeit: Beide bringen Erfahrungen aus langen Ehejahren mit. An schöne Dinge erinnern sie sich gerne und wünschen sich, diese mit jemandem wieder erleben zu können. Andere Situationen möchten sie lieber vergessen und nie mehr daran denken. Nach ihrer ersten Begegnung brauchen beide eine gewisse Zeit um zu begreifen, welche Erfahrung sie da gerade gemacht haben. Marguerite ist gemeinsame Lachen aufgefallen, dass sie befreiend fand und Marcel war von ihrer Offenheit sehr angetan. Jeder verarbeitet das kurze Aufeinandertreffen auf seine Art und Weise mit allem Für und Wider einer weiteren Kontaktaufnahme. Doch eine Variable haben sie bei ihren weiteren Aktivitäten nicht berücksichtigt und das ist ihr Nachwuchs. Vor allem der Sohn von Marguerite, dem das Verhalten seines Vaters zu seiner Mutter ein Vorbild zu sein scheint, ist gegen eine neue Beziehung seiner Mutter zu einem Mann.

Karine Lambert schreibt in einem leicht lesbaren, einnehmenden, warmherzigen Schreibstil. Man kann gar nicht anders als die beiden Protagonisten zu mögen. Marguerite und Marcel zeigten mir als Leser, dass man auch mit fortgeschrittenem Alter noch viel Neues entdecken und erleben kann und das diese Erfahrungen gemeinsam noch mehr Freude machen können. Die Autorin schneidet in ihrer Geschichte auch das Thema der körperlichen Anziehungskraft zueinander an. Sie verschweigt nicht den Schmerz der Trauer um den Verlust des geliebten Menschen, der niemals ganz vergehen wird. Gleichzeitig zeigt sie einen Weg auf, damit umzugehen und auch die Trauer des neuen Partners zu respektieren, sowie sich gegenseitig zu stützen. Auch das Problem, seine Liebe erneut zu verlieren, wird von ihr thematisiert. In ihrer realistischen Darstellung der Beziehung gibt es nicht nur Verständnis füreinander, sondern auch Auseinandersetzungen.

Das Buch ist eine Liebesgeschichte der ganz besonderen Art, die zeigt, dass Liebe in jedem Alter möglich ist. Sie ist einfühlsam geschrieben und entbehrt nicht einer gewissen Heiterkeit, die mich immer wieder zum Schmunzeln brachte, wenn Marguerite und Marcel ihre Wünsche wahr werden ließen. Gerne empfehle ich diesen Roman weiter.

Veröffentlicht am 31.03.2017

Gelungener Debütroman

Fast eine Familie
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Ihr Hochzeitstag sollte einer der schönsten Tage des Lebens für Lolly und Will werden. Doch dann gegen sechs Uhr in der Früh explodiert das Haus in dem kleinen Ort Wells an der Ostküste der USA in dem ...

Ihr Hochzeitstag sollte einer der schönsten Tage des Lebens für Lolly und Will werden. Doch dann gegen sechs Uhr in der Früh explodiert das Haus in dem kleinen Ort Wells an der Ostküste der USA in dem sie schlafen und reißt sie in den Tod. Mit diesem fulminanten Anfang beginnt der Roman „Fast eine Familie“, dem Debüt des US-Amerikaners Bill Clegg. Fassungslos zurück bleibt June, die Mutter der Braut, die nicht im Haus war. Außer dem jungen Paar verliert sie ihren Ex-Mann und ihren Lebensgefährten bei dem Unglück. June lässt das Geschehen immer wieder Revue passieren. Die innere Leere lähmt sie, diese Tiefe des Abgrunds der Einsamkeit der sich vor ihr auftut konnte ich nachempfinden. Deutete das Cover noch eher auf eine beschauliche Geschichte hin, bereitete der Klappentext mich bereits auf das entsetzliche Ereignis vor und die sichtbaren dunklen Wolken am Himmel auf dem Titelbild deuten das Unheil an.

Mit dem Brand des Wohnhauses endet für zwei junge Leute eine gemeinsame Zukunft als Familie, die noch gar nicht begonnen hat. Anstelle des Brautpaars stehen im Mittelpunkt der Erzählung diejenigen, die durch das Unglück wohl am meisten Leid erfahren, die Mütter. Einerseits ist es June, andererseits Lydia, die Mutter von Junes Lebensgefährten Luke. Der Autor erzählt aus unterschiedlichen Erzählperspektiven mal als auktorialer Erzähler wie bei June und Lydia, mal lässt er die Figur selbst zu Wort kommen. Es sind die Personen, die June und Lydia und deren Kinder sowie Will gekannt haben, die jeweils mit ihrer Geschichte einen weiteren Puzzlestein dazu liefern, das Geschehen vor und nach der Tragödie zu einem Großen und Ganzen zu ergänzen.

Von Beginn an fragte ich mich, was der Auslöser für die Explosion war. Im Laufe des Lesens trat die Frage immer mehr in den Hintergrund, die Erzählung wendete sich mehr der Beziehung zwischen June und Luke zu. Luke schien Zeit seines Lebens durch seine Herkunft, sein Äußeres und seinen gutwilligen Gemüt dazu prädestiniert, der Schuldige zu sein. Auch nach dem Brand wird er ohne weitere Gründe von den Bewohnern der Ortschaft zum Täter erklärt.

Auf eindrucksvoll empfindsame Weise zeichnet der Autor ganz nebenbei das Miteinander in einer Kleinstadt an der Ostküste, das verbunden ist mit seinen Bewohnern von denen sich in der Regel die meisten einander kennen. Doch gerade in Wells hat sich in den letzten Jahrzenten die Bevölkerungsstruktur geändert und ein großer Teil der Häuser wird von Touristen und Besitzern nur noch am Wochenende bewohnt. Dadurch ist die Zahl der Bediensteten gestiegen, die besserverdienenden Hauseigentümer bevorzugen das Leben in der Großstadt. Ein Überschreiten der Grenze zwischen Eigentümer und Angestelltem wie bei Luke und June wird kritisch gesehen.

June wendet dem Dorf verständnislos den Rücken und fährt mit ihrem Auto bis an die Westküste zu einem Motel. Dort findet sie zunächst den benötigten Abstand, aber auch eine ungewöhnliche Form der Hilfe, die mir während des Lesens die Hoffnung darauf gab, dass June aus ihrer Starre herausfinden und es für sie einen Neuanfang geben wird. Gegenüber dem Dorfgefüge steht das Motel direkt am Meer der Westküste als Kleinkosmos mit seiner beschränkten, aber ständig wechselnden Zahl an Gästen. Hier scheinen Wünsche in Erfüllung zu gehen, alles ist möglich, dazu gehört aber auch Enttäuschung. Allein durch ihren anhaltenden Aufenthalt gewinnt June Aufmerksamkeit in dieser Umgebung.

Bill Clegg erzählt in keiner zeitlichen Reihenfolge. Seine Figuren schildern jeweils ihren Teil der Geschichte, der meistens nicht direkt mit dem Unglück zusammenhängt. Jeder hat schon Bedeutsames erlebt und so wird aus fast jedem Kapitel eine Short Story. Dabei bin ich vielen interessanten Charakteren begegnet, erfuhr wie sie die Liebe ihres Lebens kennengelernt und ihren Platz im Leben gefunden haben.

Der Autor gibt die Hoffnung mit, dass es sie gibt, die aufmerksamen Menschen auf die man zu ungeahnter Zeit an unvermutetem Ort trifft und die uneigennützig beherzt dort helfen wo sie Handlungsbedarf sehen. „Fast eine Familie“ ist ein Buch mit großen Emotionen, sehr einfühlsam geschrieben und ergreifend. Ein gelungener Debütroman dem ich gerne eine Leseempfehlung gebe.

Veröffentlicht am 29.03.2017

Eine Geschichte zwischen Realität und Fiktion

Der Club
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„Der Club“ ist der Debütroman von Takis Würger. Mit dem Titel ist ein elitärer Club für männliche Studenten der Universität in Cambridge gemeint. Die Ausstattung des Romans im Leinengewand in clubähnlichen ...

„Der Club“ ist der Debütroman von Takis Würger. Mit dem Titel ist ein elitärer Club für männliche Studenten der Universität in Cambridge gemeint. Die Ausstattung des Romans im Leinengewand in clubähnlichen Farben vermittelt dem Leser ein entsprechend auserlesenes Gefühl. Bei seiner Geburt in Niedersachsen ahnt noch niemand, dass Hans, der Protagonist des Buches, einmal zu diesem angesehenen Club gehören wird.

Hans ist ein ruhiges Kind, das möglichst jeden Trubel meidet und hervorragend beobachten kann. Nach einem Zwischenfall in der Schule meldet sein Vater ihn zum Boxtraining an. Er fährt ihn zu jeder Veranstaltung und verstirbt auf der Fahrt zu einem Turnier als Hans 15 Jahre alt ist. Wenige Monate später verliert er auch seine Mutter. Nachdem er bis zum Abitur in einem Internat gelebt hat, besorgt ihm seine in England wohnende und in Cambridge dozierende Tante ein Stipendium und einen Studienplatz an eben dieser Universität, allerdings mit der Bedingung, dass Hans ihr helfen soll ein Verbrechen aufzuklären. Nach einiger Überlegung ist er dazu bereit, obwohl er die Art der begangenen Straftat nicht kennt. Mit Hilfe von Charlotte, einer Doktorandin seiner Tante, wird er Mitglied im Pitt Club, dem nur Auserwählte beitreten dürfen. Was Hans dort sieht und erlebt entspricht nicht seinen Wertvorstellungen und immer wieder stellt er sich die Frage, ob der Weg richtig ist den er eingeschlagen hat.

Die Mutter von Hans ist bereits vor der Schwangerschaft mit ihm an Krebs erkrankt. Vielleicht ist es diese Tatsache die ihm jede Menge Respekt vor dem Leben und dem Leiden eines Menschen mit auf seinen Weg gibt. Er hat eine stoische Art sein Schicksal zu akzeptieren, doch weil seine englische Tante ihm nicht anbietet, ihn aufzunehmen, bleibt ihm kaum eine andere Wahlmöglichkeit außer dem Internat. Zum Glück findet er hier Gelegenheit zum Boxen, denn dieser Sport verhilft ihm nicht nur zu Kraft sondern sorgt auch dafür, dass er seine Gedanken konzentrieren und seine Gefühle kanalisieren kann. Takis Würger schreibt hierbei aus eigener Erfahrung und seine Begeisterung für den Sport ist im Geschriebenen erkennbar.

Doch in Hans spiegelt sich der Autor selbst nicht wieder. Ganz bewusst ist sein Protagonist im Vergleich eher klein, der Autor aber genau das Gegenteil. Nach den Ereignissen, die Takis Würger selbst als Mitglied im Pitt Club erlebte, kann ich verstehen, dass Hans nicht sein Alter-Ego sein soll. Unscheinbar soll Hans sein und dadurch ein bedeutungsloses Mitglied, wenn er denn unbedingt seiner Tante den Gefallen zu erfüllen hat. Erschreckend sind die eigenen Erfahrungen des Autors im Club, die er in die Handlungen seiner fiktiven Figuren einfließen lässt, doch sie stachelten meine Neugier an, darüber zu lesen und herauszufinden um welches Verbrechen es sich handelt, dass der Protagonist aufklären soll.

Für Hans ist die Zeit in Cambridge wichtig, um zu erkennen, wie weit er gehen kann, um ein Ziel zu erreichen. Takis Würger spielt mit unterschiedlichen Erzählperspektiven in seinem Roman, eine davon ist natürlich Hans, der seine Erlebnisse in der Ich-Form schildert. Auf diese Weise ist es auch möglich an seiner Gewissensbildung durch innere Auseinandersetzungen teilzuhaben.

„Der Club“ ist tiefgründig, geistreich und spannend geschrieben ohne zu moralisieren, obwohl er durchaus ein Plädoyer für ein faires Miteinander der Geschlechter und Gesellschaftsschichten ist. Mir hat das Buch sehr gut gefallen und gerne gebe ich hierfür eine Leseempfehlung.

Veröffentlicht am 22.03.2017

Einfühlsam geschrieben mit einigen überraschenden Wendungen

Luana
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Ein Brief aus Brasilien löst bei André Caraval, Mitte 40 und Allgemeinmediziner in London, Erinnerungen an seine Jugend in Rio de Janeiro aus. Doch bereits seit Monaten träumt er von der Absenderin Luana, ...

Ein Brief aus Brasilien löst bei André Caraval, Mitte 40 und Allgemeinmediziner in London, Erinnerungen an seine Jugend in Rio de Janeiro aus. Doch bereits seit Monaten träumt er von der Absenderin Luana, dem früheren Dienstmädchen der Familie. In seinen Träumen ist sie für ihn unerreichbar.

Im gleichnamigen Roman konfrontiert Luiza Sauma gleich zu Beginn den Leser damit, dass André etwas in seinem Inneren ganz tief verborgen hat. Der Brief bringt Gefühle in ihm an einen langen heißen brasilianischen Sommer an die Oberfläche. Es war 1985 kurz nach dem Tod seiner Mutter und das Jahr in dem er seinen schulischen Abschluss gemacht hat. Luana war in diesem Sommer 16 Jahre alt. Schon das Titelbild in schwarz-weiß führt den Leser in der Zeit zurück. Das Cover zeigt eine junge Frau, die am Fenster Abkühlung im leichten Windzug sucht und offenbart dabei auf den zweiten Blick erkennbare Intimität, die eine zweite anwesende Person in der Szene erwarten lässt.

Andrés Familie ist wohlsituiert und beschäftigt ihrem Stand entsprechend ein Dienstmädchen. Luanas Mutter ist in dieser Rolle der Familie von André seit vielen Jahren verbunden. Seit einiger Zeit wird sie durch ihre Tochter unterstützt. Der Vater von André ist als Chirurg bis spät abends beschäftigt. André und sein zehn Jahre jüngerer Bruder sind also, nachdem die Mutter verstorben ist, häufig mit den beiden Bediensteten zu Hause allein. Luanas Haut lässt vermuten, dass ihr Vater ein Weißer ist, doch näheres erfährt sie nicht von ihrer Mutter.

Sie ist anmutig und hübsch, ihrem Charme kann André sich nicht gänzlich entziehen. Aus der Sicht eines heute verheirateten, aber seit kurzem getrennt lebenden Manns mit zwei Kindern blickt er auf die Ereignisse Mitte der 1980er Jahre zurück. Mag der räumliche Abstand von seiner Heimat es ihm ermöglicht haben, das damalige Geschehen auszublenden, vergessen hat er es nicht. Jetzt beginnt er seine eigene Handlungsweise zu hinterfragen und aufzuarbeiten.

Obwohl ein Dienstmädchen möglichst präsent im Haushalt ihres Dienstherrn zu sein hatte, war ihr Platz grundsätzlich in der Küche oder dem eigenen kleinen Zimmer im Haus, wo sie Essen oder einer Beschäftigung außerhalb des Haushalts nachgehen konnte. Ihre Lebenswege scheinen auf diese Weise vorgezeichnet zu sein. Doch wenn er mit Luana allein ist, weichen die Grenzen zwischen ihnen zurück. In seinen Schilderungen kommt zum Ausdruck, dass er seine Mutter sehr stark vermisst. In der Wohnung bleibt alles an seinem Platz, vieles muss ihn an sie erinnern. Vielleicht ist es die Suche nach Geborgenheit, die er bei dem jungen Dienstmädchen zu finden hofft. Vielleicht ist es aufgrund der fehlenden Vaterfigur die Suche nach männlicher Stärke von der Luana André entgegen getrieben wird.

Luiza Sauma nähert sich dem alles ändernden, entscheidenden Zeitpunkt im Leben von André eher vorsichtig, aber äußerst offen, aus der Perspektive des inzwischen erwachsenen André in der Ich-Form erzählt. Sein Verhalten wird neben dem Unfalltod der Mutter auch beeinflusst von den Anforderungen des Vaters an ihn, den Erwartungen seiner Freunde und dem in der Gruppe üblichen Alkohol und Drogenkonsum gegen die endlose Langeweile der Kinder reicher Eltern. Der Sommer 1985 ist für beide Protagonisten eine wichtige Zeit in der ihnen die Gestaltung ihrer Zukunft offen stehen sollte. Aber für beide existieren aus unterschiedlichen Gründen Einschränkungen und Alternativen fehlen.

Die Autorin schreibt in einem leicht lesbaren Schreibstil in den sie einige portugiesische Wörter eingeflochten hat, die die Gestaltung des Umfelds abrunden. Die Kenntnis der Gegebenheiten in ihrem Geburtsort Rio de Janeiro lässt die Geschichte glaubhaft und real erscheinen. Während ich glaubte, die Hitze des Sommers zu spüren und die Luft flirren zu hören, habe ich ganz nebenbei auch einiges von der Lebensweise der Brasilianer in Ipanema erfahren können. Durch die Briefe Luanas konnte ich mir bereits einige Vorstellungen davon machen, was damals passiert ist. Doch meine Vermutungen reichten nicht daran heran, was wirklich geschah. Über allem liegt ein geheimnisvoller Schleier, der ein gewisses Spannungselement in den Roman einbringt und erst sehr spät gelüftet wird.

„Luana“ ist ein einfühlsam geschriebener Roman mit einigen überraschenden Wendungen über die gesellschaftliche Stellung durch Geburt, die Auswirkung des Vertuschens von Verfehlungen und der Unmöglichkeit der Korrektur verpasster Möglichkeiten. Im Vordergrund steht jedoch immer die Liebe zum Leben. Mir hat das Buch sehr gut gefallen und daher empfehle ich es gerne weiter.

Veröffentlicht am 21.03.2017

Must-Read für Carl Morck-Fans

Selfies
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Im mittlerweile siebten Fall für das in Kopenhagen beheimatete Sonderdezernat Q unter der Leitung von Carl Morck geht es auch um „Selfies“ wie der gleichnamige Titel schon sagt, aber nur am Rande. Einen ...


Im mittlerweile siebten Fall für das in Kopenhagen beheimatete Sonderdezernat Q unter der Leitung von Carl Morck geht es auch um „Selfies“ wie der gleichnamige Titel schon sagt, aber nur am Rande. Einen wesentlich größeren Platz im Buch nehmen diesmal die Väter ein. Ihr Verhalten kann ihre Kinder in bedeutender Weise mit nachhaltigen Folgen beeinflussen. Wenn die Söhne oder Töchter keinen Ausweg mehr sehen, sich dem Einfluss zu entziehen, wenn also alle Stricke reißen wie es auf dem Cover angedeutet wird, dann sind ungeahnte Handlungen überaus wahrscheinlich. Doch dazu möchte ich nicht zu viel verraten.

Bevor die Ermittlungen des Sonderdezernats Q im Mai 2016 zum aktuellen Fall beginnen, nimmt Jussi Adler Olsen im Prolog den Leser mit ins Jahr 1995 und ich lernte Dorrit, ihre Mutter, ihre Oma und den nationalsozialistisch eingestellten Großvater kennen, die später eine große Rolle spielen werden. In 2016 begegnete ich Dorrit wieder, war aber verwundert, dass sie sich inzwischen in Denise umbenannt hat. Sie lebt von der Sozialhilfe und lernt auf dem Sozialamt Michelle und Jazmine kennen, die etwa so alt sind wie sie selbst und sich ebenso gerne wie Denise aufbrezeln und von Männern aushalten lassen. Ihr Ziel ist es, talentlos berühmt zu werden. Doch die Sachbearbeiterin des Amts meint es nicht gut mit ihnen. Die Antipathie ist auf beiden Seiten gleich groß.

Im Moment versuchen Carl Morck und sein Team einen länger zurückliegenden Fall zu lösen, bei dem eine junge Lehrerin hinterrücks erschlagen wurde. Der Fall hat große Ähnlichkeit mit einem aktuellen bei dem eine ältere Frau, die Großmutter von Denise, auf die gleiche Weise ums Leben gekommen ist. Rose geht es zu dieser Zeit nicht gut. Ein Rüffel von Carl bringt einen Widerstand gegen Autorität in ihr zum Klingen, der sie aus der Bahn wirft. Erst wünscht sie sich wieder wie eine ihrer Schwestern zu sein, doch die Depression wächst sich weiter aus und nimmt verstörende Züge an, die das Team des Sonderdezernats veranlassen, sich auf die Suche nach Roses Vergangenheit zu begeben. Dann wird Michelle, inzwischen eine Freundin von Denise, von einem Auto überfahren und es sieht so aus, als ob es sich um eine vorsätzliche Tat handelt.

„Selfies“ hat mir sehr gut gefallen, besser als die letzten beiden Serienteile. Warum ist das so? Einerseits liegt es sicher an meiner Neugier mehr über die Vergangenheit der dubiosen Charaktere aus dem Team von Carl Morck zu erfahren, die der Autor über die letzten Fälle hinweg aufgebaut hat und die nun in wenigstens einem Fall befriedigt wurde. Andererseits sind die Täter und Opfer diesmal Personen, die jeder aus dem Alltag kennt, vielleicht etwas überzeichnet, aber durchaus realistisch.

Außerdem verbindet der Thriller wieder einen Fall aus der Vergangenheit mit der Gegenwart, es sind Ähnlichkeiten und Unterschiede heraus zu arbeiten. Auf der Dienststelle gibt es für das Q-Team eine neue Variante durch die ihre Ermittlungsarbeit gestört wird. Vor allem aber verwebt Jussi Adler Olsen wieder mehrere Fälle in einer sehr interessanten komplexen Weise, die einfach Spaß zu lesen macht. Mit Denise und ihren Freundinnen sowie der Sachbearbeiterin vom Sozialamt schafft der Autor Charaktere, die man eigentlich nicht mögen will, die einem aber auch irgendwie leid tun. Ich konnte mich diesem Spiel mit Gut und Böse nicht entziehen.

Die Spannung kommt bei diesem Thriller eher leise daher, nimmt dann an Fahrt zu und hält bis zum Ende seinen Spannungsbogen. Die Geschichte spielt zwei Jahre nach dem sechsten Ermittlungsfall. Das Buch ist auch diesmal wieder in sich abgeschlossen, eine Kenntnis der vorherigen Fälle ist nicht nötig. Allerdings wird aus dem bisherigen Privatleben der Ermittler wenig wiederholt und die Relevanz der Kenntnis von Roses Vergangenheit kann nicht so gut eingeschätzt werden.

In den Dialogen mit Carls Assistenten Assad kommt es wieder zu dem besonderen Wortwitz aufgrund der Auslegung bestimmter Wörter. Doch die Reaktion von Assad auf die Korrekturen durch Carl deuten wie auch einige andere kurze Einwürfe an, dass es in seinem Leben noch einiges Unbekanntes gibt, der Stoff im nächsten Serienteil sein wird, wird schon zu erfahren war. Darauf freue ich mich schon.

Der siebte Fall für das Sonderdezernat Q hat mich spannungsmäßig gefesselt und vom Aufbau her überzeugt. „Selfies“ isst definitiv eine Empfehlung wert und für Carl Morck Fans ein absolutes „Must-Read“.