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Veröffentlicht am 11.07.2021

Schuld, Sühne und eine Nacht mit tragischen Folgen

Von hier bis zum Anfang
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2021 hat sich bisher als gutes Bücherjahr erwiesen - und mit Chris Whitakers Roman "Von hier bis zum Anfang" habe ich gerade ein weiteres Buch mit Wow-Effekt beendet, das sicher noch eine ganze Weile nachhallen ...

2021 hat sich bisher als gutes Bücherjahr erwiesen - und mit Chris Whitakers Roman "Von hier bis zum Anfang" habe ich gerade ein weiteres Buch mit Wow-Effekt beendet, das sicher noch eine ganze Weile nachhallen wird. Das liegt an zwei Gründen - an Whitakers Schreibstil, der manchmal klingt wie aus einem Chandler-Roman der Noir Serie ("Wenn Häuser Seelen hätten, wäre das von Star so schwarz wie eine Dezembernacht"), manchmal sowohl spröde als auch poetisch schreibt. Und an einer der Protagonistinnen, der 13-jährigen Duchess. Das Mädchen, das nicht weint und sich als Outlaw sieht, das sich nichts gefallen lässt und liebevoll den kleinen Bruder Robin umsorgt, da die alleinerziehende Mutter Star der beiden ihr Leben nicht in den Griff bekommt.

Das Unglück der Familie hat eine Vorgeschichte: Als Star 15 war, starb ihre kleine Schwester. Verantwortlich für den Tod ist Stars damaliger Freund Vincent - und auch wenn es sich um einen tragischen Unfall handelte, den er selbst gar nicht bemerkt hatte kommt der 15jährige in ein Gefängnis mit lauter erwachsenen Straftätern. Es war eine Nacht, so heißt es später in dem Buch, in der "eine Million Tragödien ihren Anfang genommen" haben - wie sehr sie auch eine Generation später nachwirken, wird gerade an Star mit ihren Alkoholproblemen, Depressionen und Selbstmordversuchen deutlich.

Nun wird Vincent nach 30 Jahren entlassen. Der einzige, der sich während all der Jahre um Kontakt bemühte, ist sein Walk, der Polizist der fiktiven kalifornischen Kleinstadt. Er war Vincents bester Freund - und hat doch die Polizei verständigt, als ihm klar wurde, dass sein Freund verantwortlich für den Tod der kleinen Sissy war. Für Duchess und Robin ist er die positive männliche Figur in ihrem Leben, der versucht, ein bißchen Stabilität zu schaffen.

Vincents Entlassung aus dem Gefängnis bringt das Gefüge der Kleinstadt durcheinander. Und als Star erschossen aufgefunden wird, wird Vincent als Tatverdächtiger verhaftet, ihm droht die Todesstrafe. Der kleine Robin hat den Täter möglicherweise gesehen, doch der schwer traumatisierte Junge leidet unter Gedächtnisverlust. Während Duchess und Robin zu ihrem Großvater nach Montana kommen, den sie nie zuvor gesehen haben, glaubt Walk als einziger an die Unschuld Vincents und versucht zusammen mit dessen Anwältin, Beweise zu finden, dass Vincent die Tat nicht begangen haben kann.

Hier splitten sich die Handlungsstränge auf - Walks Detektivarbeit auf der einen Seite, während gesundheitliche Probleme ihm die Arbeit immer mehr erschweren, das Leben von Duchess und Robin bei ihre Großvater auf der anderen Seite. Während Duchess ihrem Großvater voller Misstrauen begegnet, ihn ständig zu schockieren versucht und noch nicht mal Essen von ihm annehmen will, blüht Robin auf der Ranch, auf der er die Hühner versorgen darf, auf.

Doch gerade, als Duchess und ihr Großvater vorsichtige Schritte aufeinander zumachen können, kommt es zu einem weiteren Schicksalsschlag, die Geschwister enden in einer Pflegefamilie und Duchess, die überall aneckt und keiner Konfrontation aus dem Weg geht, merkt, dass die Chancen auf eine Adoption für Robin verschwindend gering sind, wenn sie bei ihm bleibt. Zugleich fühlt sie sich immer mehr getrieben, der Outlaw-Vergangenheit ihrer Vorfahren zu folgen und Rache für den Tod ihrer Mutter zu üben.

"Sie wusste, dass die Sehnsucht nach Rache manchmal alles Gute auffressen konnte, das einst in einem Menschen gesteckt hatte. Nur Walk hielt sie davon ab, etwas Dummes zu tun. Er war ihre Verbindung zum Guten, er ließ sie in die Zukunft schauen, nicht auf die Gegenwart. Walk erinnerte sie daran, dass Menschen gut sein konnten."

Dabei wird auch Walk zunehmend aufgerieben zwischen den Tragödien um ihn herum und den Kampf gegen seine Parkinso-Krankheit, die er irgendwann nicht länger verschweigen kann. Gerade weil Whitaker seine Protagonisten so erfolgreich ins Leser-Herz schreibt, ist es so quälend, ihre innere und äußere Zerstörung zu beobachten.

"Wenn Walk schon vorher ein gebrochener Mann gewesen war, dann waren die Einzelteile durch die Ereignisse in Montana jetzt so weiträumig versprengt, dass er die Hoffnung aufgab, jemals wieder ein ganzer Mensch zu werden."

Im Original heißt das Buch "we begin at the end", ein Satz, den Duchess immer wieder von ihrem Großvater hört - seine Hoffnung, dass es am Ende einer Serie schlimmer Erfahrungen etwas Versöhnliches geben kann. Wie sehr ein Ereignis eine ganze Lawine von Folgen auslösem kann, zeigt dieses Buch, das genremäßig schwer einzuordnen ist - Krimi, Spätwestern, Comin of Age-Geschichte? Auf jeden Fall aber ein Buch, dass ohne Gefühlsduselei Emotionen weckt, geschrieben in einer poetisch-spröden Sprache und mit Protagonisten, die auch nach der letzten Seite nachwirken..

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Veröffentlicht am 09.07.2021

Angst ist das beste Gift

Das perfekte Gift
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Nur in James Bond-Filmen ist die Welt der Agenten stylish, elegant und spektakulär, möglicherweise sogar mit Begriffen von Gut und Böse arbeitend. In den Romanen eines John Le Carré kommt das Milieu der ...

Nur in James Bond-Filmen ist die Welt der Agenten stylish, elegant und spektakulär, möglicherweise sogar mit Begriffen von Gut und Böse arbeitend. In den Romanen eines John Le Carré kommt das Milieu der Schlapphüte schon wesentlich desillusionierter daher und es ist wohl kein Zufall, dass happy ends in seinen Büchern eine Seltenheit sind. Sergej Lebedew hat mit seinem Roman "Das perfekte Gift" die Welt der Gegenspieler des "Circus" in den Mittelpunkt gestellt.

Auch wenn es sich nicht um einen klassischen Agententhriller handelt, geht es um die Geheimdienste und ihre Diener - seien es Wissenschaftler, die sich in den Dienst des Systems stellen, seien es die Vollstrecker und Folterknechte, die für die "wet operations" zuständig sind. In diesem Buch sind die wahren Killer allerdings klein, unscheinbar und aus den geheimen Forschungslaboren entnommen.

Lebedew zeigt in seinem mit 263 Seiten eher schlanken Roman den langen Schatten Stalins, doch zugleich hat er mit Giftmorden ein Thema voller Aktualität gewählt - man denke nur an Litwineko, Poroshenko, Nawalny usw.

Gleich zu Beginn des Buches erwischt es den Überläufer Wyrin. Der hat sich bislang erfolgreich verborgen mit einer Biographie, "die Meister der Lüge für ihn erdacht hatten" - nicht nur mit einem neuen Gesicht, sondern mit einer anderen Sprache, anderen Gewohnheiten, ja selbst die Träume, so schreibt Lebedew, waren andere. Nur die Allergie gegen Insektenstiche ist geblieben. Und als ihm bei einem Restaurantbesuch Wespengift verabreicht wird, ist der einzige Patzer in Vorgehen der Killer, dass der sterbende Wyrin einem Kellner noch zuflüstern kann, dies sei Mord.

Die westlichen Geheimdienste brauchen Beweise - und wer weiß mehr über die geheimen Stoffe als einer ihrer Väter, der Chemiker Kalitin, der sich vor Jahren ebenfalls in den Westen abgesetzt hat und untergetaucht ist. Seine einstigen Oberen schicken zwei Agenten aus, die Kalitin endgültig zum Schweigen bringen sollen. In seinem Roman lässt Lebedew die Handlung zwischen Kalitin und dem KGB-Oberstleutnant Schernjow und der Vergangenheit beider Männer wechsel. Führte Kalitin seit seiner Kindheit während des Stalinismus ein geradezu behüteten Leben in einer abgeschlossenen, geheimen Stadt, ist Schernjow schon immer ein Mann für die blutige Arbeit gewesen, der bei Verhören seiner eigenen Lust an der Gewalt nachgehen konnte. Doch auch Kalitin hat Blut an den Händen, wurden doch für seine Forschung an biochemischen Stoffen Experimente an Gefangenen durchgeführt. Die "Gliederpuppen" wurden diese Todeskandidaten in den Protokollen genannt.

Die Welt in Lebedews Roman ist eine voller Paranoia: Die Jäger wissen nie, ob ein politischer Richtungswechsel nicht auch sie zu Gejagten macht, ob der Kollege nicht eigentlich derjenige ist, der sie bespitzeln, Zweifel säen soll. Kein Wunder, dass ihr ganzes Verhalten auf die ewige Furcht vor Verrat ausgerichtet, ihre Existenz gewissermaßen selbst vergiftet ist: "Aber ihre spezifische Sprache - ausgeklügelt und voller berufsmäßiger Euphemismen - ermöglichte es ihnen, Sätze nicht zu Ende zu sprechen und so zu konstruieren, dass sie sowohl als Gewissheit wie auch als Zweifel ausgelegt werden konnten ." Denn man weiß ja nie....

Der Chemiker Kalitin hat sich der Welt der Geheimnisse entzogen, hütet nur noch das eigene. Doch er weiß - was in den geheimen Laboren ersonnen wurde, ist immer noch tödliches Wissen, das jederzeit reaktiviert werden kann, "wenn schon die gute alte Jagd auf Menschen neu begonnen hatte". Der Chemiker kann die Zeichen lesen, wenn seine Stoffe und die seiner Kollegen wieder in Aktion treten, "Weit verstreut hinterließen sie unerklärliche Todesfälle, nachgewiesene Attentate,Unfälle"

Und der Wissenschaftler, anders als seine Häscher nicht von der Liebe zur rohen Gewalt angetrieben, kann über das System und seine Rolle darin ganz anders reflektieren als Schernjow, der nur darüber nachdenkt, ob sein Co-Agent ihn beobachten soll und heimlich Berichte über ihn anfertigt.

"Kalitin wusste, dass er nicht nur einfache, in Ampullen verpackte Mordwaffen erzeugt hatte. Er hatte Angst erzeugt. Ihm gefiel der paradoxe, aber einleuchtende Gedanke, dass Angst das beste Gift ist. Die beste Vergiftung ist jene, bei der sich jemand selbst vergiftet."

Wird der "Debütant", der tödliche Stoff, den Kalitin mit ins Exil nahm und der seine eigene Ehefrau bei einem Experiment tötete, die Besitzer wechseln oder gar für einen Anschlag eingesetzt? Kann sich Kalitin seinen Häschern entziehen, die vom Wetter über Autoprobleme bis hin zu Magenproblemen aeine Mission voller Widerstände erleben? Und welche Rolle spielt der Landpfarrer, der immer wieder das Gespräch mit Kalitin sucht?

"Das perfekte Gift" ist düster und voll vergifteter Atmosphäre mit allgegenwärtiger Paranoia. Dabei gelingt es Lebedew, nachvollziehbar zu erzählen, wie Wissenschafler sich in den Dienst von Zerstörung und tödlicher Forschung stellten und wissenschaftliche Neugier und Forschungsgeist ihre Unschuld verlieren. Sein Buch ist ausgesprochen spannend zu lesen. Wer Le Carrés Romane und Dürrenmatts "Physiker" mag, wird auch "das perfekte Gift" genießen.

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Veröffentlicht am 06.07.2021

Schachtalent zwischen Genie und Abgrund

Das Damengambit
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Nein, das ist nicht das Buch zur Serie. Walter Trevis, der Autor von "Damengambit", starb im Jahr 1984. Den Erfolg seines Romans als Netflix-Serie hat er, ebenso wie Netflix, Streaming, Serienbinging ...

Nein, das ist nicht das Buch zur Serie. Walter Trevis, der Autor von "Damengambit", starb im Jahr 1984. Den Erfolg seines Romans als Netflix-Serie hat er, ebenso wie Netflix, Streaming, Serienbinging und andere Erscheinungen des 21. Jahrhunderts nicht mehr erlebt. Mit seiner Hauptfigur Beth Harmon hatte er allerdings einiges gemeinsam: die Liebe zum Schach und das Suchtverhalten. Kann er gerade deshalb so nahe herankommen mit seinem Blick auf selbstzerstörerisches Verhalten, auf Pillenkonsum und Alkohol zum Frühstück?

Wer Damengambit liest, ist sicherlich im Vorteil, wenn er oder sie wenigstens Grundkenntnisse im Schachspielen hat. Ich weiß vom Spiel der Könige gerade mal so viel, dass die Dame die wichtigste Figur ist und sich auch Bauern, Türme, Springer und ein König auf dem Brett tummeln. Nein, Ahnung haben sieht anders aus.

Doch auch, wenn sich mir die Raffinesse von Schachduellen somit leider nicht voll erschließen kann, habe ich "Damengambit" sehr gerne gelesen. Denn mit Beth Harmon hat das Buch eine Protagonistin zwischen Genie und Abgrund, mit einer berührenden Geschichte und unglaublichem Ehrgeiz. Wie leicht könnte ein Autor hier in Kitsch abgleiten mit der Geschichte eines Waisenkindes, mit Pillen ruhiggestellt, das beim Hausmeister im Keller des Waisenhauses zum ersten Mal ein Schachbrett sieht und sofort von dem Spiel fasziniert ist.

Geradezu spröde, ohne jede Gefühlsduselei beschreibt Trevis den tristen Alltag im Heim, das viel zu frühe Wohlgefallen an den Pillen, die zwar irgendwann mal von den Behörden verboten werden, auf die Beth aber mittlerweile nicht mehr verzichten will. Als sie im Alter von zwölf Jahren adoptiert wird, hat das Mädchen aus Kentucky gerade mal an der örtlichen high School gespielt, doch als ihre Adoptivmutter merkt, dass Schachturniere auch erhebliche Preisgelder einbringen können, unterstützt sie Beth´s Ambitionen.

Doch so obsessiv die Begeisterung von Beth für das Schachspiel ist, so obsessiv ist auch ihr Umgang mit Beruhigungsmitteln und Alkohol. Zerstört sie ihr Potential, ehe sie es überhaupt entwickeln kann? Kann sie dem intuitiven Zugang zum Spiel eine Tiefe hinzufügen, die sie bei Begegnungen mit den Großmeistern des Spiels braucht, ganz besonders den Russen? Das amerikanische Schachtalent ist in Zeiten des Kalten Krieges plötzlich selbst eine Figur auf dem Brett der Großmächte - dabei will sie doch nur Schach spielen.

Autor Trevis schafft es, bei Beschreibung von Schachpartien und der Vorbereitung Beths auf Turniere die Partien so zu beschreiben, dass auch Schachlaien in das Spiel gezogen werden. Intelligenz, mentale Stärke und Kampfgeist machen die Begegnungen zu echten Duellen voller Spannung. Mir ist es jedenfalls schwer gefallen, das Buch aus der Hand zu legen.

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Veröffentlicht am 04.07.2021

Ein Kaleidoskop voller Schmerz und Suche nach Versöhnung

Apeirogon
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Der Autor selbst spricht von einem Hybrid-Roman. Mehr als 1000 Kapitel, die manchmal nur ein Gedankensprengsel, ein Satz sind. "Apeirogon" vom Colum McCann ist ein Kaleidoskop des Nahostkonflikts, der ...

Der Autor selbst spricht von einem Hybrid-Roman. Mehr als 1000 Kapitel, die manchmal nur ein Gedankensprengsel, ein Satz sind. "Apeirogon" vom Colum McCann ist ein Kaleidoskop des Nahostkonflikts, der verschiedenen Lebenswelten in Israel, ganz abhängig davon, in welche Religion, ethnische Gruppe, Region jemand hineingeboren wurde. Und dennoch gibt es diese enorme, lebenserschütternder Gemeinsamkeit, die der Palästinenser Bassam, geboren in einer Höhle bei Hebron, und Rami - väterlicherseits Sohn eines ungarischen Holocaust-Überlebenden, müttericherseits Jerusalemer in der siebten Generation, miteinander teilen: Sie sind verwaiste Eltern, jeder von ihnen hat eine Tochter gewaltsam verloren. Ramis Tochter Smadar starb im Alter von 13 Jahren in einer Jerusalemer Einkaufsstraße, als sich drei Selbstmordattentäter in die Luft sprengten. Abir, die zehnjährige Tochter Bassams, wurde von dem Gummigeschoss eines israelischen Soldaten in den Schädel getroffen, als sie sich in der Schulpause im Laden gegenüber Süßigkeiten kaufte.

So sehr McCann verändert, hinzugefügt, fiktive Szenen geschaffen und eigene Gedanken hinzugefügt hat: Die Geschichten von Abir und Smadar sind wahr, die Freundschaft ihrer Väter, buchstäblich in Schmerz und Trauer geboren, ebenso. Bassam hatte sieben Jahre in einem israelischen Gefängnis gesessen, weil er alte Handgranaten auf israelische Militärfahrzeuge geworfen hatte. Da war er 17. Die Erfahrung von Misshandlungen und Gewalt verstärkte nur den noch vorhandenen Hass. Als er eine Dokumentation über den Holocaust sah, konnte er erstmals das Leid erkennen, dass vor der Staatsgründung Israels gelegen hatte. Rami war nach Smadars Tod nur widerwillig einer Einladung zum Parents Circle gefolgt. Als er eines Palästinenserin mit dem Bild ihrer toten Tochter sah, erkannte er, dass der eigene Schmerz auch auf der "anderen Seite" bekannt ist.

In "Apeirogon" gibt es vielfältige Betrachtungen, zu Vögeln und zu Musik, zu ausgedörrten Landschaften und längst nicht alles davon spielt für die Handlung eine Rolle. Am eindruckvollsten sind die Szenen, die sich um das Leben von Bassam und Rami und ihren Familien drehen, das durch den Tod von Smada und Abir aus der Bahn geworfen wird, in denen es um den Schmerz geht, der nicht vergeht. und den Weg zu der Entscheidung, nicht zu hassen, sich für ein friedliches Miteinander und eine Aussöhnung einzusetzen. Zu reden, egal wie oft sie niedergeschrien werden, "Es ist erst vorbei, wenn wir miteinander reden" steht auf einem Aufkleber an Ramis Motorrad.

Eine Analyse des Nahostkonflikts, das kann und will der Autor nicht bieten. Statt dessen stellt er Fragen. Wie kann man weiterleben nach dem Verlust eines Kindes? Wie kann man wieder Frieden finden - mit sich, aber auch mit anderen? Und klar: Rami und Bassam stehen in ihren jeweiligen Gemeinschaften für eine Minderheit. In einer Gesellschaft, in der Gewalt oder zumindest die Gefahr von Gewalt allgegenwärtig ist, ist es nun mal leichter, an den Mauern, Vorurteilen und Verurteilungen der anderen Seite festzuhalten. Aber gerade deshalb ist die Stärke des Ramis und Bassams dieser Welt, die sich mit Hass nicht abfinden wollen, um so beeindruckender.

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Veröffentlicht am 01.07.2021

Menschliche und andere Abgründe

Tiefer Fjord
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Eine Rezension über Ruth Lillegravens Buch "Tiefer Fjord" zu schreiben, ist nicht ganz einfach - und das liegt keineswegs daran, dass mit dem Buch etwas nicht stimmt, im Gegenteil. Es hat mich von Anfang ...

Eine Rezension über Ruth Lillegravens Buch "Tiefer Fjord" zu schreiben, ist nicht ganz einfach - und das liegt keineswegs daran, dass mit dem Buch etwas nicht stimmt, im Gegenteil. Es hat mich von Anfang an gefangen genommen und in Atem gehalten. Doch wie über die Essenz dieses Romans zwischen Thriller und Krimi schreiben, ohne zu spoilern? Denn ein "Whodunnit" ist dies keineswegs, sehr schnell schon ist klar, wer für mehrere Todesfälle verantwortlich ist. Doch wer muss noch dran glauben, wer ist wem auf der Spur und wie werden sich Liebe, Schuld, Loyalität und Verrat schließlich auseinanderdividieren?

Der Titel ist jedenfalls Programm. Nicht nur, weil ein Fjord in Westnorwegen sowohl in der Vergangenheit als auch in der Gegenwart der Romanhandlung eine Rolle spielt, es geht auch um innere Abgründe in einer scheinbar heilen Welt, um Schuldzuschreibungen und Sterotypisierungen, um glatte Fassaden und politische Ränkespiele. Insofern ein sehr skandinavischer Krimi, der Spannung und reale Missstände verbindet.

Das große Thema ist häusliche Gewalt, Kindesmisshandlung. Der Arzt Haavard hat in der Klinik immer wieder damit zu tun, seine Frau Clara arbeitet im Justizministerium einen entsprechenden Gesetzesentwurf aus, den sie auch gegen politische Widerstände unbedingt durchsetzen will. Als ein kleiner Junge, angeblich vom Baum gefallen, an seinen schweren und den Ärzten verdächtigen Verletzungen stirbt, wird sein Vater kurz danach im Gebetsraum der Klinik erschossen.

Die Autorin präsentiert zunächst mehrere mögliche Verdächtige, die zudem alle aus der Ich-Perspektive erzählen. Doch es ist Haavard, der nach einem weiteren gewaltsamen Todesfall festgenommen wird. Er beteuert seine Unschuld. Clara muss schon allein wegen ihrer plötzlich bedrohten politischen Karriere zu ihrem Mann stehen, auch wenn das Verhältnis zwischen den beiden schon lange in Lieblosigkeit erstarrt ist.

Hat die Polizei ein unschuldiges Opfer falsch platzierter Hinweise festgenommen oder einen durchtriebenen Täter? Geschieht es den Opfern nicht irgendwie recht? Was haben all die anderen Ich-Erzähler zu verbergen, die theoretisch auch die Taten hätten begehen können? Welche Bedeutung spielt Claras Vergangenheit sowohl für ihr Engagement als auch für den Fall? das soll hier natürlich nicht verraten werden, aber Lillegraven schafft es, Misstrauen zu säen und in Abgründe blicken zu lassen. Die grandiose Fjordlandschaft mit zerklüfteten Bergen und eiskaltem Wasser, mit den Wirbeln und Strömungen steht dabei auch für die Zerrissenheit der Hauptfiguren. Heile Welt? Nein, überhaupt nicht, aber ein spannendes und fesselndes Buch, dass ich einfach nicht aus der Hand legen konnte.

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