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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 31.07.2021

Ein richtig gutes Debüt!

Junge mit schwarzem Hahn
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Martin wächst in einem unscheinbaren Dorf auf, Eltern und Geschwister längst durch die Hand seines scheinbar wahnsinnigen Vaters getötet. Doch er ist nicht allein, trägt immerzu einen schwarzen Hahn bei ...

Martin wächst in einem unscheinbaren Dorf auf, Eltern und Geschwister längst durch die Hand seines scheinbar wahnsinnigen Vaters getötet. Doch er ist nicht allein, trägt immerzu einen schwarzen Hahn bei sich auf der Schulter, sein einziger Besitz. Während die Dorfbewohner im Hahn die Inkarnation des Teufels sehen und den Jungen verachten, ist der Hahn stets treuer Gefährte und Beschützer Martins. Auch, als sich der Junge mit einem Wandermaler auf Reisen begibt, um der Bedeutung eines jährlichen Unheils nachzuspüren. So werden einer alten Überlieferung nach jedes Jahr zwei Kinder durch den Schwarzen Reiter entführt, doch wohin genau weiß niemand. Als der Junge und sein Hahn dabei anwesend sind, wie dieses Mal ein Mädchen ihres Dorfes mitgenommen wird, fühlt Martin sich wie vom Schicksal dazu berufen, die entführten Kinder zu finden.

Eigentlich wollte ich nur mal kurz reinlesen und habe das Buch dann an einem Tag verschlungen, die Geschichte von Martin und seinem Hahn hat mich sofort in ihren Bann gezogen. Vieles deutet auf eine mittelalterliche Szenerie hin, aber weder Zeit noch Ort sind klar ausgewiesen. Die Sprache ist fast schon sachlich, der Unterton ein wenig naiv - aber da Martin noch ein Kind ist, passt das gut. Auf der Reise erlebt Martin eine karge Welt zwischen Hunger, Krankheit und Elend. Seine Gabe ist die Kraft der Worte und seine kindliche Unschuld, mit der er oft aneckt, aber auch angehört wird. Die Autorin zeichnet außergewöhnliche Charaktere, thematisiert Aberglaube und Tyrannei, teilweise auch sehr düster, aber oftmals gespickt mit einer großen Portion Witz.
Ein bisschen märchenhaft, ein bisschen pikaresk, teilweise mit gesellschaftskritischem Unterton und viel Interpretationsraum. Ein richtig gutes Debüt, das vom Setting ein bisschen an Kehlmanns Tyll erinnert und mich total gut unterhalten konnte.

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Veröffentlicht am 29.07.2021

Über das Private

Niemehrzeit
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2018 verliert Christian Dittloff beide Eltern. Erst den Vater, wenige Monate später die Mutter. Doch erst mit dem Tod der Mutter ist er plötzlich 'Elternlos'. Schock und Ratlosigkeit sitzen tief. Aber, ...

2018 verliert Christian Dittloff beide Eltern. Erst den Vater, wenige Monate später die Mutter. Doch erst mit dem Tod der Mutter ist er plötzlich 'Elternlos'. Schock und Ratlosigkeit sitzen tief. Aber, keine Eltern mehr und Kinderlos - ist das vielleicht die große Freiheit? Dittloff weiß es nicht, aber manchmal fühlt es sich so an. Und, vielleicht doch lieber so, als wenn Pflegefall?

Dittloff beschäftigt sich in seinem Roman viel mit sich selbst und zeigt sich von seiner verwundbaren Seite. Er reflektiert über den Tod und die Zeit davor, forscht ein bisschen in der eigenen Geschichte und der seiner Eltern. Und schreibt von dem, auf das man sich nicht vorbereiten kann. Die plötzliche Überforderung mit Alltag und Bürokratie, das Leben, das irgendwie weitergeht, aber plötzlich eher vorbeizuziehen scheint. Er nimmt sich selbst zurück, findet große Hilfe im Schreiben und Lesen, in der Freundschaft und Liebe.

Dittloff hat einen bewegenden Roman über Trauer und Trost, Wut und Sprachlosigkeit geschaffen, gibt einen privaten Einblick in seine Zeit der Verarbeitung und Akzeptanz. Oft ratlos, viel rastlos, aber vor allem sehr intim und empathisch. Ein äußerst mitnehmendes Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 26.07.2021

Aufwühlend und erschütternd

Die Überlebenden
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,Was ist passiert?', fragt sich Schulmann zu Beginn seines Debütromans und nimmt dabei Bezug auf sein eigenes Leben. Das Auseinanderleben zu seinen beiden Brüdern als autofiktionales Motiv in die Handlung ...

,Was ist passiert?', fragt sich Schulmann zu Beginn seines Debütromans und nimmt dabei Bezug auf sein eigenes Leben. Das Auseinanderleben zu seinen beiden Brüdern als autofiktionales Motiv in die Handlung eingespannt, legt er mit "Die Überlebenden" einen berührenden und aufwühlenden Roman vor, den ich sehr, sehr, sehr empfehlen kann.

Einen Tag vor der Beerdigung ihrer Mutter entdecken die erwachsenen Brüder Benjamin, Pierre und Nils beim Durchstöbern der Wohung nach letzten Erinnerungsstücken einen an sie adressierten Brief. Die Bitte, ihre Asche im angrenzenden See des alten Sommerhauses der Familie zu verstreuen, lässt die Brüder kurzerhand mit einer gestohlenen Urne durch Schweden fahren und dabei bemerken, wie fremd sie einander über die Jahre geworden sind.
In jenem abgelegenen Sommerhaus am See durchbricht ein Erzählstrang aus der Kindheit der Brüder die gegenwärtige Handlung. Ohne Freunde oder Nachbarn verbringen die Drei allein mit ihren Eltern einen Sommer fern der Zivilisation, dessen tragischer Ausgang die Familie für viele Jahre auseinandertreibt. Was ist also passiert?

Die jungen Brüder durchlaufen eine Kindheit voller seelischen und körperlichen Schmerz, der insbesondere dem erhöhten Alkoholkonsum der Eltern geschuldet ist. Alle drei buhlen fortlaufend um die Liebe und Zuneigung der Eltern, werden aber immer wieder zurückgewiesen und sich selbst überlassen. Ein Buch voller ungesagter Worte, mangelnder elterlicher Zuneigung und über ein niemals überwundenes Trauma, das viele Jahre später aufgearbeitet werden soll. Recht einfach und flüssig geschrieben, aber dafür ans Herz gehend und mit ergreifender Auflösung.

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Veröffentlicht am 17.07.2021

Dramatisch und spannend

Dreieinhalb Stunden
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Am 13. August 1961 verlässt der Interzonenzug D-151 ein letztes Mal regulär den Münchener Bahnhof in Richtung Ost-Berlin. Währenddessen durchschneidet bereits der Klang von Presslufthammern die Berliner ...

Am 13. August 1961 verlässt der Interzonenzug D-151 ein letztes Mal regulär den Münchener Bahnhof in Richtung Ost-Berlin. Währenddessen durchschneidet bereits der Klang von Presslufthammern die Berliner Luft, Pfähle werden in die Erde geschlagen - die Abriegelung der Stadt beginnt, die Mauer steht in den Startlöchern. Die Menschen im Zug erreicht diese Nachricht erst dreieinhalb Stunden vor Ankunft an der neuen Grenze - und die Passagiere müssen sich der Frage stellen: weiterfahren oder aussteigen? Doch wie kann man innerhalb weniger Stunden die Entscheidung über den weiteren Fortgang seines Lebens treffen, wenn die Wahl zwischen dem Aufgeben der Freiheit oder dem Aufgeben des eigenen Zuhauses liegt?

Der Tag des Mauerbaus, hier abgehandelt anhand einer dramatischen Zugfahrt. Das Buch begleitet einen bunten Haufen verschiedener, durchweg interessanter Charaktere auf ihrer womöglich letzten Zugreise durch den Westen in die DDR. Unter ihnen Familien, eine Band, ein Kommissar bei der Arbeit und eine Ostdeutsche Lokführerin. Bis zum letzten Durchgangsbahnhof vor der innerdeutschen Grenze begleiten wir den Zug und seine Passagiere, werden Zeuge davon, wie zukünftige Lebensentwürfe verhandelt werden und Familien auf die Zerreißprobe gestellt werden. Wie auch immer jene Entscheidungen ausfallen werden, wird letztendlich jeder seinen Preis zahlen müssen. Ein ständiges Abwägen sowie ein ständiger Perspektivwechsel zwischen den Beteiligten schaffen eine sehr spannende Atmosphäre. Ein wahnsinnig interessantes Buch, toll erzählt und super zum mitfiebern.

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Veröffentlicht am 16.07.2021

Still und berührend

In diesen Sommern
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In ungewöhnlich kurzen Abschnitten erzählt Teresa, die Tochter eines alkoholkranken Vaters, von ihrer Kindheit und Jugend und besinnt sich dabei vor allem auf die gemeinsam verbrachte Zeit mit den Eltern ...

In ungewöhnlich kurzen Abschnitten erzählt Teresa, die Tochter eines alkoholkranken Vaters, von ihrer Kindheit und Jugend und besinnt sich dabei vor allem auf die gemeinsam verbrachte Zeit mit den Eltern und ihrem Bruder zurück.

Der Schreibstil ist ungewöhnlich knapp und nüchtern, die Kapitel bauen nicht wie gewohnt aufeinander auf, sondern erzählen fragmentarisch von Teresas Erinnerungen an frühere Sommer, springen ungeordnet in der Zeit umher und sind manchmal auch nur eine halbe Seite lang. Auf den ersten Blick gibt es somit keinen klar definierten Handlungsstrang, eher ist der Roman wie ein Album an Erinnerungen aufgebaut, stellt schöne und unschöne Erlebnisse Teresas mit ihrer Familie vor. Und doch es ist die Suche der Familie nach Frieden und Glück, zwischen guten und weniger guten Tagen des gewalttätigen, suchtkranken Vaters - an den sich die Tochter aber nach allem Schlechten auch auf die schönen Zeiten zurückbesinnt.

Ein schönes Debüt, ganz unaufgeregt und leise erzählt. Sehr angenehm zu lesen, und obwohl Teresa ihre Erlebnisse so sachlich und neutral erzählt, habe ich mich ihr ganz nah gefühlt. Ein kurzes Buch mit klarer Leseempfehlung.

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