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Veröffentlicht am 12.05.2022

Wenn der Sohn auf rechte Wege gerät...

Was es braucht in der Nacht
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Sie waren mal eine Vorzeigefamilie. Der Protagonist ist in diesem Fall, ein Monteur bei der Staatsbahn SNCF, Parteimitglied einer linken Vereinigung, Fußballfan und umsorgender Familienvater. Doch als ...

Sie waren mal eine Vorzeigefamilie. Der Protagonist ist in diesem Fall, ein Monteur bei der Staatsbahn SNCF, Parteimitglied einer linken Vereinigung, Fußballfan und umsorgender Familienvater. Doch als seine Frau mit 45 Jahren an Krebs stirbt, verliert er nicht nur sie, sondern auch ein Stück weit den Bezug zu seinen beiden Kindern. Fus und Gilou, 10 und 7, sind sein ganzer Stolz, doch zwischen Arbeit und Haushalt bleibt für den Familienvater nur noch wenig Zeit für die beiden. Das einzige Highlight, das ihn noch mit Fus verbindet, ist das wöchentliche Fußballspiel. Aber irgendwie läuft es, zumindest in der ersten Zeit...

"Ich hätte Fus gegenüber trotzdem mehr Druck ausüben sollen. Stattdessen sah ich tatenlos zu, wie es allmählich mit ihm abwärtsging. Seine Schulhefte waren schlampig geführt, aber welche Bedeutung hatte das schon? Meine Energie brauchte ich für meine Arbeit bei der Bahn, um vor den Kollegen und dem Chef zu bestehen und meinen verdammten Monteursjob zu behalten."

Und gerade diese fehlende Energie und fehlende Aufmerksamkeit, sollte sich dann rächen, denn bei einer Plakatieraktion sah ein Parteikollege seinen Sohn Fus wie er mit den Rechten des Front National rumhängt. Doch statt mit seinem Sohn die Auseinandersetzung zu suchen, folgen nur ein paar kurze Nachfragen und viel Ignoranz. Der Vater zieht sich zurück, redet mit Fus kaum noch ein Wort, die einzige Verbindung bleibt der jüngere Gilou. Doch auch er kann seinen Bruder nicht retten. Fus rutscht weiter ab, er wird von Extremlinken angegriffen, es eskaliert und die Tragödie nimmt seinen Lauf. Doch was tut man als Vater, wenn er eigene Sohn so in die falsche Richtung abdriftet? Was wenn man sich nichts zu sagen hat und doch so viel? Was bleibt eigentlich noch übrig, wenn alles schon zu spät ist?

"Und ich? Ich schämte mich. Und es beschämte mich, dass wir von nun an damit leben mussten. Was immer wir tun würden oder wollten, Tatsache war: Mein Sohn machte mit den Faschos gemeinsame Sache. Und soviel ich begriffen hatte, fand er großen Gefallen daran.
Wir steckten in eine verdammten Schlamassel. Die Mutti konnte echt stolz auf mich sein."

Eigentlich eine sehr spannende Ausgangslage, aber dieser Roman konnte mich weder mitreißen, noch hat Laurent Petitmangin bzw. die Übersetzung von Holger Fock und Sabine Müller meine Erwartungen erfüllt. Zumindest dachte ich, man könnte mehr in die Gedankenwelt des Vaters blicken, es würde einen Austausch und aufeinanderprallende Meinungen/Welten geben, aber das einzige, was da kommt, ist ein beklemmendes, sich hinziehendes Schweigen, ein sich aus dem Weg gehen und damit irgendwie auch zulassen, dass Fus weiter ins Unglück rennt. Aber gut, dass der Vater nicht gerade der selbstbewussteste ist und den engen Bezug zu seinen Kindern verloren hat, fällt recht häufig durch Sätze wie "Oh, was würde Mutti nur sagen?" auf. Generell stieß mir dieses Wort "Mutti" sehr negativ auf, denn wenn ein Mann um die vierzig/fünfzig von seiner verstorbenen Frau spricht, dann immer "Mutti" sagt und die Kinder am Ende ja auch schon um die 20 Jahre alt sind und "Mutti" immer noch sehr präsent ... das finde ich schon sehr schwierig, zumindest an der deutschen Übersetzung.
Ansonsten gibt dieser Roman wirklich nur sehr wenig her. Das bekannte gewalttätige Aufeinanderprallen von Links- und Rechtsextremen, Schwierigkeiten zuhause und das zögerliche bis fast nicht vorhandene Einschreiten nimmt man als Leserin zwar wahr, aber dieser Text und das Gesagte berühren kaum, alles plätschert mehr vor sich hin und die Sogwirkung fehlte mir komplett. Es ist quasi eine interessante Nebenbeiunterhaltung, die die Leserinnen fordert, denn man weiß, was passieren kann und wofür rechte Kreise bekannt sind, aber man wird eher mit einer untätigen Person, die von fast allem überfordert scheint und fragwürdige 'Mittel' einsetzt, konfrontiert. Das macht es schwierig. Und so erkenne ich dann auch keinen, wie in den Zitaten aus dem französischen Buchhandel versprochenen "Faustschlag", keinen umhauenden und Atem raubenden Roman, der einem die Kehle zuschnürt, mitreißend, überwältigend und vor Leben sprüht... eher ist es das komplette Gegenteil, das in seiner Form allerdings der Realität viel zu nahe kommt. Und vielleicht ist das dann auch eher das Beklemmende an diesem Roman, das beschriebene Nichtstun, bis es in Übergriffigkeit und einer Tragödie endet. (Wobei auch da, hätte man aus dieser Geschichte eindeutig mehr herausholen können).

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Veröffentlicht am 12.05.2022

Mein zweiter Versuch einer "Zusammenkunft"

Zusammenkunft
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Vor einer Weile habe ich schon einmal Natasha Browns "Assembly" begonnen zu lesen, aber irgendwie packte mich dieser Roman so gar nicht. Zu sehr störte mich das Fragmentarische, die Sprünge zwischen einzelnen ...

Vor einer Weile habe ich schon einmal Natasha Browns "Assembly" begonnen zu lesen, aber irgendwie packte mich dieser Roman so gar nicht. Zu sehr störte mich das Fragmentarische, die Sprünge zwischen einzelnen Themen und Szenen und ich verlor schnell das Interesse. Und das eigentlich gar nicht mal aufgrund des Inhalts, denn Natasha Brown zeigt hier sehr eindrucksvoll, welchen Herausforderungen sich PoC in der heutigen Zeit stellen müssen, wie sie stets beäugt, befragt, rassistisch angegangen werden. Aber ich konnte einfach keine Nähe zur Protagonistin aufbauen und vieles plätscherte dann nur dahin, verwirrte mich und meine Englischkenntnisse stießen an ihre Grenzen (zumindest dachte ich das). Daher war ich nun auch ganz froh, dass . "Assembly" vor einer Weile auf Deutsch in der Übersetzung von Jackie Thomae erschienen ist und so wollte ich "Zusammenkunft" eine erneute Chance geben, und mich dem Leben der Protagonistin nähern. Diese nimmt die Leserinnen mit in ihren Alltag, zwischen Arbeit, Familie, Aufopferung, Aufstieg und tief verankertem Fallen. Die toxische Vergangenheit, Rassismus, Anfeindungen, Abwertungen holen viele PoC und auch sie ständig ein. Und dann sehen sie sich, neben all ihren anderen Problemen, ständig damit konfrontiert. Es ist ein Roman zwischen Aufklärung und bekanntem Schubladendenken, der deutlich die Unterschiede zwischen Klassen, Arbeit, Werten, Geschlechtern, Herkunft und Besitz darstellt. Und das, obwohl wir Menschen ja alle immer so tolerant und weltoffen sind. Das ist teilweise schon sehr bedrückend und erschreckend.
Was heißt es dazuzugehören und gefühlt doch nicht dazugehören, nie so akzeptiert zu sein wie 'die anderen'... man mag es sich gar nicht so genau vorstellen und doch erleben das tagtäglich viel zu viele Menschen in der Welt und eben auch die Protagonistin in England.

"Ich habe mein Leben immer nach dem Prinzip gelebt, dass ich, wann immer mir ein Problem begegnet, dann arbeiten muss, eine Handlung zu finden, um es zu überwinden; oder Platz dafür zu schaffen; oder einen Weg außen herum zu schlagen; oder sogar den Boden darunter abzutragen. So wurde ich aufs Leben vorbereitet. So bereiten wir uns selbst vor, das bringen wir unseren Kindern bei, um an diesen Ort heranzugehen, an dem Hindernis auf Hindernis folgt. Arbeite doppelt so hart. Sei doppelt so gut. Und immer, pass dich an."

Dieses Buch ist voll von Augenöffnern, erschreckenden Aussagen oder auch Begegnungen. Also dafür schätze ich diesen Roman wirklich sehr und ich habe mal wieder die Lage der PoC in dieser weißgeprägten Welt kennenlernen müssen, verstanden, aktiv durchdacht und hoffe nun sensibler an eben jene Themen heranzutreten. Es ist ein erschreckender Spiegel und doch wünschte ich mir für einen Roman, dass alles zusammenhängender, packender und wahrscheinlich auch durchrüttelnder erzählt werden würde. Ich hadere, es ist keine wirkliche Leseempfehlung von mir und doch würde ich sagen, dass es ein wichtiges Buch ist, dass man als Weiße
r mal gelesen haben sollte. Doch, doch.

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Veröffentlicht am 02.05.2022

Eine flüchtige Begegnung mit tiefgreifenden Folgen...

Das Vorkommnis
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Manchmal können Begegnungen eine ganze Reihe an Handlungen, Gedanken, wenn nicht sogar Veränderungen herbeiführen. Dabei ist es fast egal, ob man sich mit jemanden verabredet hat, sich eher zufällig über ...

Manchmal können Begegnungen eine ganze Reihe an Handlungen, Gedanken, wenn nicht sogar Veränderungen herbeiführen. Dabei ist es fast egal, ob man sich mit jemanden verabredet hat, sich eher zufällig über den Weg läuft oder sich mit Unvorhersehbarem auseinandersetzen muss, alles zieht seine Kreise und führt zu einem kleinen Wandel in uns und häufig kehren wir gedanklich immer wieder zu diesem Ausgangspunkt zurück - sei es aufgrund von Wut, Aufregung, Euphorie, Unverständnis...
Das ist dann ungefähr auch das, was der Autorin Julia Schoch passiert ist. Auf einer Lesung in Lübeck (zumindest deutet sehr viel darauf hin, dass es sich um diese Stadt handelt) machte sie die Bekanntschaft mit einer Frau, die zu ihr nach einer Lesung, fast schon nebenbei, sagte: "Wir haben übrigens denselben Vater." Einerseits im Schockzustand, andererseits emotional aufgewühlt fiel sie der fremden Frau sofort um den Hals. Was weiter geschehen ist, oder was weiter zwischen den beiden Frauen besprochen wurde, erfahren wir nicht, nur, dass dieses Ereignis noch sehr lange die Gedankenwelt der Autorin im Griff haben wird und dass dieses Aufeinandertreffen Ausgangspunkt für den ersten Roman ihrer dreiteiligen Biographie einer Frau sein wird. "Das Vorkommnis" von Julia Schoch behandelt nun die Gedankenwelt einer Frau, die sich plötzlich mit einer Halbschwester auseinandersetzen muss und sich mit Fragen konfrontiert sieht, die viel weiter reichen und sich tief aufs eigene familiäre Gefüge, die Vergangenheit und das sich nun irgendwie veränderte Leben beziehen.

"Was meinen Fall anging, so hatte ich keine Todesnachricht erhalten. Bei mir handelte es sich um Zuwachs, nicht um einen schrecklichen Verlust. Trotzdem war es eine Art Verschiebung. Etwas an dem gewohnten Bild stimmte nicht mehr."

Als Leserin begleitet man die Autorin nun durch ihren Alltag, sie versucht das Geschehene zu vergessen, aber das Treffen mit der Unbekannten lässt sie einfach nicht mehr los und stellt alles infrage. Selbst wie genau sich das Treffen ereignete, warum sie der Fremden sofort glaubte, ihr um den Hals fiel, weiß sie nicht mehr so richtig. Wie ist das eigentlich mit der Erinnerung? Was ist mit ihrer Familie geschehen? Und muss man die Frau nun auch über den Zustand des Vaters informieren? Welche Beziehung haben sie nun eigentlich zueinander? Der Gedankenstrudel treibt sie immer weiter und führt sie zeitgleich immer wieder zum Treffen zurück; zum Vorkommnis. Und so beschäftigt sie sich auch mit der Wahrheit, der Ehe, Mutterschaft, philosophiert über das Leben, Familiengeheimnisse, Adoption. Zwischenzeitlich reicht es sogar so weit, dass sie denkt: "Das hier ist nicht die Geschichte meiner Familie. Die Geschichte meiner Familie gibt es nicht. Das ist nur die Geschichte meiner Verwirrung." Und das führt alles irgendwie dazu, dass sie die Frau noch einmal sehen muss, sie treffen muss, um zu verstehen, um sie in ihrem 'neuen' Leben aufzunehmen, zu reflektieren und irgendwie auch wieder zur Ruhe zu finden.
"Damals wünschte ich, ich würde einen Roman über all das schreiben. In einen Roman konnte ein Satz stehen wie: Die Wochen vergingen, der Sommer kam, und X vergaß die Begegnung mit der Frau im Dezember. Ich sehnte mich nach einem Stoff, dem ich mich spielerisch nähern konnte. Ich wollte mich ein wenig austoben, mehr nicht."

Und irgendwie ist ihr das Spielerische mit diesem Buch auch gelungen, allerdings mehr auf persönlicher und gedanklicher Ebene als erwartet. Und auch wenn für mich der Ausgangspunkt dieser Biographie und die daraus resultierenden Gedanken äußerst interessant und nachvollziehbar waren, so hatte ich auch einige Probleme damit. Julia Schoch nimmt ihre Leser
innen mit in ihre Vergangenheit, erzählt von wirren, beinahe schon Hineinsteigerungen und findet schlussendlich wieder dahin zurück, wo alles begann. Das Zusammentreffen ist quasi die Klammer ihrer Erinnerung und Lebensrückblicke, die innerhalb dieses Romans mit Zweifel an einigen Einschätzungen konfrontiert werden und alles erneut infrage stellen. Gerade das Vertrauensgefüge zum Vater scheint zu bröckeln, die Liebe zu Mann und Kindern, sowie der Blick auf die Welt bzw. ihre Erinnerung steht im Fokus ihrer Betrachtungen. Daraus entstand eine sehr reflektierte Auseinandersetzung mit sich und der Welt und eben jenen Folgen des Zusammentreffens, das sie auch noch Jahre später beschäftigt.
Dennoch muss ich sagen, dass gerade die Abfolge vom Zusammentreffen, gedanklichen Folgen, Rückblick, Beziehung hin zu weiteren Gedanken über das Zusammentreffen, für mich am Ende dann doch recht konstruiert schienen. Auch die Übergänge fand ich nicht gerade schön, aber das ist dann womöglich auch eine Geschmacksfrage. Fragen... da haben wir es wieder. Fragen, philosophische Auseinandersetzungen und Deutungen des eigenen Handels mag ich sehr, aber irgendwie habe ich in diesem ersten Teil keine wirkliche Antwort auf irgendwas gefunden, ich könnte nicht mal sagen, dass mir vieles in Erinnerung geblieben ist, aber die Frage wie man selbst auf so etwas reagieren würde, was an Julia Schochs Gedanken nun überzogen, was ähnlich ist, das hat mich recht lange beschäftigt. Ich bin mal gespannt, ob und wann mir der nächste Teil in die Hände fällt und ob ich weiteres lesen möchte, denn einerseits interessiert es mich nun sehr, wie die Autorin weiter vorgehen wird mit ihrer Biografie einer Frau, andererseits denke ich, dass mir grade diese autofiktionale, schon eher sachliche Auseinandersetzung mit dem lebensverändernden Ereignis (irgendwie auch ein sehr beliebtes 'Ding' in der Literatur) doch auch gereicht hat.


"Dann aber wurde mir klar, dass ich schon vieles nicht mehr wusste, ja an bestimmte Dinge hatte ich mich schon am nächsten Tag kaum mehr erinnert. [...] Andere, scheinbar unwesentliche Details hingegen sind mir bis heute sehr genau im Gedächtnis. [...] Vor allem scheint sich erst jetzt, mit dem Abstand von Jahren, in großer Klarheit zu zeigen, wie Dinge, die in den Monaten und Jahren danach passiert sind, miteinander zusammenzuhängen. [...] Es waren Monate und Jahre, in denen sich alles zu verändern schien, meine Sicht auf die Welt, die Liebe, auf meinen Mann und meine Kinder."

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Veröffentlicht am 24.04.2022

Wenn die Vergangenheit ruft... "Der Erinnerungsfälscher" von Abbas Khider

Der Erinnerungsfälscher
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In Abbas Khiders neusten Roman "Der Erinnerungsfälscher" erzählt er sehr locker und leicht von den Wirren der deutschen Bürokratie, des deutschen Asylverfahrens, vom Kampf mit den Behörden und irgendwie ...

In Abbas Khiders neusten Roman "Der Erinnerungsfälscher" erzählt er sehr locker und leicht von den Wirren der deutschen Bürokratie, des deutschen Asylverfahrens, vom Kampf mit den Behörden und irgendwie auch dem, was man hierzulande von Migranten erwartet oder zu wissen glaubt. Und Khider blickt zurück auf das Leben seines Protagonisten Said Al-Wahid, der durch die Nachricht seines Bruders zur sofortigen Reise in sein Heimatland aufgerufen wird. Saids Mutter liegt derzeit in einem Bagdader Krankenhaus im Sterben, die Zeit drängt, doch da gibt es noch so einige Probleme mit dem Reisepass und seinem Asylantrag.

"Saids Leben in Deutschland neigte sich, so schien es, dem Ende zu. Sechs Jahre verloren schlagartig ihre Bedeutung. [...] Es war, als ob Saids Leben kein Leben wäre, sondern ein überflüssiger Satz in den Akten der Behörden: Jeder konnte ihn mit einer flüchtigen Bewegung wegstreichen. Es war ein wertloses Leben, nur ein Furz am Rande aller Welten."

Ich wünschte, dieser Roman hätte mir mehr gegeben oder besser gesagt einen bleibenderen Eindruck hinterlassen, denn gerade durch Khiders vorherige Romane und das allgemeine, durch die Medien geprägte Bewusstsein über Migration, Asylprobleme und Co, ist es mehr eine kleine, leicht zugängliche Geschichte, die einen Einblick in das komplexe Gefüge aus Bürokratie, Flucht, (Un)Menschlichkeit und Heimat bietet, aber auch nicht wirklich mehr erzählt. Und das ist irgendwie sehr schade, denn der Hintergrund ist schon sehr tragisch. Said hat früh seinen Vater verloren, dieser wurde hingerichtet als er acht Jahre alt war. Er hat alles zuhause aufgegeben, sich über zahlreiche Hürden nach Berlin gekämpft, sehr umständlich eine Aufenthaltserlaubnis erhalten, sich hier eine neue Heimat aufgebaut, eine eigene Familie gegründet und ist nun gefordert zu seinen Wurzeln zurückzukehren und sich mit seiner Vergangenheit auseinanderzusetzen, aber gleichzeitig erkennt Said eben auch, dass kaum noch (echte) Erinnerungen vorhanden sind. Und das wäre in ausführlich wahrscheinlich ein sehr mitreißender Roman gewesen, der gerne an die 300 Seiten hätte haben können und viel über das Schicksal der Geflüchteten verraten hätte. So ist es aber eher ein Rückblick in die Vergangenheit, alles Erkämpfte ist schon da und es werden Möglichkeiten gesucht eine Verbindung zur Vergangenheit herzustellen und das dann auch in einem eher weniger berührenden Schnellverfahren.
Daher empfehle ich diesen Roman eher jenen, die noch nichts über Flucht, Migration oder Einbürgerung in Deutschland gelesen haben, denn "Der Erinnerungsfälscher" ist wirklich ein nettes, schnell zu lesendes 'Einsteigerbuch' in die Thematik, es hat einige wirklich schöne, tiefgründige Gedanken, aber sonst... lieber anderes.

"Er ist nie mit seiner kleinen Familie heimgereist und nun liegt seine Mutter im Sterben. Als Said wegging, war das Land ein Loch der Verzweiflung; zwei Jahrzehnte später ist es zu einem Loch der Hoffnungslosigkeit geworden."

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Veröffentlicht am 17.09.2021

Kornkreise in England - "Der perfekte Kreis" und eine ungewöhnliche Freundschaft

Der perfekte Kreis
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Nachdem Benjamin Myers mit "Offene See" den Liebling der deutschen Buchhändler:innen landete und beinahe jeden mit seiner unaufgeregten und sehr naturverbundenen Freundschaftsgeschichte begeistern konnte, ...

Nachdem Benjamin Myers mit "Offene See" den Liebling der deutschen Buchhändler:innen landete und beinahe jeden mit seiner unaufgeregten und sehr naturverbundenen Freundschaftsgeschichte begeistern konnte, hat er nun mit "Der perfekte Kreis" noch einmal nachgelegt. Auch dieses Buch widmet er einer ganz besonderen Freundschaft. Wir begeben uns mit ihm ins südliche England im Jahr 1989, als dort gehäuft seltsame, kreisrunde Muster auf den Feldern auftauchen. Eine Sensation, die für reichlich Spekulationen in den Medien, bei den Wissenschaftlern und Menschen vor Ort sorgt. Einige wollen kleine grüne Wesen gesehen haben, andere gehen von Jugendstreichen aus oder sehen dies einfach als eine lukrative Geldeinnahmequelle. Doch hinter all dem stecken eher zwei, die sich über einen ungewöhnlichen Weg gefunden haben und eine seltene Leidenschaft hegen. Calvert und Redbone haben sich viel vorgenommen, sie möchten in diesem Sommer die "Kleingeister" mit ihren Kornkreisen umhauen und damit die Aufmerksamkeit zurück auf die Natur lenken. Die Honigwabe-Doppelhelix soll dabei ihr größter Coup werden, aber bis dahin versuchen sich die beiden noch an ein paar anderen Kornkreisformationen. Sie ziehen nächtlich mit Seilen und Brettern bewaffnet los und setzen Redbones verrückte Pläne in die Tat um. Eine Tat und Freundschaft, die gerade für Calvert wichtiger ist, als alles andere. Doch eins schwingt immer mit... die Angst davor entdeckt zu werden.

"Ein perfekter Kreis kann prinzipiell nicht erschaffen werden, erst recht nicht von zwei Typen auf einem Feld mit ein paar Seilen und hochfliegenden Ideen. Sorry, mein Freund. Der perfekte Kreis kann nur als Idee existieren. Was gar nicht so schlecht ist, wenn du mal drüber nachdenkst, denn das heißt, dass jeder von uns einen in sich trägt."


Das ist es also, der berühmt, berüchtigte zweite Roman und ehrlich gesagt, hat mich "Der perfekte Kreis" schon sehr enttäuscht. Zwar gibt es einige Parallelen zu Myers Erstling, aber die Handlung ist dann doch etwas eintönig. Als Leser:in begleitet man die beiden Freunde insgesamt 10 Mal auf ihren Touren durch die Felder. Redbone und Calvert setzen sich dabei immer wieder neue, größere oder spektakulärere Ziele, werden hin und wieder von Anwohnern überrascht und in ihren Gesprächen werden hier und da weitreichende Themen wie Kolonialismus, Müll, Monokulturen, Regionalismus, der generelle Einfluss der Menschen auf die Umwelt, sowie die globale Erwärmung eingestreut, aber bis auf ein paar Grundzüge lernt man die beiden Protagonisten kaum kennen und in der Geschichte gibt es kaum begeisterungsfähige Aufs und Abs. Es plätschert so hin, lässt sich mal eben so fix lesen, aber im Großen und Ganzen gibt einem die Geschichte recht wenig und das ist schade. Auch ein Punkt, über den ich lange nachdachte und irgendwie fraglich finde, ist dass jedes Kapitel den jeweils von den beiden ausgedachten Namen für das Kornkreiskunstwerk, wie der Longbarrow-Wal, der White-Whattle-Schlüssel oder der High-Bassett-Butter-Barrel-Whirlpool trägt und dann in den teilweise am Ende des jeweiligen Kapitels angehängten 'Zeitungsberichten' eben auch jene Namen auftauchen. Dass sich die beiden Künstler und die Redakteure die gleichen Namen für etwas ausdenken... hmm.
Und so ist es dann eben nur ein nettes Buch über eine ungewöhnliche Freundschaft, sehr ruhig und sicherlich ein nettes Verlegenheitsgeschenk für Freunde, bei denen man nicht weiß, was sie gerne lesen, aber die auf der Rückseite versprochene "berührende Liebeserklärung an die englische Landschaft, die Natur und nicht zuletzt an die Freundschaft" ist dann eine vielleicht doch etwas zu hochgegriffene Beschreibung.

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