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Veröffentlicht am 19.09.2021

Am Rande des Abgrundes

Shuggie Bain
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Douglas Stuart erzählt in seinem Debütroman von „Shuggie Bain“, dem kleinen Jungen, der seine Mutter über alles liebt. Für diesen Roman wurde er mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet.

Shuggie ist anders, ...

Douglas Stuart erzählt in seinem Debütroman von „Shuggie Bain“, dem kleinen Jungen, der seine Mutter über alles liebt. Für diesen Roman wurde er mit dem Booker Preis 2020 ausgezeichnet.

Shuggie ist anders, das sagen sie alle. Hänseln ihn, drangsalieren ihn. Im Glasgow der 80er Jahre fristen sie ihr Dasein: Agnes, die Mutter - sie ist wunderschön, legt Wert auf ihr Äußeres, in ihrem grauen Alltag setzt sie damit Glanzpunkte, jedoch ist der Alkohol ihr ständiger und liebster Begleiter. Von ihrem zweiter Mann Shug, ein Macho sondersgleichen, der sie schlecht behandelt, kommt sie dennoch nicht los. Dann sind da noch die 17jährige Catherine und der zwei Jahre jüngere Leek. Eine ganz gewöhnliche Arbeiterfamilie sind sie, in der das Geld immer zu knapp ist.

Das Thema Alkohol überlagert das ganze Buch, schwebt gefährlich über allem. Geprägt von Armut und Hoffnungslosigkeit müssen die Kinder den Alkoholexzessen der Mutter hilflos zusehen. Die beiden ältesten können sich mehr oder weniger befreien, dem kleinen Shuggie jedoch fällt immer mehr die Rolle eines Beschützers zu. Seine feminine Art sehen die rabiaten, rauen und prügelnden Kinder in der Nachbarschaft und natürlich kommt er so manches Mal nicht ungeschoren davon. Und Big Shug nimmt sich, wen und was er will, lässt Agnes in ihrem Suff alleine. Sie alle haben mit sich zu tun, jeder lebt in seiner ganz eigenen Welt. Nur Shuggie, der bräuchte jemanden, aber er wird vergessen – von seinem Vater, der die Familie verlässt, von seiner Mutter, die nicht loskommt vom Alkohol.

Zwischendurch habe ich mich schon auch gefragt, warum Shuggie Bain titelgebend ist, da es vordergründig um sie geht, um Agnes und ihre Sucht aber jetzt - im Nachhinein - sehe ich ihn mittendrin, immer Agnes am nächsten. Er war es, der am meisten ertragen musste. Egal ob er ob ihrer Trunksucht hungerte oder von ihr mit Nichtachtung und Vorwürfen bestraft wurde. Er war ihr Begleiter, ihr Retter in der Not. Wenn sie Hilfe brauchte, war keiner da – Shuggie schon. Er war derjenige, der sie ertrug, der sie bedingungslos liebte. Bis zuletzt.

Eine Milieustudie, die betroffen macht und zahlreiche Gefühle auslöst. Man gewöhnt sich an vieles und wahrscheinlich gibt man sich ohne Perspektive irgendwann auf, tröstet sich wie hier mit dem Teufel Alkohol. Ich war tief drin in der Geschichte, konnte mich ereifern, fand sie in ihrer Trostlosigkeit allesamt gefühlskalt und widerwärtig. Das Ende stimmte mich dann trotz all dieser Exzesse letztendlich versöhnlich.

Eine tiefe Innigkeit stahlt das Cover aus, das ich vor dem Lesen als großes, gegenseitiges Verständnis empfunden habe. Und als Liebe, wie es sie nur zwischen Mutter und Kind gibt, in dem nur dieser eine Augenblick zählt. Nachdem das Buch zugeklappt ist und ich mir das Bild nochmals betrachte, das soeben Gelesene mit einwirken lasse, sehe ich diese Zerbrechlichkeit, sehr fragil, sehr zart.

"Niemand kann dir helfen außer du dir selbst" ein treffender Satz, ein weiser Ratschlag, den Leek Shuggie mitgibt. „Shuggie Bain“ ist nicht immer leicht auszuhalten, aber ich würde dieses Buch immer wieder lesen wollen.

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Veröffentlicht am 18.09.2021

Szenen einer Ehe - ein Hörerlebnis

Barbara stirbt nicht
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Herr Schmidt kennt sich aus – aber nicht in der Küche. Überhaupt ist er, was Haushalt anbelangt, eher unbedarft. Barbara, seine Frau, hat ihn umsorgt, sich um alles gekümmert. Eines schönen Tages steht ...

Herr Schmidt kennt sich aus – aber nicht in der Küche. Überhaupt ist er, was Haushalt anbelangt, eher unbedarft. Barbara, seine Frau, hat ihn umsorgt, sich um alles gekümmert. Eines schönen Tages steht Barbara nicht mehr auf, Walter steht vor einem Riesenberg voller Probleme. Kaffeekochen – keine Ahnung, wie die Kaffeemaschine funktioniert, wo der Kaffee ist. Und so geht es weiter, er findet nichts, kann rein gar nichts.

Locker und entspannt werde ich in diese Geschichte hineingezogen. Zunächst scheint es, ein heiterer Roman zu werden. All diese beinahe rührend anmutenden Ungeschicklichkeiten des Herrn Schmidt haben eine Leichtigkeit, seine doch recht unwirsche Art mutet im Gegensatz ganz schön brummig und harsch an. Er knurrt alle an, die ihm eigentlich helfen möchten. Doch nicht mit ihm! Aber was hilft es, er muss durch, seine Barbara weigert sich weiterhin, aufzustehen - so kommt es zuweilen bei ihm an. Jedoch bemüht er sich redlich, eignet sich immer mehr Wissen an und setzt dieses in die Tat um.

Neben all seiner Bärbeißigkeit kommt immer mehr der fürsorgliche Ehemann hervor. Raue Schale, weicher Kern – es dauert, bis wir zu diesem seinem Inneren vordringen. Wie sollte es auch anders sein, nach einem halben Jahrhundert Eheleben.

Alina Bronsky hat eine traurig-schöne Geschichte vorgelegt mit heiteren und ernsten Momenten. Über so manche Szene musste ich schmunzeln oder lauthals lachen, dann wieder war die Atmosphäre eine ganz andere, sehr ernst und nachdenklich.

Als ungekürztes Hörbuch habe ich Barbara und Walters Geschichte sechs wundervolle Stunden lang sehr genossen, gesprochen von Thomas Anzenhofer. Ein wenig musste ich mich einhören, da ich diese markante Stimme nicht gleich mit der doch so federleicht beginnenden Erzählung in Einklang bringen konnte. Herr Schmidt konnte ganz schön uncharmant sein, doch bald passte Anzenhofers Stimme zur Stimmung. Von da an war ich tief drin in deren langjährigen Ehe, konnte dem Loslassen und dem für den Anderen da sein nachspüren. Die einzelnen Charaktere waren gut unterscheidbar und nicht nur das, jedem hauchte der Sprecher so viel Leben ein, dass das Hören ein Erlebnis war. Mit einem sehr abrupten Ende, das ich mir etwas runder gewünscht hätte.

Das Cover zeigt auf eindrucksvolle Weise, dass die alltäglichen Kleinigkeiten, all die Handgriffe, gemeistert werden müssen. Sehr treffend und – gelb ist die Hoffnung.

Ein humorvolles, aber genauso ein ernstes Buch, hörend eine wundervolle Darbietung von dem Sprecher Thomas Anzenhofer und Argon-Hörbuch tacheles! Immer wieder gerne.

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Veröffentlicht am 12.09.2021

Ein perfides Spiel, als Hörbuch perfekt in Szene gesetzt

SCHWEIG!
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Einen Tag vor dem Heiligen Abend macht sie Esther auf, ihre Schwester Sue, die in ihrer Villa am Waldrand alleine - vom Ehemann verlassen - wohnt, zu besuchen. Ein sehr asketisches Leben führt diese, sie ...

Einen Tag vor dem Heiligen Abend macht sie Esther auf, ihre Schwester Sue, die in ihrer Villa am Waldrand alleine - vom Ehemann verlassen - wohnt, zu besuchen. Ein sehr asketisches Leben führt diese, sie hat sich von all dem Überflüssigen getrennt,

das ihrer großen Schwester Esther soviel bedeutet. Weihnachtsstimmung kommt auf, als Esther mit ihren Kindern ein Geschenk für ihre Tante liebevoll verpackt, den Baum fürs Fest bestellt. Alleine lassen will und kann sie ihre Schwester in diesen Tagen nicht, eine Flasche Wein kommt auch noch mit und los geht’s.

Es ist die Ruhe vor dem Sturm, diese winterliche Fahrt hinaus in die Einsamkeit. Ich begegne jetzt auch Sue, die so ein ganz anderes, zurückgezogenes Leben führt. Und lerne Esther genauer kennen in ihrer ach so fürsorglichen Art. Sie redet mit Engelszungen auf ihre Schwester ein, gibt sich wie eine Mutter, die ihr ungezogenes Kind zurechtweist. Zwei ganz und gar unterschiedliche Charaktere prallen da aufeinander. Die eine will ihre Ruhe, ist nicht bereit, ihr Innerstes nach außen zu tragen. Aber genau das kann und will die resolute Esther nie und nimmer akzeptieren.

Eine zuweilen sehr bedrückende Atmosphäre entsteht, ich kann mich diesem perfiden Spiel nicht entziehen. Zum einen die beiden Schwestern in der doch sehr feudalen Villa, daheim geblieben ist Martin, Esthers Ehemann mit den beiden Kindern. Das ganze Leben kommt zur Sprache, all die gewesenen und vermeintlichen Gemeinheiten werden an die Oberfläche gezerrt.

Judith Merchant ist ein außerordentlich raffinierter Thriller gelungen. Es sind die Dialoge der Schwestern, das Drumherum, ihr teuflisches Tun, das die Story ungemein belebt. Man kann gar nicht anders, als dran zu bleiben, möchte unbedingt wissen, wie das Ganze endet. „Es ist die Hölle!“ Ja, sie schenken sich nichts.
Diesen so heimtückisch und hinterhältig daherkommenden Thriller habe ich als Hörbuch gebannt verfolgt. Es sind hier zwei ausgezeichnete Sprecherinnen zu hören – Christiane Marx und Ulrike Kapfer – die all die fein austarierten Nuancen meisterlich umsetzen. Tim Gössler ist als Sprecher der dritte im Bunde, der als Erzähler das Zwischenglied bildet. Sein besonderer Part ist, dass er in Episoden die Stimmen und Stimmungen der beiden Schwestern routiniert vermittelt sowie Martins besondere Rolle zwischen den Schwestern einfängt. Alle drei bilden eine Einheit, ein kompaktes Ganzes, dem ich mich trotz der sehr düsteren Stimmung gerne aussetzte. Die Story spielt auf verschiedenen Zeitebenen und Orten und auch hier wird die Brillanz der Sprecher deutlich, war ich doch immer genau an dem Ort des gerade Erzählten, im Heute oder im Gestern. Ich konnte mich ganz entspannt und genussvoll zurücklehnen und einfach zuhören - ein Hörerlebnis, ein Leckerbissen.

In die tiefsten Abgründe der Menschen lässt Judith Merchant schauen, lässt ihre Leser nicht mehr los. Das infame Spiel der Schwestern, die unterschwellige Gehässigkeit in all ihren schaurigen Momenten hat Argon Hörbuch mit ihren exzellenten Sprechern perfekt in Szene gesetzt. Ein Hörgenuss der Extraklasse, den ich sehr gerne weiterempfehle.

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Veröffentlicht am 12.09.2021

Eine wundervolle, eine märchenhafte Erzählung

Junge mit schwarzem Hahn
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Das Schicksal hat es nicht gut gemeint mit dem mittlerweile elfjährigen Martin. Den Dorfbewohnern ist er intellektuell haushoch überlegen, aber sie sind die Erwachsenen, behandeln ihn schlecht. Mit dem ...

Das Schicksal hat es nicht gut gemeint mit dem mittlerweile elfjährigen Martin. Den Dorfbewohnern ist er intellektuell haushoch überlegen, aber sie sind die Erwachsenen, behandeln ihn schlecht. Mit dem Kirchenmaler zieht es ihn fort aus dieser Enge, mit dabei ist der Hahn, sein ständiger Begleiter.

Der erste Roman von Stefanie vor Schulte – man möchte es gar nicht glauben. So sprachgewaltig und doch so zart und anrührend erzählt sie Martins Geschichte, die mich sofort faszinierte. Wie in einem surrealen Märchen kam ich mir zuweilen vor. Ein unschuldiges Kind, das außer einem Hahn nichts besitzt, das von den anderen herumgeschubst wird, macht die Welt heller, seine treuherzige und doch so kluge Art lässt trotz aller Einfalt ringsum an das Gute glauben. Ein Kind, das seinen Gefühlen ganz selbstverständlich ohne wenn und aber folgt. Es lässt sich nicht verbiegen, vergisst nie seine Ideale trotz aller Grausamkeit, die ihm überall begegnet.

Ein Buch über Mut und Menschlichkeit, das viel Wärme ausstrahlt. Es geht aber auch um Starrsinn und Verharren in alten Mustern, um Eitelkeit und Einsamkeit, um Unvernunft. Der Aberglaube, all die Dämonen blitzen immer wieder auf, lassen sich nur schwer vertreiben.

Zunächst musste ich mich in Martins Geschichte einfinden, war aber sehr schnell drin und wollte gar nicht mehr aus seinem Leben verschwinden. Wie soll ich den Hahn deuten, der sehr weise daherkommt – eine Metapher? Sein Schutzengel? Der ihn leitet, ermahnt, sein Gewissen und sein Begleiter ist. Ein so anderer Roman, der auf gut 200 Seiten viele Fragen aufwirft, sehr intensiv das Zwischenmenschliche ausleuchtet, um lange nachzuhallen.

Es ist ein Märchen – schön und grausam zugleich. Eine Reise ins Innerste, eine bildgewaltige Sprache. Sätze wie dieser hier: "Das Kind singt, als laufe es auf Sonnenstrahlen in den Himmel" wärmen ungemein. Diese wundervolle Erzählung hat was mystisches, gleitet ins Surreale. Auf eine sehr gut lesbare Art. Ich mag dieses Buch. Nein, ich bin gegeistert und kann nur jedem empfehlen, es zu lesen.

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Veröffentlicht am 09.09.2021

Spannender Hörgenuss

Die stumme Tänzerin
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Der Auftakt einer historischen Kriminalreihe – „Die stumme Tänzerin“ aus der Feder von Helga Glaesener - spielt auf St. Pauli im Jahre 1928. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen, gejagt wird er von der ...

Der Auftakt einer historischen Kriminalreihe – „Die stumme Tänzerin“ aus der Feder von Helga Glaesener - spielt auf St. Pauli im Jahre 1928. Ein Serienmörder treibt sein Unwesen, gejagt wird er von der ersten weiblichen Kriminalpolizei, der WKP. Paula, so heißt sie - die unangepasste, fortschrittliche Protagonistin. Trotz vieler Widerstände gibt sie nicht auf, ihr analytisches Denken kommt ihr zugute, sie zeigt Durchhaltevermögen. Eine Leiche wird gefunden, obszön drapiert. Eine Spur führt ins Zuhältermilieu, viel Feinarbeit ist erforderlich und bald entsteht ein ungeheuerlicher Verdacht.

Helga Glaesener hat hier einen aufregenden ersten Band vorgelegt, der die Anfänge der weiblichen Kriminalpolizei beleuchtet. Gut gefallen hat mir, dass vor beinahe hundert Jahren die Frauen aufbegehrten, in Männerdomänen eindrangen. Der sehr verzwickte Fall, die erste Leiche, war zunächst mysteriös bis hin zum spannungsgeladenen, ja dramatisch anmutenden und sehr überraschenden Ende.

Als Hörbuch habe ich diese unterhaltsamen 455 Minuten genossen, erzählt von der brillanten Sprecherin Christiane Marx. Durch ihre ausdrucksstarke Stimme, ihre sprachliche Vielfalt durchlebte ich hörend diese schrecklichen Gräueltaten, war mittendrin im Geschehen. Eine spannende Kriminalgeschichte, ein kurzweiliger Hörgenuss vom Feinsten. Gerne und immer wieder werde ich ihr lauschen.

Kurz und gut: Die Story hatte Biss, war interessant und fesselnd, das Hörerlebnis sowieso. Genau richtig für Krimifans und ich hoffe, dass Paulas zweiter Fall nicht allzu lange auf sich warten lässt.

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