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Veröffentlicht am 16.12.2021

Über das Überleben in schwierigen Zeiten

Die Übersetzerin
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Handlungsort des Romans von Jenny Lecoat, zu dem sie sich durch ihre eigene Familiengeschichte inspirieren ließ, ist die Kanalinsel Jersey, und wahrscheinlich sind die wenigsten Leser*innen mit deren jüngere ...

Handlungsort des Romans von Jenny Lecoat, zu dem sie sich durch ihre eigene Familiengeschichte inspirieren ließ, ist die Kanalinsel Jersey, und wahrscheinlich sind die wenigsten Leser*innen mit deren jüngere Geschichte vertraut. Mir war zumindest bis zu einem Urlaub vor vielen Jahren nicht bekannt, dass Jersey das einzige britische Gebiet war, das im Zweiten Weltkrieg von den Nationalsozialisten besetzt wurde. Bis heute zeugen davon die baulichen Überreste von Bunkern, Wachtürmen etc., die dem Atlantikwall zuzurechnen sind. Der Plan, Jersey als Basis zu benutzen, um von dort über die englische Südküste Großbritannien zu erobern, misslang glücklicherweise.

Im Zentrum der Handlung steht Hedy Bercu, eine österreichische Jüdin, die 1938 aus Wien nach Jersey flüchtet, um der Deportation zu entgehen. Wirklich willkommen ist sie, wie alle Flüchtlinge, dort nicht, sondern wird eher geduldet. Das ändert sich, als 1940 die Wehrmacht die Insel okkupiert und die Registrierung der Ausländer verlangt. In erster Linie geht es ihnen darum, ihre Macht zu demonstrieren und Juden aufzuspüren. Anfangs scheint sich für Hedy alles zum Guten zu wenden, bekommt sie doch einen Job als Übersetzerin bei den Deutschen und findet in einem Wehrmachtsoffizier einen Freund. Doch die Zeiten ändern sich, und so bleibt ihr drei Jahre später nichts anderes übrig, als ihr Überleben in fremde Hände zu legen und unterzutauchen.

Obwohl Hedys Erfahrungen ein Teil ihrer Familiengeschichte sind, schaut die Autorin äußerst distanziert auf deren Schicksal. Mitgefühl oder Empathie sucht man in diesen Beschreibungen vergebens, aber auch Hedy ist keine Sympathieträgerin. Was um sie herum passiert, interessiert sie nur soweit, wie es ihr eigenes Leben und ihre Sicherheit tangiert. Selbst diejenigen, die ihr zu überleben helfen, beurteilt sie mit Überheblichkeit und lediglich danach, ob und wie sehr sie ihr nützlich sein könnten.

Unter dem Strich ist „Die Übersetzerin“ ein enttäuschender Roman über das Überleben in schwierigen Zeiten, der sein Potenzial verschenkt hat. Kann man lesen, muss man aber nicht.

Veröffentlicht am 16.11.2021

Verpasste Chance

Das Haus in der Half Moon Street
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Historische Kriminalromane gibt es wie Sand am Meer. Und auch die Verortung von Zeit und Raum, heißt das Viktorianische Zeitalter und London, ist kein Alleinstellungsmerkmal. Sie sind mal mehr, mal weniger ...

Historische Kriminalromane gibt es wie Sand am Meer. Und auch die Verortung von Zeit und Raum, heißt das Viktorianische Zeitalter und London, ist kein Alleinstellungsmerkmal. Sie sind mal mehr, mal weniger gelungen, was meist darin begründet ist, ob es dem/der Autor*in gelingt, die gesellschaftliche Realität sowie den etablierten strengen Moralkodex dieser Zeit zu transportieren. Oft beschränkt sich dies auf wabernde Nebel, die sich im Schein der Gaslaternen vom Themse-Ufer aus ausbreiten und über das Kopfsteinpflaster der Elendsviertel legen.

Glücklicherweise verzichtet Alex Reeve in seinem Erstling „Das Haus in der Half Moon Street“ auf die Nebelschleier, verharrt aber dennoch weitestgehend in den gängigen Narrativen dieses Genres. Die Quartiere sind trostlos, die Lebensbedingungen im Bauch der Metropole von ständigen Existenznöten geprägt, speziell für die Frauen, die oft keinen anderen Ausweg als die Prostitution sehen, um zu überleben. Oder auch nicht, denn viele verrecken elendig auf dem Küchentisch einer Engelmacherin.

Doch es gibt etwas Neues, nämlich die Hauptfigur, Leo Stanhope. Geboren als Charlotte, Tochter eines Landpfarrers, früh wissend, dass sein Geschlecht nicht seiner Identität entspricht, hat er sich auf den Weg in die Metropole gemacht und arbeitet nun als Assistent in der Londoner Gerichtsmedizin, immer bemüht, sein Geheimnis zu bewahren. Einzige Vertraute ist Maria, eine junge Frau, die als Prostituierte arbeitet und in die er verliebt ist. Als sie tot aufgefunden wird, scheint er zunächst der einzige Verdächtige zu sein, was schließlich mit seiner Verhaftung endet. Doch hinter den Kulissen werden die Fäden gezogen, Leo kommt frei und setzt alles daran, den wahren Mörder seiner großen Liebe in einer Welt voller Lügen zu finden, ohne das Geheimnis seiner Identität zu verraten.

Aus diesen Gegebenheiten hätte man einen interessanten Kriminalroman entwickeln können. Hätte…hat man aber nicht. Die Story bleibt über weite Strecken diffus, angefüllt mich Nebensächlichkeiten, die Charakterzeichnungen überzeugen allesamt nicht. Der Zwiespalt, in dem sich Leo befindet, wird lediglich an körperlichen Merkmalen festgemacht, und zwar so, als ob dies alles wäre, was Transgender-Personen beschäftigt. Das hätte man durchaus differenzierter darstellen können und sollen. Man spürt zwar die Unsicherheit des Protagonisten, aber dessen ständiges Zaudern, sein Klagen zieht die Handlung über Gebühr in die Länge, ohne für einen Fortschritt zu sorgen, und zwar in jeder Hinsicht, insbesondere was die Persönlichkeitsentwicklung der Hauptfigur angeht. Aber vielleicht tut sich in dieser Richtung ja etwas in dem Nachfolgeband „Der Mord in der Rose Street“, der im Mai 2022 erscheinen wird.

Veröffentlicht am 05.11.2021

Ahnhem überspannt den Bogen

Meeressarg (Ein Fabian-Risk-Krimi 6)
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Bösewichte haben in Krimis/Thrillern Hochkonjunktur, aber selten reizt ein Autor das Thema so aus wie Schwede Stefan Ahnhem. Sechs Bände gibt es mittlerweile, in denen das Katz-und-Maus-Spiel zwischen ...

Bösewichte haben in Krimis/Thrillern Hochkonjunktur, aber selten reizt ein Autor das Thema so aus wie Schwede Stefan Ahnhem. Sechs Bände gibt es mittlerweile, in denen das Katz-und-Maus-Spiel zwischen Kim Sleizner, Fabian Risk und Dunja Hougard wesentlicher Bestandteil der Handlung ist. In „Meeressarg“, dem aktuellen und (hoffentlich) letzten Band der Reihe, überspannt Ahnhem allerdings den Bogen und überstrapaziert die Geduld seiner Leser*innen auf 504 Seiten über das erträgliche Maß hinaus.

Es gibt drei Eckpunkte der Handlung:

1) Eine männliche und eine weibliche Leiche werden samt Auto aus dem Hafenbecken geborgen. Die Identität des Mannes ist rasch geklärt, es ist der Leiter des dänischen Nachrichtendienstes, bei der Frau vermuten die ermittelnden Beamten, dass es sich um eine Prostituierte handelt.

2) Theodor, Fabian Risks Sohn, hat in der Untersuchungshaft Selbstmord begangen. Die Umstände sind mehr als dubios und lassen Risk an den offiziellen Darstellungen zweifeln, weshalb er seine eigene Ermittlung startet.

3) Die ehemalige Ermittlerin Dunja Hougard ist auf dem Kriegspfad, und der Gegner ist wie gewohnt ihr ehemaliger Chef Kim Sleizner. Sie möchte ihn entlarven, aus dem Spiel nehmen, sein schändliches Verhalten öffentlich machen und überwacht deshalb mit Hilfe zweier IT-Nerds jeden seiner Schritte.

Die Punkte 1 und 2 werden eher en passant abgehandelt, im Zentrum steht ganz klar das Duell zwischen Dunja und Sleizner. Letzterer gedeckt von einem mächtigen Netzwerk, dessen Mitglieder aus den obersten Etagen von Politik und Polizei dafür sorgen, dass er sein kriminelles Treiben ungehindert fortsetzen kann. Ein mächtiger Gegner, der Dunja und ihren Helfern alles abverlangt.

Gerade im Mittelteil, der sich überwiegend auf die Überwachung konzentriert, an der wir in aller Ausführlichkeit teilhaben müssen, zieht sich die Story extrem in die Länge. Spannung Fehlanzeige, man wünscht sich im Gegenteil sehnlichst das Ende herbei. Und der Showdown am Schluss…geschenkt.

Veröffentlicht am 24.10.2021

Bleibt leider hinter den Erwartungen zurück

Die Früchte, die man erntet
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Es sind zwei Handlungsstränge, die den siebten Band der schwedischen Krimireihe um Sebastian Bergman und das Team der Reichsmordkommission „Die Früchte, die man erntet“ bestimmen. Zum einen ist da der ...

Es sind zwei Handlungsstränge, die den siebten Band der schwedischen Krimireihe um Sebastian Bergman und das Team der Reichsmordkommission „Die Früchte, die man erntet“ bestimmen. Zum einen ist da der Heckenschütze, der wahllos aus dem Hinterhalt Menschen erschießt. Offenbar ohne Verbindung. Zum anderen stellt das Auffinden einer Leiche sämtliche Ermittlungsergebnisse in einem längst ad acta gelegten Mordfall in Frage und zwingt das Team, sich mit der Frage auseinanderzusetzen, ob ein Kollege involviert, vielleicht sogar der Mörder sein könnte.

Wie bereits in den Vorgängern der Reihe (mit dem Untertitel „Ein Fall für Sebastian Bergman“) liegt der Schwerpunkt weniger auf der Krimihandlung als auf der Dynamik, die sich aus den zwischenmenschlichen Beziehungen entwickelt. Und auch wenn Bergmans Tätigkeit als freiberuflicher Profiler bei der Reichsmordkommission nicht mehr gefragt ist, nimmt seine Person über weite Strecken eine wichtige Rolle ein. Er praktiziert mittlerweile wieder als Psychotherapeut und kümmert sich rührend um seine Enkeltochter. Aber dennoch ist es noch immer der tragische Verlust seiner Familie, der ihn nicht zur Ruhe kommen lässt. Verstärkt wird dies noch durch einen Klienten, der ihm offenbart, dass auch er seine Tochter durch den Tsunami verloren hat und Hilfe braucht. Ein thematischer Schwerpunkt, der wohl auch in künftigen Bänden Raum einnehmen wird.

Funktioniert dieses Buch als Kriminalroman? Nur bedingt. Die Handlung ist dürftig, kaum spannend, zieht sich in der ersten Hälfte in die Länge. Verweise auf die Vorgängerbände sind zwar vorhanden, für Neueinsteiger aber bei weitem nicht ausreichend, um die Bedeutung des Cold Case zu erfassen. Und die Schlusssequenz plus doppeltem Cliffhanger wirkt um der Dramatik willen dermaßen wild konstruiert, dass man nur noch den Kopf schütteln kann. Ein absurder Showdown, der jedem Actionfim zur Ehre gereicht, aber hier völlig fehl am Platz ist.

Veröffentlicht am 19.10.2021

Völlig überfrachtet und deshalb anstrengend zu lesen

Der Traumpalast
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Seit der Ausstrahlung von „Babylon Berlin“, der Fernsehserie, für die die Gereon-Rath-Romane Volker Kutschers die Vorlage lieferten, haben die zwanziger Jahre Hochkonjunktur in der Belletristik. Es gibt ...

Seit der Ausstrahlung von „Babylon Berlin“, der Fernsehserie, für die die Gereon-Rath-Romane Volker Kutschers die Vorlage lieferten, haben die zwanziger Jahre Hochkonjunktur in der Belletristik. Es gibt mittlerweile unzählige Romane, deren Handlung in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg angesiedelt ist. Und auch Peter Prange hat sich in seinem neuen Roman „Der Traumpalast“ diesen Zeitraum vorgenommen und richtet im Detail seinen Blick auf die Entstehung der deutschen Filmindustrie. Das ist zwar der wichtigste Aspekt, aber wie gewohnt belässt es Prange nicht nur bei der Schilderung der gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen dieser Zeit, sondern betrachtet in diesem Zusammenhang auch individuelle Schicksale, hier insbesondere die Beziehung zwischen Konstantin Reichenbach, dem Sohn einer vermögenden Bankiersfamilie, und Rahel Rosenberg, einer jungen Frau jüdischen Glaubens, die aus den vorbestimmten Rollenbildern ausbrechen und ihren Traum von einem selbstbestimmten Leben verwirklichen will.

Zur Veranschaulichung tauchen im Verlauf der Handlung unzählige Namen auf. Dies führt zwar gerade bei Leserinnen der älteren Generation zu zahlreichen Aha-Erlebnissen, ermüdet aber auch auf Dauer all diejenigen, die neben der Lektüre die Suchmaschinen nutzen, um die Korrektheit der dargestellten Ereignisse zu überprüfen.

So bleibt letztlich der Eindruck, dass dieser Roman ein ambitioniertes Unterfangen ist, wie immer durchaus bestens recherchiert, sich aber durch die Überfrachtung mit Themen und Personen selbst Cineasten und interessierten Leser
innen trocken und anstrengend zu lesen präsentiert. Konnte mich leider nicht überzeugen.