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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.04.2023

Zwischentöne

In blaukalter Tiefe
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Das Unausgesprochene wiegt schwer, schwerer als das gesprochene Wort. Es klebt an uns wie ein durchgeschwitztes T-Shirt, unangenehm, kalt, aber nicht zu vermeiden. Ein Schatten, der uns folgt, wir winken ...

Das Unausgesprochene wiegt schwer, schwerer als das gesprochene Wort. Es klebt an uns wie ein durchgeschwitztes T-Shirt, unangenehm, kalt, aber nicht zu vermeiden. Ein Schatten, der uns folgt, wir winken ihm zu, wissend, dass wir nicht ewig weichen können, denn irgendwann holt er uns ein und die Konsequenzen sind für uns nicht greifbar.

Das ist es auch, was Caroline empfindet, als ihr Mann Andreas mit ihr, seinem Arbeitskollegen Daniel und dessen Freundin Tanja zu einem Segeltörn in die Schären aufbricht. Der romantische Start der Reise entwickelt sich schnell zu zu einem dunklen Sturm, der alle in Gefahr bringt, denn nicht nur zwischen Caroline und ihrem Mann steht das Unausgesprochene wie eine Barriere.

Kristina Hauffs neuester Roman "In blaukalter Tiefe" spielt wie ihr Debüt mit den Elementen der Natur, eine Hommage an die Gezeiten und mittendrin menschliche Irrungen und Wirrungen. Das beklemmende Gefühl begleitet den Leser, lässt ihn nicht los. Unangenehm und dabei so authentisch schildert sie die Komplexität zwischenmenschlicher Beziehungen und kombiniert diese mit herausragenden Schilderungen der kontrastreichen Naturidylle. Das intensive Leseerlebnis hat mich bereits bei ihrem Debüt begeistert und auch ihr Mut sich diesen Themen zu stellen, die einen Spiegel auf uns und unsere Gesellschaft werfen, nachdenklich stimmen und somit lange nachhallen. Eine Empfehlung für alle, die sich einen Segeltörn zu romantisch vorstellen und kontrastreiche Beziehungen faszinierend finden und gerne zwischen den Zeilen lesen.

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Veröffentlicht am 13.11.2021

Wenn ich fort bin, wird alles besser

Wenn ich wiederkomme
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Als ich die ersten Zeilen von Marco Balzanos Familiendrama "Wenn ich wiederkomme" gelesen habe, kamen meine Gedanken bereits ins Stocken. "Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen". Der Satz, ...

Als ich die ersten Zeilen von Marco Balzanos Familiendrama "Wenn ich wiederkomme" gelesen habe, kamen meine Gedanken bereits ins Stocken. "Du hättest eigentlich gar nicht geboren werden dürfen". Der Satz, den eine Mutter vielleicht manchmal denkt, zu schwierigen Zeiten, wenn das ganze Alltagsgerüst über einem zusammenbricht und man am liebsten den Tag unter eine Decke verkrochen verbringen will. Dieser Satz ausgesprochen jedoch, in das Gesicht eben jener Kinder, der ist unwiderruflich und so mächtig in seinen Folgen, wie der Schmetterlingsflügelschlag, der einen Orkan auslöst. Unabsehbare Konsequenzen der Macht unserer Worte, die wir in Momenten, in denen wir nicht bei uns selbst sind, hinaus in die Welt schicken und nicht mehr einzufangen vermögen.

Daniela lebt in einer rumänischen Stadt am Existenzminimum zusammen mit ihrem Mann und ihren zwei Kindern. Wie viele träumt sie von einem besseren Leben für ihre Kinder und schlussendlich auch sich selbst, also sucht sie das Glück in Mailand. Die Arbeit ist beschwerlich und sie vermisst ihr Leben und vor allem ihre Kinder. Als ihr Sohn einen schwerwiegenden Unfall erleidet, sieht sie sich gezwungen, der Wahrheit ins Auge zu blicken, denn Glück bedeutet nicht nur ein gewisser Wohlstand, sondern Glück bedeutet auch Zeit.

Der Stil ist nahezu erschreckend leicht, was in Kontrast zur schweren Thematik steht. Das erzeugt jedoch eine gewisse objektive Gleichgültigkeit auf die subjektive Sicht auf die Dinge, die dem Leser aus allen Perspektiven entgegenschallt. Egal, wie intensiv die Gedanken sind, der Leser kratzt durch die Wechsel immer nur an der Oberfläche und so fühlte ich mich über weite Strecken versunken im Sumpf der ungehörten Gedanken und verborgenen Emotionen. Vor allem die Wechsel der Protagonisten hat mir sehr gut gefallen, dabei bleibt die Erzählsicht spannend und fesselnd. Viele wunderbare Metaphern und visuelle Momente erzeugen nahezu einen Klang in meinem Kopf, wie eine Sinfonie der Sinnlosigkeit der Situation. Die Protagonisten sind dabei gut skizziert, nicht zu komplex dargestellt und bleiben doch mysteriös. Es fühlt sich an wie eine Begegnung auf der Straße, die auf einen Kaffee reicht, einige Gespräche und die dich dann auf unbestimmte Zeit in die Nacht entlässt. Eine Empfehlung für alle, die vielschichtige Romane schätzen, die mehr über die "Italienkrankheit" erfahren möchten und die viel aus einer Geschichte mitnehmen können, die dich mit Fragezeichen im Kopf in den Alltag entlässt.

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Veröffentlicht am 13.06.2021

Das Palais im politischen Kreuzfeuer

Palais Heiligendamm - Stürmische Zeiten
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Die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs stecken allen noch in den Knochen, als sich Deutschland wiederum als machthungrige Nation begreift mit dem absurden Ziel der Weltherrschaft. Mittendrin das Palais ...

Die Nachwirkungen des Ersten Weltkriegs stecken allen noch in den Knochen, als sich Deutschland wiederum als machthungrige Nation begreift mit dem absurden Ziel der Weltherrschaft. Mittendrin das Palais und die Familie Kuhlmann in der zweiten und dritten Generation, getrieben von der Armut vergangener Zeiten mit dem Glauben an eine bessere Zeit, welches sich schnell als Irrtum entpuppt.

1922- Das Palais erstrahlt in neuem Glanz, doch Gäste bleiben fern, bis sich die Möglichkeit ergibt, dass das wunderschöne Hotel in Bad Doberan als Kulisse für einen Blockbuster dient. So kommen sich auch Julius und Elisabeth wieder näher, wäre da nicht das Misstrauen, das sich zwischen sie gesellt. Paul hingegen zweifelt immer mehr an der Entscheidung für eine Ehe mit Helene und lässt sich in den Strudel der NSDAP ziehen in Form von Carl, der in von der neuen Ordnung der Welt überzeugt und so das Palais und seine ganze Familie in den politischen Strudel der Zeit zieht.

Der Stil ist leicht wie eh und je, die Handlung authentisch, der Beginn in Anknüpfung an Band 1 nachvollziehbar gezeichnet und somit nahezu nahtlos. Die Figuren sind gekennzeichnet durch die traumatischen Ereignisse des ersten Teils und wirken nicht mehr so sehr konzentriert auf lapidare Ereignisse. Elisabeth ist der jugendlichen Wildheit entwachsen und leitet nun das Palais mit großem Geschick und Selbstbewusstsein. Die Beziehung zu Julius ist angespannt und Elisabeth sowie er selbst stehen ihrem Glück wieder selbst im Weg. Paul kann seine wahre Gesinnung nicht weiter verheimlichen und sieht in Carl seine Möglichkeit auf ein glückliches Leben. Die politische Maschinerie ist der dominante Part der Erzählung und dadurch rückt das Palais und der Hotellerie Charme in den Hintergrund. Leider ist auch das Tempo der Geschichte sehr rasant, wo ich mir gerne noch Zeit gelassen hätte. Mir gefällt jedoch der bekannte Charme des ersten Teils und die weitere Integration geliebter Charaktere. Eine Empfehlung für Fans von leichten Erzählungen, familiären als auch politischen Verstrickungen und herzerwärmender Liebesgeschichten.

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Veröffentlicht am 27.02.2021

Die Grenzen der Kommunikation

Sprich mit mir
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Faszination Schimpansen- ich konnte mich davon noch nie lossagen. Angefangen bei Bildern von Jane Goodall, die ihr Verhalten intensiv studierte, unter ihnen lebte und ihren Kampf für die Schimpansen bis ...

Faszination Schimpansen- ich konnte mich davon noch nie lossagen. Angefangen bei Bildern von Jane Goodall, die ihr Verhalten intensiv studierte, unter ihnen lebte und ihren Kampf für die Schimpansen bis heute führt, über Hollywood Filme und zahlreiche Dokumentationen. Die Frage, die immer wieder auftaucht, ist der grundlegende Unterschied zwischen Affen und uns, denn wenn wir allein den Faktor Erbgut betrachten, dann stimmt dieses zu 99% überein. Wo fängt das Tier sein an, wo hört es auf und gibt es die Möglichkeit einen Schimpansen so zu erziehen, dass wir ihn nicht mehr als Tier wahrnehmen, sondern als Mensch?

Genau diesem Thema widmet sich das neuste Werk von T.C. Boyle in "Sprich mit mir" vom Hanser Verlag in eindringlicher, herausfordernder Art und Weise, bewusst mit dem Ziel anzuecken, stellenweise zu übertreiben und mich sensibilisiert zurückzulassen.

Sam ist ein zweijähriger Schimpanse, der Menschen aufgrund seiner Aufzucht als Artgenossen auffasst, die Gebärdensprache dank seines Ziehvaters Dr. Schermerhorn in erstaunlicher Art und Weise beherrscht. Der Schimpansen Junge wird von eben diesem in der Nähe des Campus aufgezogen. Eine junge Frau mit Namen Aimee studiert dort und bewirbt sich zunächst auf einen Job als Hilfe für Sam. Schnell wird aus dem Job eine Passion, als jedoch der eigentliche Besitzer von Sam, Dr. Moncrief, in der Studie zur Erforschung der sprachlichen Interaktion zwischen Mensch und Tier nicht mehr den geforderten Erfolg sieht, holt er Sam kurzerhand ab, der von nun an für pharmazeutische Experimente herhalten soll. Aimee ist erschüttert und zögert nicht lange, bevor sie zu der abenteuerlichen Reise zur Rettung von Sam aufbricht, die ihr Leben nachhaltig verändern wird.

Der Stil ist leicht, einnehmend, zugleich intensiv, die Zeilen geladen voller Emotionen, Witz und Wahrhaftigkeit. Die aufgeworfenen Fragen sind essenziell und tiefgründig, führen den Leser immer wieder zurück zum Ziel des Projektes mit Sam- der Überwindung von nur tierischen Trieben hin zu einer gar menschlichen Kommunikationsbasis mit einer klaren Meinung von Seiten Sams, der es entsprechend auszudrücken weiß. Die Entwicklung und Interaktion mit dem Schimpansen ist mit viel Liebe zum Detail beschrieben und somit haben nicht nur die Protagonisten Tiefgang, sondern zugleich auch Sam durch die vielen Passagen, die ihm gewidmet sind, seinen Gefühlen, Launen und der Beziehungswelt, die er zu seinem Umfeld aufbaut. Für mich vordergründig ist die erstaunliche Reise der Figuren und die Ironie der Geschichte, die Achterbahnfahrt der Gefühle und das Bewusstsein, dass wir uns als menschliche Spezies tendenziell erhaben fühlen, allwissend, die Fakten definierend und dabei die kleinen, feinen Momente übersehen, die die Welt verändern könnten, wenn wir in der Lage wären sie wahrzunehmen. Ein Mahnmal für unsere Gesellschaft, den wissenschaftlichen Fortschritt und das fehlende Empathie Gefühl mittendrin, dass uns zurückwirft. Eine Empfehlung für alle, die die Kommunikation zwischen Menschen und Schimpansen faszinierend finden, Geschichten mit einer gewissen Tragik wertschätzen können und sich der Welt der Wissenschaft sehenden Auges öffnen möchten.

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Veröffentlicht am 31.12.2020

Die kleine, feine Geschichte über unsere Gesellschaft

Fast ein neues Leben
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12 Geschichten. Kleine, kurze, kompakte Kapitel. Mehr braucht es nicht, um von einem alten Leben ins neue zu führen. Mehr braucht es nicht, um durch alle Höhen und Tiefen eines Menschen zu gleiten, der ...

12 Geschichten. Kleine, kurze, kompakte Kapitel. Mehr braucht es nicht, um von einem alten Leben ins neue zu führen. Mehr braucht es nicht, um durch alle Höhen und Tiefen eines Menschen zu gleiten, der sich von seinem Hintergrund nicht lösen kann. Mehr braucht es nicht, um fast ein ganzes Leben zu reflektieren, neu aber wiederum alt.

Einfach und reduziert begegnete mir physisch der Debütroman "Fast ein neues Leben" von Anna Prizkau. Ein handliches Format, schwarz mit weißem Kontrast, das Cover abstrakt, fast wie ein Gemälde von Pollock, bei dem alles nur die eigene Reflektion, das eigene Gefühl, die Archetypen aktiviert. Das innere des Romans hingegen bietet die komplette Bandbreite von Geschichten, die einer Einwandererfamilie begegnen. Die Tochter eben dieser schildert nicht chronologisch, sondern vielmehr vom Bauchgefühl getrieben alle Ereignisse, die ihr begegnen. Vom jungen Mädchen, die sich der Willkür und Macht ihrer Mitschülerin ausgesetzt sieht und das zerrüttete Verhältnis innerhalb der Familie registriert, hin zu einer jungen Frau, die sich mit Belästigungen auseinandersetzen muss, die sogar in Gewalt enden. Voller Hoffnung startet sie in ein vermeintlich neues Leben, aber alles, was ihr entgegen schlägt sind Vorurteile, Hass und Rassismus, gepaart mit psychischen Erkrankungen.

Anna Prizkaus Stil ist leicht, die Worte jedoch schwer, das Ungesagte zwischen den Zeilen verfolgt den Leser, erschüttert bis ins Mark und führt dazu, dass ich an vielen Stellen hinterfragen musste, ob ich selbst nicht auch an einigen Stellen in meinem Leben das „neue Leben“ verhindert habe, unbewusst und unbedacht. Die Geschichte springt in der Zeit, wirkt defragmentiert und doch wie kleine Puzzleteile, die sich immer weiter zu einem großen Bild zusammenfügen. Die Erzählerin erlebt eben all diese Kapitel selbst, interagiert an so vielen Fronten mit so vielen Protagonisten, dass ich die Überforderung gefühlt habe, die Verzweiflung und auch ihre anfängliche Naivität durch den Wunsch, dass dieses neue Leben funktioniert. Trotzdem ist die Erzählerin ungebrochen und der Funke der Hoffnung lodert. Eine Empfehlung für alle, die tragische Geschichten zu schätzen wissen, emotionsgeladene Handlungen aufsaugen und sich selbst bereits gefragt haben, wo sie sich zum Thema Rassismus positionieren und inwieweit wir uns alle nicht immer von Vorurteilen befreien können.

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