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Veröffentlicht am 25.03.2022

Wie die Welt langsam verschwindet

Insel der verlorenen Erinnerung
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Diese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung ...

Diese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung daran. Es ruft keine Gefühle hervor, wenn Glöckchen, Bänder oder Briefmarken, Rosen, bestimmte Tiere oder gar Fotografien verschwinden. Nur wenige haben die Fähigkeit, die Erinnerung an diese verschwundenen Dinge zu bewahren. Diese Menschen sind das erklärte Ziel der Erinnerungspolizei, die immer häufiger, öffentlicher und brutaler auf die Suche nach diesen Personen geht. Wer Glück hat, findet einen Mutigen, der ihn versteckt. So findet der Verleger R Unterschlupf bei einer seiner Autorinnen, die bereits ihre Mutter an die Erinnerungspolizei verloren hat. Unaufhaltsam werden die Dinge auf der Insel weniger, das Überleben schwieriger.

In einer sehr poetischen, sanften, leisen und höflichen Sprache werden diese schlimmen Ereignisse, denen sich die Menschen scheinbar willenlos fügen, von der Protagonistin, eben jener namenlosen Romanautorin, aus der Ich-Perspektive erzählt. Die handelnden Charakter sind übersichtlich. Es sind drei Personen, die die Geschichte tragen. Neben der Autorin und ihrem Verleger gibt es noch einen alten Mann, der den beiden anderen hilft und mir während des Lesens besonders ans Herz gewachsen ist. Die Lebensumstände verarbeitet die Protagonistin in ihren Romanen. Ihre Texte sind Metafiktion in Ogawas Roman. Diese Textpassagen sind zunächst banal, entwickeln sich aber in eine bedrohliche Richtung, die immer mehr die Realität abbilden.

Die Geschichte handelt vom Verschwinden und Erinnern, vom Eingesperrtsein und der Hoffnung. Anspielungen finden sich nicht nur auf die NS-Diktatur, sondern auch z.B. auf "1984" von Orwell. Ogawas Roman läßt einen verstört zurück, regt aber auch unbedingt zum Nachdenken an. Nichts für ein lauschiges Leseerlebnis.

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Veröffentlicht am 13.03.2022

Staub soweit das Auge reicht

Die vier Winde
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Elsa, von jeher wegen ihrer zarten Natur von der Familie in die Schranken gewiesen, heiratet unter ihrem Stand einen jungen italienischstämmigen Mann. Fortan lebt sie mit ihm auf der Farm seiner Eltern, ...

Elsa, von jeher wegen ihrer zarten Natur von der Familie in die Schranken gewiesen, heiratet unter ihrem Stand einen jungen italienischstämmigen Mann. Fortan lebt sie mit ihm auf der Farm seiner Eltern, die es durch viel Fleiß und harte Arbeit zu einem bescheidenen Wohlstand gebracht haben. Doch die guten Jahre der 1920er in Texas sind irgendwann zu Ende. Die einst herrlichen und ertragreichen Weizenfelder sind nur noch staubige Ebenen. Es wird ein furchtbares Jahrzehnt werden, in dem sehr wenig Regen fällt. Täglich kämpft Elsa mit ihrer Familie um das Überleben, um genug Nahrung, Wasser und Schutz vor den alles verschlingenden Sandstürmen.

Kristin Hannah zeichnet an Elsa das Schicksal der Menschen in der Dust Bowl in den 1930er Jahren nach. Neben der Weltwirtschaftskrise machten die Trockenheit und die Sandstürme in den Great Plains aus hunderttausenden von Amerikanerinnen und Amerikanern bettelarme Menschen. Eine riesige Gruppe von Wanderarbeitern entstand, die ihr Glück in Kalifornien suchte. Die unglaubliche Naturkatastrophe und das daraus resultierende Leid schildert Hannah ebenso eindringlich wie das erniedrigende Leben als Wanderarbeiter*in auf der Suche nach einem Job, um nicht zu verhungern.

Die Handlung begann für mich etwas klischeehaft und seicht. Als aber die schweren Zeiten hereinbrachen, hat die Geschichte eine große Sogkraft entwickelt. Diese Schilderungen fand ich sehr gelungen, auch wenn mir die Protagonistin nicht ans Herz gewachsen ist und ich mich ihr nicht nahe gefühlt habe. Das Elend, der Kummer um das verlorene Land und die Tiere, die Demütigungen als besitzlose Menschen und das Ausbeutertum der Plantagenbesitzer in Kalifornien werden schonungslos aufgezeigt. Einige historische Details kannte ich bereits, vieles war mir aber auch neu.

Mir hat das Buch wirklich gut gefallen. Die Handlung entwickelt sich und läßt die Leser nicht mehr los. Eine wohl verpackte Geschichtsstunde, die aufrüttelt und obwohl die Ereignisse fast 100 Jahre zurückliegen, hochaktuell ist. Es geht um selbstgemachte Katastrophen, Gier, Flucht und wie mit Menschen umgegangen wird, die alles verloren haben. Es geht aber auch um Freundschaft in schwierigsten Zeiten und helfende Hände, vor allem aber um die Frauen, die große Stärke beweisen und schier Übermenschliches leisten, um ihre Familien zu retten.

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Veröffentlicht am 20.02.2022

Sonne und Schatten über dem Papierpalast

Der Papierpalast
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Seit ihrer Kindheit kommt Elle Bishop jeden Sommer nach Cape Cod und verbringt dort mit der Familie die Ferien. Wochen voller Sonne, Baden, Picknicks und BBQs. Sie liebt die einfachen Hütten mit der Pappverkleidung ...

Seit ihrer Kindheit kommt Elle Bishop jeden Sommer nach Cape Cod und verbringt dort mit der Familie die Ferien. Wochen voller Sonne, Baden, Picknicks und BBQs. Sie liebt die einfachen Hütten mit der Pappverkleidung an den Wänden, voller Mäusenester und Spinnen. Hier in Back Woods war sie glücklich, hier war sie voller Angst und Verzweiflung, hier hat sich ihr Schicksal schon vor langer Zeit entschieden. Hier hat sie Jonas kennengelernt, die Liebe ihres Lebens und dennoch hat sie einen anderen geheiratet.

Ich hatte mich sehr auf das Buch gefreut. Eine spannende Familien- und Liebesgeschichte auf Cape Cod ist genau mein Ding. Die Leseprobe fand ich klasse, dann bin ich aber ganz schwer in die Geschichte hineingekommen. Es gab so viele Personen und Zeitsprünge, da hatte ich zwischendurch den Faden verloren und musste mir tatsächlich eine Namensliste anlegen. Die Autorin schreibt über einen einzigen Tag und läßt durch Rückblicke Elles ganzes Leben Revue passieren. Dabei geht es zurück bis zur Großmutter und ihren drei Ehemännern, wobei der erste den Papierpalast erbaut hat. Auch Wallace, Elles Mutter, hatte drei Ehepartner, dazu kommen diverse Großeltern, neue Ehepartner der Ex-Männer, Stiefgeschwister und viel Handlung, die zum Teil erschreckend ist, aber für den Verlauf wichtig sein wird. Mit diesem ersten Teil (bis Seite 165) habe ich mich wirklich schwergetan. Die Überfrachtung an Personal und Details in Kombination mit den Zeitsprüngen bzw. Rückblicken hat mich etwas überfordert. Dann kamen die nächsten Teile, die chronologisch erzählt wurden und mir wesentlich besser gefallen haben, da kam für mich endlich Lesefluss auf. Viele inhaltliche Lücken wurden gefüllt, es gab einige Wendungen und ein Ende, das mich überrascht hat.

Miranda Cowley Heller schreibt aus der Sicht Elles und läßt uns ganz tief in das Innere ihrer Protagonistin schauen. Ihre Gefühlswelt wird vor uns ausgebreitet, wir leiden mit ihr und tragen ihre Lebensentscheidung mit, die sie nach Jahrzehnten trifft. Die Bilder, die Cowley Heller durch die Augen von Elle vom Papierpalast, dem See und der Natur dort zeichnet, sind wunderschön. Die Autorin kann wirklich "Geschichten erzählen" und vermag zu fesseln. Mich hat die Geschichte erst später gepackt, aber dann konnte ich das Buch nicht mehr weglegen. (Achtung, wie schon angedeutet, handelt es sich nicht um eine reine Lovestory, hier kommen harte und furchtbare Schicksale ans Licht.)

Ein echter Schmöker vor einer tollen Kulisse, mit einer recht verzwickten Familiengeschichte (was da alles passiert!), spannenden Frauenfiguren und einer Liebesgeschichte - oder eher zwei Liebesgeschichten und das ist dann immer auch tragisch.

Übersetzt von Susanne Höbel, erscheint am 31. März 2022.

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Veröffentlicht am 19.01.2022

Brief an eine Mutter, die nicht lesen kann

Auf Erden sind wir kurz grandios
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Little Dog, Ende zwanzig, aufgewachsen mit seiner vietnamesischen Großmutter Lan und einer Mutter, die bis zur Erschöpfung in einem Nagelstudio arbeitet und ihn schlägt, bis er 13 Jahre alt ist. Rose spricht ...

Little Dog, Ende zwanzig, aufgewachsen mit seiner vietnamesischen Großmutter Lan und einer Mutter, die bis zur Erschöpfung in einem Nagelstudio arbeitet und ihn schlägt, bis er 13 Jahre alt ist. Rose spricht kaum Englisch und wird den Brief nie lesen, den Little Dog für sie schreibt. 262 Seiten angefüllt mit Träumen und Erinnerungen, voll von Leben und Trauer, Schmerz und Liebe. Wie fühlt es sich an, kein "weißer" Amerikaner zu sein, sondern immer Außenseiter zu bleiben? Wie fühlt es sich an, wenn man sich in einen anderen Jungen verliebt?

Ocean Vuong hat zuvor Lyrik veröffentlicht und dafür mehrere Preis gewonnen. Sein Romandebüt zeigt sich ebenfalls von diesem lyrischen Schaffen gezeichnet. So ist der Roman keine runde durchgängige Geschichte, sondern wird in kleinen Blasen erzählt, eingebettet in Gedanken und Bilder des Erzählers. "Ich erzähle dir weniger eine Geschichte als ein Schiffswrack - die Teile dahintreibend, endlich lesbar." (S 207) Das Zitat beschreibt es ganz treffend. Die bildhafte Sprache und die mit Metaphern angefüllten Sätze haben mich viele Post-Its verwenden lassen. Einzelne Zeilen, die so viel aussagen, so viel Inhalt haben, in Form von rhythmischer Lyrik (Wiederholungsfiguren) und auch Prosagedichten (bildstarke Elemente). Das hat mich sehr beeindruckt. Diese besondere Art des Schreibens wird auch optisch hervorgehoben, durch Absätze oder Gliederungen. Dennoch haben mich die längeren erzählerischen Abschnitte mehr gefesselt, in denen die Geschichte vorangekommen ist und bestimmte Lebensabschnitte ausführlicher dargestellt wurden: Das Leben in Vietnam, den Hinterzimmern der amerikanischen Nagelstudios oder die Arbeit auf der Tabak-Farm. Erschütternd waren die Abschnitte zum Vietnamkrieg, zu intim für mich die Begegnungen mit Trevor.

Insgesamt eine anspruchsvolle, starke und nachdenklich machende Lektüre. Sicherlich kein Buch für zwischendurch, vielmehr die sensible und tiefe Darstellung eines zerrissenen Menschen, der durch das Schreiben ein Ventil gefunden hat, seinen innersten Gefühlen Ausdruck zu verleihen.

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Veröffentlicht am 10.01.2022

Zwischen Istanbul und Oxford

Der Geruch des Paradieses
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Peri ist eine Mutter und Ehefrau, die scheinbar ein normales, wenn auch gut situiertes Leben in Istanbul führt. Ziemlich langweilig findet ihrer Tochter. Als diese jedoch unverhofft erfährt, dass Peri ...

Peri ist eine Mutter und Ehefrau, die scheinbar ein normales, wenn auch gut situiertes Leben in Istanbul führt. Ziemlich langweilig findet ihrer Tochter. Als diese jedoch unverhofft erfährt, dass Peri früher einmal in Oxford studiert hat, sieht sie ihre Mutter mit anderen Augen und auch Peri erinnert sich an eine Zeit zurück, als alles noch möglich schien. Ein altes Foto, das Peri mit zwei Mitstudentinnen und einem Professor zeigt, bringt die Vergangenheit Stückchen für Stückchen ans Licht. Eine Vergangenheit, mit der Peri noch nicht abgeschlossen hat.

Bücher von Elif Shafak sind mir auf Instagram immer wieder begegnet und nun habe ich meinen ersten Roman dieser Autorin gelesen und ich habe ihn sehr gerne gelesen. Die Protagonistin Peri steht seit ihrer Kindheit zwischen zwei Lagern, dem ihrer tiefgläubigen Mutter und dem ihres gerne trinkenden Vaters, einem Verehrer Atatürks, "ein Gegensatz wie Schenke und Moschee" (S. 30). Peri sieht sich selbst als eine unentschlossene Person in Bezug auf Religion. Während ihres Studiums verfolgen sie diese beiden Lager weiter, in Form ihrer besten Freundinnen. Hilfe und tiefere Einsichten erhofft sie sich vom umstrittenen Professor Azur. "Umgeben von Tausenden Titeln, jeder für sich ein Zufluchtsort, war sie selig. Doch ein Gedanke kehrte in dieser unermesslichen Weite des Wissens sonderbarerweise immer wieder: der Gedanke an Gott." (S. 223) Der Roman ist angefüllt mit Gesprächen und Gedanken über die Unterschiede der Kulturen, ihren Wertvorstellungen und dem Umgang mit Glauben, Gott und Philosophie. Alles verwoben in die Lebensgeschichte einer Frau, die modern und fortschrittlich sein möchte und doch immer wieder von sich selbst zurückgerufen wird, die voller Zweifel und Unsicherheit steckt, die wortwörtlich vor sich davonläuft. Das schildert Shafak in einer angenehmen Sprache, sehr bildhaft z.B. wenn es um Sinneseindrücke wie das Essen geht und sehr klug wenn es um theoretische Fragen geht.

Obwohl das Buch wegen der vielen Passagen, in denen über Religion und Gott philosophiert wird, sicherlich nicht jedem oder jeder gefallen wird, hat es mich sehr angesprochen. Die Geschichte von Peri wird geschickt in zwei Strängen erzählt. Während eines einzigen Abends in der Gegenwart wird das Leben der Protagonistin immer wieder in Kapiteln dazwischengeschoben. Mir hat gefallen, dass alle Personen während des Abendessens (Ausnahme ist Peris Ehemann) nur mit ihren Berufsbezeichnungen versehen werden, z.B. Geschäftsmann oder PR-Frau. Das gleiche spielt sich bei einem Abendessen in Oxford ab, nur die Hauptcharaktere haben Namen, die anderen sind der Theologieprofessor oder der Professor für Quantenphysik. Daher hatten sie für mich immer eine Art Stellvertretercharakter. Ich fand diesen Kniff interessant.

Insgesamt hat mir das Buch gut gefallen, es hat eine Sogwirkung entfaltet. Ich wollte unbedingt wissen, wie es ausgeht, aber leider ist das Ende nicht ganz mein Fall. Eine Lektüre über zahlreiche kulturelle und religiöse Aspekt, die einen an vielen Stellen nachdenklich werden läßt. Vier Sterne.

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