Wie die Welt langsam verschwindet
Insel der verlorenen ErinnerungDiese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung ...
Diese bizarre Geschichte hat Yoko Ogawa bereits 1994 geschrieben: Auf einer namenlosen Insel hat sich die Bevölkerung damit abgefunden, dass immer wieder Dinge verschwinden und mit ihnen auch die Erinnerung daran. Es ruft keine Gefühle hervor, wenn Glöckchen, Bänder oder Briefmarken, Rosen, bestimmte Tiere oder gar Fotografien verschwinden. Nur wenige haben die Fähigkeit, die Erinnerung an diese verschwundenen Dinge zu bewahren. Diese Menschen sind das erklärte Ziel der Erinnerungspolizei, die immer häufiger, öffentlicher und brutaler auf die Suche nach diesen Personen geht. Wer Glück hat, findet einen Mutigen, der ihn versteckt. So findet der Verleger R Unterschlupf bei einer seiner Autorinnen, die bereits ihre Mutter an die Erinnerungspolizei verloren hat. Unaufhaltsam werden die Dinge auf der Insel weniger, das Überleben schwieriger.
In einer sehr poetischen, sanften, leisen und höflichen Sprache werden diese schlimmen Ereignisse, denen sich die Menschen scheinbar willenlos fügen, von der Protagonistin, eben jener namenlosen Romanautorin, aus der Ich-Perspektive erzählt. Die handelnden Charakter sind übersichtlich. Es sind drei Personen, die die Geschichte tragen. Neben der Autorin und ihrem Verleger gibt es noch einen alten Mann, der den beiden anderen hilft und mir während des Lesens besonders ans Herz gewachsen ist. Die Lebensumstände verarbeitet die Protagonistin in ihren Romanen. Ihre Texte sind Metafiktion in Ogawas Roman. Diese Textpassagen sind zunächst banal, entwickeln sich aber in eine bedrohliche Richtung, die immer mehr die Realität abbilden.
Die Geschichte handelt vom Verschwinden und Erinnern, vom Eingesperrtsein und der Hoffnung. Anspielungen finden sich nicht nur auf die NS-Diktatur, sondern auch z.B. auf "1984" von Orwell. Ogawas Roman läßt einen verstört zurück, regt aber auch unbedingt zum Nachdenken an. Nichts für ein lauschiges Leseerlebnis.