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Veröffentlicht am 24.07.2022

So unaufgeregt, so mitreißend!

Die karierten Mädchen
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Das war eins von diesen Büchern, an die ich aus welchen Gründen auch immer keine allzu hohen Erwartungen hatte. Ob es an dem unscheinbaren Cover lag oder an dem ernsten Thema, kann ich gar nicht sagen. ...

Das war eins von diesen Büchern, an die ich aus welchen Gründen auch immer keine allzu hohen Erwartungen hatte. Ob es an dem unscheinbaren Cover lag oder an dem ernsten Thema, kann ich gar nicht sagen. Was ich allerdings sagen kann, ist, dass ich unglaublich falsch lag. „Die karierten Mädchen“ haben sich als wahrer Schatz erwiesen und ich habe jede einzelne Seite geliebt.

„Die karierten Mädchen“ erzählen eine Lebensgeschichte, die Geschichte von Klara Möbius. Klara ist eine junge, bodenständige Frau mit Prinzipien, die ihrer Zeit weit voraus sind. Inmitten der Weltwirtschaftskrise hat sie eine Anstellung als Lehrerin in einem Kinderheim ergattern können. Trotz der schwierigen Zeiten lief alles eine Weile in geregelten Bahnen und Klara entpuppte sich als große Bereicherung für das Kinderheim in Oranienbaum. Und dann kam Tolla, ein Waisenkind – mit jüdischen Wurzeln.
Was dann folgte, hat mich besonders fasziniert. Wir müssen mit ansehen, wie sich unsere Protagonistin vollkommen dafür einsetzt, das Kinderheim zu verstaatlichen. Objektiv betrachtet selbstverständlich eine furchtbare Entscheidung: Sie wird mehr oder weniger freiwillig Teil des Naziregimes. Doch gleichzeitig lehnt sie sich auch dagegen auf, indem sie persönlich weder die nationalsozialistischen Werte vertritt noch diese ihren Schülerinnen lehrt und natürlich indem sie ein jüdisches Mädchen bei sich versteckt und sich als ihre Mutter ausgibt. Zum Schutz ihrer Mädchen, des Kinderheims und ihres privaten Glücks, passt sie sich dem dritten Reich an und ebnet der nationalsozialistischen Frauenbewegung ein Stück weit den Weg. Sie teilte die Ansichten der Regierung nicht und war in ihrem Innersten kein Nazi, dennoch unternahm sie nichts dagegen. Sie war keine Rebellin, ihr fehlte der Mut, aktiven Widerstand zu leisten, hat so indirekt sämtliche Schandtaten unterstützt. Dennoch bringe ich es nicht über mich, sie dafür zu verurteilen. Ich kann ihre Motive beängstigend gut nachvollziehen und ich würde heucheln, wenn ich behauptete, ich hätte damals anders als Klara gehandelt, wenn ich behauptete, ich wäre mutiger gewesen.

Und genau diesen Aspekt schätze ich an den karierten Mädchen so sehr: Es ist keine Heldengeschichte von mutigen Rebellen, die jeglichen Hindernissen zum Trotz für ihre Vision und für eine bessere Welt kämpfen. Das hier ist die Geschichte einer ganz normalen Frau, die versucht in jenen schwierigen Zeiten die richtigen Entscheidungen zu treffen. Ich will Klara nicht von ihrer Schuld freisprechen, denn schuldig ist sie definitiv, so schuldig wie alle Deutschen damals, die einfach nur zusahen, die im Nachhinein von nichts gewusst haben. Doch die Geschichte ist realistisch. Sie ist so realistisch wie sie nur sein kann, weil sie nichts anderes als die Realität abbildet. Wir müssen uns mit unserer eigenen Natur auseinandersetzten, und das geht nicht, wenn wir nur die Geschichten von glorreichen Helden lesen. Denn wir sind keine Helden. Wir sind Menschen, und daran ist nichts falsch.

Trotz der Thematisierungen von Nationalsozialismus, Weltkrieg und Schuld habe ich die Geschichte nicht als grau und düster wahrgenommen. Es wurde zwar nichts beschönigt, allerdings wurden auch die guten Momente, die sich selbst in dieser schrecklichen Zeit ereigneten, nicht unter den Tisch gekehrt. Auf ihre eigene Art sind die karierten Mädchen ein richtiges Wohlfühlbuch für mich geworden, das so wundervoll erzählt ist, dass ich es vermutlich an einem Tag hätte lesen können, gleichzeitig aber auch nicht fertig werden wollte. Alexa Henning von Lange hat mit „Die karierten Mädchen“ ein wahres Meisterwerk geschaffen, das mich vermutlich noch eine Weile verfolgen wird.
Offensichtlich eine klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 29.06.2022

Es spricht zu mir!

Kein Sommer ohne dich
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Sommer, Sonne, Strand und Meer. Eine Sonnenbrille, in der sich unsere beiden Protagonisten Alex und Poppy spiegeln, während sie auf einem ihrer berühmt berüchtigten Sommertrips das Leben genießen. Die ...

Sommer, Sonne, Strand und Meer. Eine Sonnenbrille, in der sich unsere beiden Protagonisten Alex und Poppy spiegeln, während sie auf einem ihrer berühmt berüchtigten Sommertrips das Leben genießen. Die gewählten Farben und das Design wirken kein bisschen kitschig, sondern angenehm frisch und sommerlich. Alles an diesem Cover von Emily Henrys Roman „Kein Sommer ohne dich“ schreit geradezu „URLAUB!“. Und zweifelsohne war dies einer der Hauptgründe, warum ich dieses Buch lesen wollte: Eine leichte Sommerlektüre, die in der aktuellen Hitze für Unterhaltung sorgt. Versteht mich nicht falsch, eine Sommerlektüre ist „Kein Sommer ohne dich“ definitiv. Aber gleichzeitig ist es noch so viel mehr.

Es ist eine Geschichte über Freundschaft, über Liebe, über das, was wirklich zählt im Leben. Eine Geschichte, die – egal wie unbeschwert sie auch erzählt sein mag – unglaubliche Tiefen aufweist. Eine Geschichte über zwei Menschen, die einander die Welt bedeuten, obwohl sie auf den ersten Blick nicht unterschiedlicher sein könnten. Der eine ruhig und bedacht, die andere laut und bunt. Dass sich Poppy und Alex gefunden haben, mag an Schicksal oder Zufall gelegen haben, vielleicht aber auch an Poppys Mitbewohnerin Bonnie, die die Fahrgemeinschaft der beiden in die Wege geleitet hat. Während dieser Autofahrt begegnen sie sich ohne jegliche Erwartungen und haben kein Bedürfnis, sich zu verstellen oder zu gefallen. So lernen sich Poppy und Alex ganz ungefiltert kennen und stellen fest, dass sie sich auf eine schräge Art und Weise auf derselben Wellenlänge befinden.

Diesen zarten Beginn der Freundschaft habe ich mindestens so sehr geliebt, wie die darauf folgenden Urlaube, die ja durchaus den Großteil von „Kein Sommer ohne dich“ ausmachen. Gerade für Poppy war das Reisen von enormer Bedeutung für ihre persönliche Entwicklung. So tough wie sie scheint, ist die Gute nämlich kein bisschen. Ihre Schulzeit war schlimm, sie passte nirgends hinein und die Einsamkeit war ihr ständiger Begleiter. Die gemeinsamen Sommertrips mit Alex waren genau die Flucht aus der Realität, die sie brauchte und sie war so glücklich wie noch nie in ihrem Leben, weil sie endlich sie selbst sein konnte, ohne dafür verurteilt zu werden.

Poppy ist eine wunderbare Protagonistin, mit der ich mich schon fast beängstigend gut identifizieren konnte. Alle ihre Sorgen und all die Päckchen, die sich mit sich herumträgt, sind alle so nachvollziehbar, so real. Auch Alex habe ich sofort in mein Herz geschlossen mit seiner von Zeit zu Zeit unbeholfenen, liebenswürdigen Art. Die beiden funktionieren einfach wahnsinnig gut zusammen und alle Höhen und Tiefen, die sie gemeinsam durchleben, sind stets glaubhaft und plausibel.

An dieser Stelle ein großes Kompliment an Emily Henry. Ihr Schreibstil ist von außerordentlicher Qualität. Locker, witzig, ironisch, dabei durchweg stilsicher. An keiner Stelle wirkt ihr Schreiben zu gewollt. Das gesamte Buch las sich so selbstverständlich und natürlich, wie man es sich stets wünscht aber nur selten tatsächlich zu lesen bekommt.
Auch der Aufbau von „Kein Sommer ohne dich“ verdient ein besonderes Lob. Die Aufteilung in zwei Zeitebenen – einmal die vergangenen Sommerurlaube, die sich chronologisch der Gegenwart annähern und einmal die aktuelle Reise der beiden – ist wirklich raffiniert. Zum einen erfährt man Vieles über Alex und Poppys Vergangenheit, und zum anderen weisen beide Zeitebenen eigenständige Spannungsbögen auf, die jedoch analog verlaufen und auf jeweils einen dem Leser unbekannten Höhepunkt zusteuern. Somit wird „Kein Sommer ohne dich“ zu einem regelrechten Pageturner, den man buchstäblich nicht mehr aus der Hand legen kann.

„Kein Sommer ohne dich“ war für mich ein absolutes Sommerhighlight, dass zwar schnell gelesen war, mich aber vermutlich noch sehr lange verfolgen wird. Alles an diesem Buch spricht zu mir und ist somit eine ganz klare Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 03.06.2023

Ein lesenswerter Brocken

Babel
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Sprache ist etwas Mächtiges. Sie ist der entscheidende Faktor, der ganze Nationen eint. Sie schafft Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl. Sie ist Identität. Aber gerade deshalb bewirkt Sprache auch oft ...

Sprache ist etwas Mächtiges. Sie ist der entscheidende Faktor, der ganze Nationen eint. Sie schafft Zusammenhalt und Gemeinschaftsgefühl. Sie ist Identität. Aber gerade deshalb bewirkt Sprache auch oft das Gegenteil. Betrachtet man ihre Wirkung nationenübergreifend, so stellt man fest, dass es gerade die Sprache ist, die verschiedene Nationen unwiederbringlich voneinander abgrenzt. Sie betont gnadenlos Unterschiede und führt im schlimmsten Fall zur Ausgrenzung von Andersartigem.
Auch auf der persönlichen Ebene ist Sprache ein aussagekräftiger Machtfaktor. Die Art und Weise wie jemand spricht - ob er sich gewählt ausdrückt, einen bestimmten Dialekt verwendet oder einen ehr begrenzten Wortschatz hat - bestimmt unser Bild von dieser Person; in welcher Sprache ein Mensch kommuniziert sagt ebenso viel aus: Ist uns jemand vertraut oder fremd? Fühlen wir uns mit jemanden spontan verbunden oder stellt die Sprache eine schier unüberwindbare Barriere dar?

Mit ebendiesen Fragenstellungen und Überlegungen zum Thema Sprache hat sich auch Rebecca F. Kuang beschäftigt. Allein für die Tatsache, dass sie es geschafft hat, ihre Gedanken zu dieser komplexen Thematik allesamt unter einen Hut zu bringen, in eine Geschichte einzupflanzen und diese dann in ein Buch zu verwandeln, hat sie meine Hochachtung. Welch eine Leistung! Dass diese Geschichte ein Dark-Academia-Setting besitzt, im intellektuellen Oxford spielt und darüber hinaus auch noch den Namen "Babel" trägt, ist schon fast zu viel für mich und mein ordnungsliebendes Herz. Alles passt perfekt zusammen, jedes Zahnrad greift exakt ins nächste - ich bin sprachlos, allerdings auf die beste Weise.

Wenn man das Buch dann erstmals vor sich liegen hat, denkt man sich vermutlich etwas von wegen: "Hui, was für ein Brocken." Nachdem ich nun das Vergnügen mit Babel hatte, kann ich bestätigen, dass es nicht nur optisch und gewichtsmäßig ein Brocken ist, sondern auch inhaltlich.
Versteht mich nicht falsch, das meine ich in keiner Hinsicht negativ. Sowohl das akademische Magiekonzept der Silberbarren als auch der Umgang mit sämtlichen -ismen haben mich schwer beeindruckt. Die Autorin hat wirklich ein großes Talent dafür, stets den richtigen Ton zu finden und so ihre Kritik an Kolonialismus, Rassismus und Sexismus auf völlig unverfälschte und realitätsnahe Weise wiederzugeben. Sämtliche Emotionen, die die betroffenen Figuren empfanden - die Frustration, die Wut, die Hoffnungslosigkeit - spiegeln auf beängstigende Art und Weise den schmutzigen Boden der Tatsachen unserer Welt wieder. Rebecca F. Kuang spricht die harten und unschönen Fakten aus und das ist gut so.

Was die Struktur der Geschichte betrifft, so hege ich noch gemischte Gefühle. Einerseits schätze ich es sehr, dass die Autorin so viel Wert auf eine ordentliche Einführung in die Geschichte und Konfliktentwicklung gelegt hat, aber andererseits ist mir die Gewichtung der einzelnen Teile auch etwas suspekt. Wo anfangs alles nur regelrecht dahin plätschert, trifft einen dann ab einem gewissen Punkt schlichtweg der Schlag. Und mit diesem Schlag hört es nicht auf, es folgt der nächste und der nächste. Irgendwo war das bestimmt gut so, ich fühlte mich nur eben einfach etwas erschlagen.
Darüber hinaus hatte ich zuweilen auch gewisse Probleme, die Handlungsweisen mancher Figuren zu verstehen. Vielleicht waren die einzelnen Charaktere doch zu schwammig gezeichnet, vielleicht war alles auch einfach etwas viel: Silberbarren hier, Geheimbund dort, wohin man nur sieht die Verbrechen des britischen Königreichs - wie gesagt, ein Brocken.

Nichtsdestotrotz hatte ich eine gute Zeit beim Lesen, habe mit Robin und seinen Freunden mitgefiebert, mit ihnen triumphiert und gelitten und dabei die kritisch hinterfragende Art von Rebecca F. Kuang stets besonders genossen. Obwohl ich mich mit solch langen Büchern schon sehr schwer tue und gewissermaßen auch Angst vor ihnen habe, bin ich sehr froh, mich hier durchgebissen zu haben.
"Babel" ist wie ein Silberbarren. Ein Brocken, der schwer im Magen liegt, aber eben auch unglaublich wertvoll.

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Veröffentlicht am 23.10.2022

Disruptives Experiment mit Mehrwert

Vielleicht hatten all die Therapeuten ja recht
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Dieses Buch wird sicherlich nicht jedermanns Fall sein. Das hat mehrere Gründe und einige kann ich persönlich auch sehr gut nachvollziehen. Zu Anfang hatte ich selbst große Probleme, ins Geschehen zu finden ...

Dieses Buch wird sicherlich nicht jedermanns Fall sein. Das hat mehrere Gründe und einige kann ich persönlich auch sehr gut nachvollziehen. Zu Anfang hatte ich selbst große Probleme, ins Geschehen zu finden und tat mich schwer, mit der Protagonistin warm zu werden. Doch gleichzeitig entpuppte es sich als eins der relevantesten Bücher im Bezug auf die heutige Zeit, die ich je gelesen habe.

„Vielleicht hatten all die Therapeuten ja recht“ ist von vorne bis hinten disruptiv und scheut nicht davor zurück, mit sämtlichen Gepflogenheiten und Normen zu brechen – sowohl inhaltlich als auch formal. Das vermutlich gewöhnungsbedürftigste ist der Aufbau des Buches: Die Kapitel sind weder chronologisch aneinandergereiht, noch folgen sie irgendeiner anderen auf den ersten Blick ersichtlichen Ordnung. Scheinbar willkürlich springen sie in Ereignissen im Leben der Protagonistin umher, was zugegebenermaßen sehr verwirrend sein kann. Lässt man sich jedoch darauf ein, stellt man fest, dass es durchaus ein System gibt – nämlich ein thematisch geordnetes. In Anbetracht der Tatsache, dass sich alles in dem Buch um das Gefühlsleben der Protagonistin Jenny dreht, macht diese intuitive Gliederung definitiv viel Sinn.

Thema Jenny: Sie ist definitiv keine gewöhnliche Protagonistin. Sie hat massenhaft Fehler und zwar nicht die von der angenehmen Sorte. Ihre Fehler sind keine à la „leicht tollpatschige Romanheldin stolpert sympathisch durchs Leben“. Jennys Fehler sind nicht schön, sondern zutiefst abstoßend. Für die meisten von uns sind Jennys Eigenschaften höchstwahrscheinlich der größte Albtraum, niemand möchte so verblendet, so oberflächlich und so abhängig von den sozialen Medien sein wie sie. Dennoch bewundere ich die Art, wie Jenny geschrieben wurde. Wenn ein Charakter von Grund auf so fehlerhaft und unsympathisch ist, hat das meistens Gründe. Abgesehen davon ist Jennys Charakterentwicklung wirklich erste Sahne: Im Rahmen ihrer Möglichkeiten wird sie stetig etwas reifer, erlangt wichtige Erkenntnisse und schlägt letztlich eine wirklich gute Richtung ein. Generell bin ich ein großer Fan der Selbstreflexion, die im Laufe des Buchs konsequent durchexerziert wird – nicht nur bezogen auf Jenny, sondern auch auf die Leserschaft.

Gerade diese Selbstreflexion macht das gesamte Buch zusammen mit seiner problematischen Protagonistin auf einer gesellschaftlichen Ebene höchst relevant. Durch die Art, wie wir Jennys unschöne Angewohnheiten mit ansehen müssen, werden wir zum Nachdenken angeregt und sinnieren automatisch über unser eigenes Verhältnis zu den angesprochenen Problemen nach. Und auch wenn man sich ohne Punkt und Komma über Jenny aufregen kann, eins muss man Emma Jane Unsworth doch lassen: Sie hat eine Protagonistin geschaffen, die – egal wie gern wir es leugnen möchten – auch irgendwie in einer jeden von uns steckt. Ich für meinen Teil fühlte mich beim Lesen des Öfteren ertappt.

Was auf mich anfangs wie ein etwas halbgares Experiment von einem Buch wirkte, hat sich nun als eine rundum gelungene und vor allem höchst wirksame Gesellschaftskritik von einer absolut souveränen Autorin entpuppt, die zweifelsohne weiß, was sie tut. Allein schon im Sinne des Wohls unserer Gesellschaft spreche ich hiermit meine Leseempfehlung aus. Denn auch wenn wir es nicht wahrhaben wollen, es laufen weit mehr Jennys frei draußen herum, als wir denken.
Deswegen: Seid nicht wie Jenny. Lest ein Buch.

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  • Thema
Veröffentlicht am 11.09.2022

Die Kunst, ein Gott & eine Zigarette

Drei Viertel tot
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Das Niveau sinkt und zieht die Originalität mit in den Untergang – alles wiederholt sich, man hört ständig nur die alte, wohlbekannte Leier und kennt das Ende bereits, bevor das Buch überhaupt aufgeschlagen ...

Das Niveau sinkt und zieht die Originalität mit in den Untergang – alles wiederholt sich, man hört ständig nur die alte, wohlbekannte Leier und kennt das Ende bereits, bevor das Buch überhaupt aufgeschlagen wurde. Diese Vorwürfe – vor allem gegenüber dem Fantasy-Genre – sind vermutlich niemandem neu und haben zweifelsohne schon den ein oder anderen abgeschreckt. All diesen elitären Angsthasen kann ich getrost „Drei Viertel tot“ von Max Gladstone empfehlen, ein durchweg origineller Fantasyroman, dem es auch an Niveau nicht mangelt.

Absolut erwähnenswert ist die Welt, in der das Ganze spielt. Sie ist äußerst komplex und mit nichts vergleichbar, was ich vorher gelesen hatte. Allein das Konzept der Kunstwirker ist mir völlig neu und ehrlicherweise haben mich die grundlegenden Funktionsweisen des Magiesystems auch zu Weilen sehr überfordert. Tatsächlich glaube ich nicht, dass ich das Geschehen überhaupt wirklich fassen konnte und würde es nicht ausschließen, einige Informationen falsch verstanden oder gar überlesen zu haben. Vieles war für mich und mein Hirn schlichtweg zu abstrakt und wir mussten uns teilweise echt anstrengen, nicht den Faden zu verlieren. Zudem wird im Worldbuilding großer Wert auf die Organisation und die Interaktionen gesellschaftlicher Strukturen gelegt. Es dreht sich viel um die Frage, wo Kirche und dementsprechend auch Religion ihren Platz in der Gesellschaft haben und wie viel Einfluss sie im Verhältnis zu anderen Einrichtungen und Vereinigungen haben sollten. Die Überlegung, welche Partei die meiste Macht hat und wohin der Rest fließt, ist allgegenwärtig und in vielerlei Hinsicht auch durchaus auf unsere Gesellschaft übertragbar. Diese Relevanz in Kombination mit der komplexen und neuartigen Welt machen das gesamte Buch wirklich einzigartig, was gerade im Fantasy-Genre eine absolut reife Leistung darstellt.

Von der Komplexität des Worldbuildings einmal abgesehen ist die Handlung selbst gut ausgearbeitet und mit einem Spannungsbogen versehen, der vollkommen verlässlich auf einen rasanten Höhepunkt zusteuert. Alles an dem Geschehen rund um Tara, ihre Kunst und die Götterwiederbelebung wirkt schlüssig und durchdacht, zudem hat jede Figur ihren Zweck und fügt sich gut ins Gesamtbild ein, was zu einem äußerst zielorientierten Voranschreiten der Ereignisse mit wenig Ablenkungen führt.
Zum Thema Charaktere: Ich mochte Tara sehr gerne und ihre mutige, willensstarke Art machte sie zu einer überaus talentierten und glaubhaften Protagonistin. Auch Abelard war mir schnell sympathisch und ich fand die Ausgestaltung seiner Figur sehr erfrischend – von kettenrauchenden Priestern liest man ja doch eher selten. Mir fiel jedoch auf, dass man zwar recht viel über die einzelnen Charaktere erfährt – genug, um sich ein gutes Bild von ihnen allen zu machen – sich aber meist in einem strikt „beruflichen“ beziehungsweise professionellen Rahmen bewegt. Auf private Informationen wird bis auf wenige Ausnahmen weitestgehend verzichtet, was vermutlich eine bewusste Entscheidung des Autors war, um nicht vom Wesentlichen abzulenken. Das ist selbstverständlich absolut plausibel und völlig legitim, nichtsdestotrotz fand ich es persönlich sehr schade. Ich mag es, beim Lesen eine Bindung zu den Charakteren aufzubauen und werde auch gerne emotional dabei. Ich will etwas spüren und ich will investiert sein. Ich will mit den Figuren mitfiebern, mit ihnen lachen und weinen. Aufgrund der großen Distanz sowohl zwischen Figuren und Leser als auch der Charaktere untereinander war das hier leider nicht möglich.

„Drei Viertel tot“ ist definitiv keine 0815 Fantasy und hat einiges zu bieten. Rein technisch gesehen und auf einer objektiven Ebene betrachtet habe ich absolut nichts zu meckern. Jedoch hätte ich mir mehr Emotionen – egal in welcher Hinsicht – gewünscht, das hätte das ganze Buch sicherlich etwas zugänglicher gemacht. Allerdings handelt es sich hierbei selbstverständlich nur um meine persönliche Präferenz. Wer auf Zwischenmenschliches weniger Wert legt und einfach einen guten Fantasyroman sucht, der wirklich originell ist und sich nicht so leicht in eine Schublade stecken lässt, ist hier garantiert gut bedient.

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