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Veröffentlicht am 16.08.2022

This charming girl

Snowflake
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Trigger-Warnung: In „Snowflake“ geht es um Tod, Suizid und Depressionen. Und trotzdem ist Louise Nealons Debütroman größtenteils unglaublich leicht, charmant und lebensbejahend. Der Grund: wunderbar gezeichnete ...

Trigger-Warnung: In „Snowflake“ geht es um Tod, Suizid und Depressionen. Und trotzdem ist Louise Nealons Debütroman größtenteils unglaublich leicht, charmant und lebensbejahend. Der Grund: wunderbar gezeichnete Charaktere, die auch kleinere Schwächen in der Geschichte komplett wettmachen.

Debbie White ist 18 Jahre alt und startet ihr Anglistik-Studium am Trinity College. So wie viele andere in ihrem Alter. Aber statt in Irlands Hauptstadt zu ziehen, bleibt sie in ihrem Heimatort, pendelt zur Uni und kümmert sich nebenbei mit ihrem Onkel um die gemeinsamen Milchkühe und ihre Mutter, die vom Unfalltod ihres Freundes traumatisiert ist. Hin und wieder übernachtet sie bei ihrer neuen, ersten richtigen Freundin Xanthe, die mit Debbies heimlicher Jugendliebe zusammen ist und ihr gesteht, dass sie an Depressionen leidet. Für Debbie kaum vorstellbar, hat Xanthe doch alles – Geld, Aussehen und den Jungen, für den Debbie schwärmt. Bricht die junge Freundschaft direkt wieder auseinander?

Louise Nealon schreibt Debbies Geschichte in kleinen Episoden, sie liest sich fast wie ein Blog, wenn Debbie von ihrem Alltag, von ihren Erlebnissen und Erfahrungen berichtet. Entspannt, manchmal etwas naiv, tappt Debbie durch ihr Leben, das eigentlich ganz typisch, ganz banal verläuft. Wären da nicht ihre Träume, die Träume ihrer Mutter und die Nichtträume ihres Onkels.

Manchmal fehlt Debbies Geschichte der Tiefgang, einzelne Handlungsstränge bleiben relativ unbetrachtet liegen, natürlich bewusst, denn Debbie hat für diese keine Zeit, keine Lust, keinen Nerv, diese Plotstränge aufzulösen. Auch das Ende kommt fast etwas zu schnell, vielleicht aber auch, weil man als Leser:in gerne noch viel mehr Zeit mit Debbie und ihrer Familie, Xanthe und Audrey – früher Klavierlehrerin, heute Psychologin – verbringen würde. Denn fast alle Charaktere sind extrem charmant und liebenswert. Und das ist ein deutlicher Unterschied zur oft als Vergleich bemühten Sally Rooney, deren Figuren dieses Sympathielevel nie erreichen.

Eine schöne, manchmal traurige und verstörende, aber immer herzliche Geschichte über Freundschaft über Familie, über Träume und Aberglaube und über das Erwachsenleben – das sowohl für die junge Generation, aber auch für die Familie durchaus anstrengend sein kann. Und ein toller, zeitgemäßer Debütroman einer vielversprechenden Autorin, der dank des mare-Verlags in einer tollen deutschsprachigen Übersetzung vorliegt.

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Veröffentlicht am 16.08.2022

Spaß mit Tiefgang

Dachs und Rakete. Ein Haus voller Freunde
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Als das Auge von Senor Tortuga nicht mehr am Guckloch erscheint, werden sie nervös: Herr Dachs, Schnecke Rakete und die drei Pferde Peter, Paul und Mary, die kurz zuvor einen lauten RUMMS gehört haben. ...

Als das Auge von Senor Tortuga nicht mehr am Guckloch erscheint, werden sie nervös: Herr Dachs, Schnecke Rakete und die drei Pferde Peter, Paul und Mary, die kurz zuvor einen lauten RUMMS gehört haben. Zum Glück hat Herr Dachs als Hausmeister einen Schlüssel für alle Wohnungen. Und tatsächlich: Senor Tortuga, die alte Nachbarschildkröte, liegt auf dem Rücken und kommt nicht mehr alleine hoch – und hat nun schreckliche Angst ins Heim zu müssen. Aber keine Sorge: Schließlich ist das ein Kinderbuch und alle Bewohner des Hauses unfassbar gutherzig – und haben schon eine tolle Idee. Hurra!

Schon wenige Monate nach Erscheinen des ersten Bandes von Dachs und Rakete lässt Jörg Isermeyer seine beiden tierischen Freunde erneut auf die Stadt los. Wer den ersten Teil – „Ab in die Stadt!“ – nicht gelesen hat, kann auch mit dem zweiten starten, aber sinnvoller ist es, alle Charaktere und den Grund für Dachs und Raketes Umzug mit Buch Eins kennenzulernen – und die lustigen Schwierigkeiten der beiden, sich im Großstadtdschungel zurechtzufinden. Und noch immer fremdeln die beiden Held:innen mit alltäglichen Dingen wie Theater und Rummel, haben sich aber gut eingelebt in ihrem neuen Zuhause mit Oma Käthe, den Meerschweinchen und allen anderen Nachbarn.

„Ein Haus voller Freunde“ ist ein großer Vorlesespaß über Achter- und Murmelbahnen, Shakespeare und Schiller, Babysitting und Seniorenbetreuung, wundervoll illustriert von Kai Schüttler. Das kongeniale Duo aus Dachs und Schnecke erlebt kleine Abenteuer, die Kindern richtig Freude bereiten, während Erwachsene den ein oder anderen Schmunzler zwischen den Zeilen entdecken. Und das mit erstaunlich viel Tiefgang, besonders in der Episode mit Senor Tortuga, dem vom alten Hausmeister, der schon Dachs und Raketes Waldheimat auf dem Gewissen hatte, übelst mitgespielt wurde.

Und auch die schöne Umsetzung der Hardcover-Ausgabe macht das zweite Abenteuer von Dachs und Rakete zu einem der Highlights im Portfolio des Beltz-Verlags, nur ganz leicht fallen die Geschichten im Vergleich zum ersten Band ab. Trotzdem ist die Vorfreude auf einen dritten Teil groß – und wenn Jörg Isermeyer weiter so aufs Raketentempo drückt, ist spätestens nach Weihnachten damit zu rechnen. Wie schön!

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Veröffentlicht am 08.06.2022

Wir sind Held:innen

Not all heroes wear capes
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Wie werde ich eigentlich ein Held? Maske auf, Cape an – oder auch nicht, siehe Die Unglaublichen – und auf geht’s? Brauche ich Superkräfte wie Spiderman oder nur ein ausreichendes Budget und vielleicht ...

Wie werde ich eigentlich ein Held? Maske auf, Cape an – oder auch nicht, siehe Die Unglaublichen – und auf geht’s? Brauche ich Superkräfte wie Spiderman oder nur ein ausreichendes Budget und vielleicht einen kleinen Kindheitsknacks wie Batman? Keine Sorge, die Antwort beruhigt alle: In jedem von uns steckt Held:innen-Potenzial.

Skeptisch? Dann ist „Not all heroes wear capes“ genau das richtige Motivationsbuch für dich. Er zeigt, was (Alltags-)Held:innen ausmacht, wie einfach jeder von uns die Welt ein kleines bisschen besser machen kann und welche Auswirkungen das auf uns selbst hat.

Und das gar nicht mal so sehr im klassischen Empower-Yourself-Style, den die üblichen Start-up-Flitzpiepen an den Start legen, sondern behutsam, einfühlsam und komplett auf Augenhöhe mit der Zielgruppe – älteren Kindern und jüngeren Jugendlichen. Und ja, auch wir Erwachsenen können viel über uns und auch für uns lernen.

Ben Brooks macht das ganz wunderbar, mixt eigene Erfahrungen mit den Lebensgeschichten von verschiedenen Held:innen der letzten Jahrhunderte. Von ganz bekannten Menschen wie Michael Phelps (Gewinner von 28 olympischen Medaillen) und Captain Tom Moore (sammelte als 99-Jähriger Spenden für Pflegekräfte zu Beginn der Corona-Pandemie) über Leute, die gar nicht mal so sehr im Fokus standen wie Joy Milnes, die irgendwann gemerkt hat, dass sie riechen kann, wenn Menschen an Parkinson erkrankt sind. Klingt verrückt, oder? Ist aber wirklich wahr.

„Not all heroes wear capes“ ist ein buchgewordenes Motivational-Poster, baut dabei aber niemals Druck auf, sondern inspiriert durch schöne Zufälle und bewegende Geschichten, ein bisschen mehr auf die drei wichtigsten Dinge zu achten, die wir haben: uns selbst, unsere Mitmenschen und unseren Planeten. Und vor allem, dass wir alle eines sind, wenn wir es nur wollen: Held:innen.

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Veröffentlicht am 25.05.2022

Fußball ist immer noch wichtig

Wieso? Weshalb? Warum? Erstleser, Band 7: Fußball
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Ausgerechnet heute. Tag 1 nach dem Wiederaufstieg in die Zweite Liga und dieses Buch liegt im Briefkasten. Wieso, weshalb, warum Fußball? Eine Frage, die mir schon häufiger gestellt wurde, von Freunden, ...

Ausgerechnet heute. Tag 1 nach dem Wiederaufstieg in die Zweite Liga und dieses Buch liegt im Briefkasten. Wieso, weshalb, warum Fußball? Eine Frage, die mir schon häufiger gestellt wurde, von Freunden, der Frau, ja, auch von mir selbst. Und bestimmt auch irgendwann: von der Tochter, die noch glücklich und zufrieden mit der Soundfahne wedelt und das Betze-Lied mitsingt. Ja, vielleicht ist heute, ausgerechnet heute, der richtige Tag für dieses Buch.

Im neuesten Band der Ravensburger Reihe wird erst einmal erklärt, warum Fußball so beliebt ist, wofür die Linien und Punkte auf dem Spielfeld stehen, welcher Spieler welche Position hat und welche Regeln für die 22 Menschen auf dem Feld gelten. Direkt fällt auf: Es sind nicht nur Jungs und Männer die spielen. Endlich. Das Buch ist auf Höhe der Zeit, richtet sich an Jungen und Mädchen gleichermaßen. Einziges Manko, wenn darauf angelegt: Es wird nicht gegendert. Aber gut.

Auch über Schiedsrichter:innen wird gesprochen, selbst über den bei Fans wie Profis beliebten VAR, und dann, fast ein bisschen spät, aber immerhin, auch über die Geschichte und Entwicklung des Sports, bevor die große Frage im Raum steht: Wie werde ich ein Superkicker? Trainingsmethoden und Schusstechniken werden erklärt, der Alltag von Profi-Fußballer:innen, die wichtigsten Wettbewerbe und natürlich auch die Fans.

Zwischendurch wird mit kleinen charmanten Quiz-Fragen das zuvor Gelesene und Gelernte abgefragt, eigentlich eine ganz gute Methode, die Erstleser:innen schon einmal auf den Schulalltag vorzubereiten, eine Doppelseite lädt zum Stickern ein und ein kleines Leselotto ist auch Teil des Buchs.

Offen nur, wie viele Kinder die richtige Antwort auf die Frage „Deutscher Meister wird …“ finden und nach zehn Jahren Bundesliga-Langeweile doch zur Möglichkeit „immer FC Bayern München“ tendieren. Aber vielleicht wird es da einfach Zeit für den nächsten Aufstieg des 1. FC Kaiserslauterns. Schließlich wurden sie so 1998 als erster und einziger Aufsteiger direkt Deutscher Meister. Womit auch die Frage geklärt wäre, welcher Verein eigentlich der beste ist. Olé olé, olé ola, das Buch hier ist schon recht wunderbar. Und Fußball immer noch wichtig. Schön, wenn er so divers und zeitgemäß erklärt wird, wie in diesem Buch von Ravensburger. Danke dafür!

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Veröffentlicht am 25.04.2022

Traumpfad Manhattan

Auf der Zunge
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Is this the real life? Is it just fantasy?

Eine Frau wandelt durch New York. Weg von ihrer Wohnung, weg von ihrer Ehe, weg von ihrem Leben. Sie sieht Menschen, trifft Menschen, berührt Menschen, die ihr ...

Is this the real life? Is it just fantasy?

Eine Frau wandelt durch New York. Weg von ihrer Wohnung, weg von ihrer Ehe, weg von ihrem Leben. Sie sieht Menschen, trifft Menschen, berührt Menschen, die ihr Geschichten erzählen, die ihr etwas geben, die ihr etwas nehmen, bis sie selbst wieder nach Hause findet, zu sich findet.

Jennifer Clements „Auf der Zunge“ ist ein reizvolles Buch. Ein poetisches Werk mit kurzen (Ab-) Sätzen, mit flackernden Momentaufnahmen, mit Beobachtungen dieser niemals schlafenden Stadt und ihrer bunten Mischung aus Menschen, die tagein, tagaus in ihr leben, arbeiten, flanieren.

Kein Roman, kein Gedicht, irgendetwas dazwischen, ganz einfach zu lesen und doch unglaublich komplex und vielschichtig, mit interessanten, verrückten Figuren, die gleichzeitig, wie es zu New York passt, komplett anonym bleiben, selbst die Hauptfigur, über die Leser:innen lediglich ihr Familienleben, ihren Beruf, ihr ungefähres Alter erfahren.

Nicht alle Episoden sind charmant, interessant, freundlich, manche sind gar etwas öde, andere beängstigend, aber „Auf der Zunge“ ist ein unglaublich fesselnder Spaziergang durch Manhattan, der nie klar real, nie klar ein Traum ist, der einen unglaublichen Interpretationsspielraum bietet und dabei doch ein durchaus passendes Bild von New York zeichnet.

Der fast schon surreale Erzählstil, der Aufbau, das alles wird anecken und kontrovers diskutiert werden, aber das macht Clements Werk zu einer der interessantesten Neuveröffentlichungen des Jahres. Not just another New York Story, obwohl dann irgendwie doch, denn die Figuren, die Orte, die Stadt, sie wirken vollkommen vertraut. Und genau das hat New York ja auch gemeinsam mit diesen Träumen, bei denen man nie weiß, ist das jetzt das echte Leben – oder passiert das alles doch nur in meinem Kopf?

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