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Veröffentlicht am 01.12.2022

Empowerment mit Herz

Miss Kim weiß Bescheid
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Mit derselben Intensität und Brisanz, mit der sich Cho Nam-Joo im vergangenen Jahr in „Kim Jiyoung, geboren 1982“ bereit der Unterdrückung koreanischer Frauen durch das Patriarchat widmete, betrachtet ...

Mit derselben Intensität und Brisanz, mit der sich Cho Nam-Joo im vergangenen Jahr in „Kim Jiyoung, geboren 1982“ bereit der Unterdrückung koreanischer Frauen durch das Patriarchat widmete, betrachtet sie in „Miss Kim weiß Bescheid“ anhand acht verschiedener Frauenbiografien gesellschaftsrelevante Themen, die Frauen auf der ganzen Welt betreffen: Es geht Alter und Krankheit und die Frage, bis wann ein Leben lebenswert ist; um Unterdrückung und Selbstermächtigung, um toxische Beziehungen und wahre Liebe, um Mutterschaft und weibliche Identität, Mobbing und Hatespeech, um Gleichberechtigung und Mut; aus dem Schatten zu treten und das Leben zu ergreifen, von dem man immer geträumt hat. Sie spricht Themen an, die Frauen* auf der ganzen Welt betreffen – in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft – und erzeugt so ein Gefühl der Verbundenheit und des Komplizinnentums. Ihre Sprache ist klar und präzise, die Dialoge pointiert. Trotz der Kürze verleiht sie ihren Protagonistinnen Ecken und Kanten, macht sie und ihre Geschichten, die stellvertretend für so viele Schicksale stehen, greifbar. Am meisten haben mich „Unter dem Pflaumenbaum“ und „Lieber Hyannam“ bewegt, die thematisch komplett unterschiedliche Thematiken behandeln und zugleich die stilistische Variabilität Cho Nam-Joos unterstreichen, von Inwon Park in ihrer Rhythmik und Wärme wunderbar ins Deutsche übertragen wurde. Nicht alle Stories haben mich inhaltlich gepackt, fehlte es ihnen an dem gewissen Etwas, und doch ist ihnen alle eine schneidende Erkenntnis oder Pointe gemein, die kurz innehalten lässt.

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Veröffentlicht am 15.09.2022

Schmerzhafte Entdeckung

Dein Schweigen, Vater
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Mit ihrem Debütroman „Dein Schweigen, Vater“ betritt Susanne Benda ein sensibles Pflaster, einen Teil der deutschen Geschichte, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart zeigen. Bedrückend und in ...

Mit ihrem Debütroman „Dein Schweigen, Vater“ betritt Susanne Benda ein sensibles Pflaster, einen Teil der deutschen Geschichte, dessen Nachwirkungen sich bis in die Gegenwart zeigen. Bedrückend und in der Tonalität die damalige Nachkriegsatmosphäre hervorragend einfangend, beschreibt sie zunächst Pauls Kindheit, seine kindliche Liebelei und die Unbarmherzigkeit, mit der sich sein Leben von einem Tag auf den anderen verändern soll: Mit gerade einmal zwölf Jahren werden er und seine Familie nebst rund 27 000 deutschstämmigen Bewohner*innen aus Brünn ver- und zur Niederösterreichischen Grenze hingetrieben. Er sah Menschen sterben, vor Erschöpfung zusammenbrechen, spürte Hunger und endlose Trauer. Bereits diese ersten Seiten pochen dumpf und schneidend im Herzen und lassen dennoch nur erahnen, wie schrecklich es damals wirklich war.

Verhältnismäßig hart ist der Übergang in die Gegenwart, Zeit und Ort, politische Lage vollkommen anders. Als blättere man durch ein Fotoalbum, sieht man Szenen von Paul als jungem Familienvater, seiner Frau und seinen Kindern, die bald selbst erwachsen sind, eigene Probleme anzugehen haben. Nicht zuletzt die nahende Sprachlosigkeit ihres Vaters. Immer öfters fragen sie sich, warum sie so sind, wie sie sind: Maria wurde von ihrem Mann betrogen, wollte eigentlich mit ihm ein Jahr Auszeit nehmen, steht nun jedoch alleine da; Uli hingegen geht voll und ganz in seiner Arbeit als Schuster auf, lebt zurückgezogen und hat kaum soziale Kontakte. Beide tun sie sich schwer, die Weichen für ihr Leben, das, was sie glücklich macht, zu finden; sie haben Angst vor dem freien Fall. Fast so, als fehle ein Teil von ihnen. Ihr Leben lang wagten es beide nicht, den Vater nach seiner Kindheit, ihren Großeltern zu fragen und – nach dem „Brünner Todesmarsch“. Gemeinsam begeben sie sich auf die Spuren ihres Vaters, reisen über Umwege nach Tschechien, um die Strecke von Brünn nach Wien zu beschreiten – in der Hoffnung, sich über ihr Leben, ihre Zukunft klar zu werden.

Ich hatte ein wenig Probleme, mich in der neuen Erzählstimme einzufinden, war mir vor allem Maria anfangs nicht sonderlich sympathisch in ihrer schroffen Art, vor allem ihrem Bruder gegenüber. Aber auf gewisse Art fand ich mich als große Schwester da (leider) auch wieder, nech. Das allmähliche Herauskristallisieren, inwiefern die Traumata und das Schweigen ihres Vaters, seine Erinnerungen an den Krieg, sie zu den Menschen macht, die sie sind, hat etwas in mir in Gang gesetzt, ein Kribbeln, ebenfalls mehr über die Geschichte meiner Eltern und Großeltern erfahren zu wollen, wird mir auch oft gesagt: „Du bist genau wie Oma.“ Doch was genau, warum? Zum Ende hin etwas konstruiert und vorhersehbar, hat mich das Buch jedoch insgesamt sehr bewegt und mein Denken bereichert, hatte ich bis dahin noch nie etwas vom „Brünner Todesmarsch“ gehört, und auch persönlich betroffen gemacht, finde ich das Thema der generationsübergreifenden Traumata unglaublich spannend. Ein vor allem thematisch ungemein wichtiges und spannendes Buch, das nachhallt. Weiterführend kann ich euch die Dokumentation „Vererbte Narben - Generationsübergreifende Traumafolgen (2017)“ von Liz Wieskerstrauch sehr ans Herz legen.

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Veröffentlicht am 07.09.2022

Klug und weitsichtig

Auf See
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Je ernster die wirtschaftliche Weltlage wird, je deutlicher die Zeichen des Klimawandels zutage treten, die Augen sich vor den Folgen, vor einer möglichen, unausweichlichen Zukunft nicht mehr verschließen ...

Je ernster die wirtschaftliche Weltlage wird, je deutlicher die Zeichen des Klimawandels zutage treten, die Augen sich vor den Folgen, vor einer möglichen, unausweichlichen Zukunft nicht mehr verschließen lassen, desto mehr wünscht man sich einen Plan B herbei. Eine Möglichkeit, dem anthropogenen Untergang zu entkommen. Unglaublich klug und über allem das Menschliche, Weiche nicht verlierend, entwirft Theresia Enzensberger in „Auf See“ das Bild einer dem Untergang geweihten Seestatt, deren utopische Motivation allmählich zu einer Dystopie verfällt. Gebaut auf Geld und Einfluss, ist Vineta eine futuristische Art der Zweiklassengesellschaft: Während auf den Waben der Seestatt die überwiegend männliche, elitäre Neureiche und Wissenschaftler wohnen, treibt nebenher ein altes Kreuzfahrtschiff mit ausländischen Mitarbeiter*innen. Kinder gibt es auf der Seestatt nicht, sie sind Parasiten, wie Yadas Vater ihr einmal sagte. Freunde hat sie deswegen keine; sie wächst in einer sterilen, streng überwachten Umgebung auf, erhält wissenschaftlichen Unterricht via Videocall. Jeder Raum für Fantasie und Kreativität wird ihr unterbunden. Doch Yada nutzt jede Chance, die Allmacht ihres Vaters, seine Idee einer Utopie zu unterwandern und rebelliert. Enzensberger macht aus ihrer jungen Ich-Erzählerin eine Heroin, die für sich selbst einsteht, für ihre Zukunft, ihr Leben kämpft, die klug und gewitzt ist, gleichermaßen verletzlich wie zäh ist.

Aus einer auktorialen, etwas distanzierteren Perspektive hingegen tritt Helena auf den Plan. Ihr Leben ist eine andere Art der Dystopie, von den Zeichen der gesellschaftlichen Armut und neoliberalen Machthungers gezeichnet. Menschen leben auf den Straßen, in Autos, in Zelten, das Leben ist unbezahlbar, die Zukunft dunkelgrau. Während das World Building in Yadas Passagen großformatig, in bunten Farben und Details geschieht, liegt der Fokus in Helenas Passagen eher auf dem Innenleben der Protagonistin, auf ihrer Gegenwart und möglichen Zukunft. Nach und nach wird Helenas Charakter komplexer, mysteriöser, die Frage um ihre Vergangenheit lauter. Und die nach der Rolle des Archivs in ihrem Leben: Immer wieder lässt Enzensberger mosaikartig kurze, historische Texte zu Inseln, den Versuchen der Staatengründung und Landeroberung einfließen, deren Bezüge und Verknotungen mit den Handlungssträngen immer mehr zutage treten.

Die Klugheit, Komplexität und Sanftheit der Beschreibungen, die zugrundeliegende Gesellschaftskritik und die Einzigartigkeit der Idee haben mich gleichermaßen begeistert wie beschäftigt: Welche Zukunft wollen wir gemeinsam gestalten, wie wollen wir leben – ohne, dass Macht, Einfluss und Geld uns vorschreiben, wie wir es zu tun haben? Nicht immer fand ich mit Yada und Helena zusammen, war zwischenzeitlich genervt und fand den Plot stellenweise konstruiert und vorhersehbar, doch manchmal braucht man auch ein bisschen Zeit und Distanz, um das Gegenüber besser zu verstehen. Und so wirkte die Geschichte nach, veränderten sich meine Perspektive und die stürmische Seeluft tat ihr Übriges, mich wieder ins Boot zu ziehen.

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Das perfekte Sommerbuch

Freundin bleibst du immer
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Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass sich ihre Wege trennten; dass sie unbeschwert und voller Freude auf das Leben, das ihnen nach dem Studium bevorstand, zusammensaßen und sich und ihren ...

Mehr als zwanzig Jahre ist es her, dass sich ihre Wege trennten; dass sie unbeschwert und voller Freude auf das Leben, das ihnen nach dem Studium bevorstand, zusammensaßen und sich und ihren Abschluss an der Universität Zaria feierten. Während es Enitan nach New York verschlug, wo sie nun geschieden und alleinerziehend mit ihrer Tochter Remi wohnt, pflegt Zainab ihren nach mehreren Schlaganfällen gelähmten Mann. Funmi hingegen lebt in Hülle und Fülle, sie ist reich: Shoppen-bei-Harrods-reich, Fahrer-und-Diener-und-was-ihr-Mann-macht-ist-unklar-aber-definitiv-korrupt-wobei-sie-lieber-nicht-darüber-nachdenkt-reich. Doch auch wenn tausende Kilometer, mehrstellige Dollarbeträge und abrupte Fluchten sie trennen, das Leben es nicht immer gut mit ihnen meinte, niemals brach der Kontakt zwischen den drei Freundinnen ab. Und umso größer ist die Wiedersehensfreude, als sie nun bei der Hochzeit von Funmis Tochter Destiny in Lagos wieder vereint sind. Das Wiedersehen bringt Erinnerungen ans Licht: an ihre gemeinsame Zeit, ihr Kennenlernen, an das, was sie liebten und verloren. Aber während sie in Vergangenem schwelgen, müssen sie erkennen, dass ihre Töchter ihnen in ihrem rebellischen Wesen in nichts nachstehen.

Es ist diese wärmende, behagliche Atmosphäre, die Tomi Obaros Debütroman „Freundin bleibst du immer“ (OT: Dele Weds Destiny: A Novel, aus dem Englischen von Stefanie Ochel) zu einem absoluten Wohlfühlbuch macht – trotz dessen das Leben der drei Freundinnen Enitan, Funmi und Zainab nicht immer einfach war. Aus ihren jeweiligen Perspektiven beschreibt die Autorin ihr Zusammentreffen, ihre familiären Hintergründe und persönlichen Schicksale. Sie alle hatten einst Träume, wollten Geschichten schreiben, Krankenschwester werden, ein sicheres, gutes Leben führen und Teil einer liebevollen Familie sein. Ihrem ersten Zusammentreffen Anfang der 1980er Jahre an der Universität Zaria gingen Neid und Abschätzigkeit voraus, Überheblichkeit prallte auf Schüchternheit und Bewunderung, doch allmählich rauften sie sich zusammen, waren aufeinander angewiesen und stärkten sich stets gegenseitig den Rücken: in Gesundheit, in Krankheit, in anderen Umständen. Als es 1987 bei studentischen Aufständen zu einem tödlichen Unglück kommt, verändert sich alles und ihre Wege trennen sich.

Mit ausdrucksstarker, schwereloser Sprache und spielerischer Leichtigkeit entwirft Obaro drei grundverschiedene Protagonistinnen, die man sofort ins Herz schließt. Ihre Entwicklung von der Studienzeit bis hin ins Erwachsenenalter, von jungen, zuversichtlichen Mädchen zu vom Leben gezeichneten Müttern, die sich nun in ihren Töchtern gespielt sehen, hat mich mitgerissen, mein Herz mit jedem Auf und Ab tanzen lassen. Sie gibt einen wertvollen, lebendigen Einblick in das Leben in Nigeria, die Klassenunterschiede und gesellschaftlichen wie kulturellen Besonderheiten gegenüber der westlichen Kultur, insbesondere der Hochzeitszeremonie. Darüber hinaus thematisiert sie Rassismus aufgrund von Hautfarbe und Aussehen, Gewalt und sexuellen Missbrauch sowie Abtreibung und psychische Erkrankungen, lässt immer wieder auch den Konflikt der Generationen zwischen Tradition und Moderne durchscheinen. Teilweise werden einzelne Aspekte nur oberflächlich behandelt, wie eine Randerscheinung, doch das tut der Atmosphäre der Erzählung keinen Abbruch, lässt sie eher ausgewogen erscheinen. Lediglich das flüchtige Betrachten der psychischen Probleme ließ mich ein wenig grummeln; hier hätte ich mir mehr Tiefe und Dialog gewünscht.

Müsste ich mich festlegen, ich denke, ich wäre Team Enitan; mit ihrer bodenständigen, ehrlichen Art und ihrer „Begeisterung“ für WhatsApp-Gifs sowie dem Risiko, das sie für die Liebe eingegangen ist, ist sie mir sofort ans Herz gewachsen und ihr Mut imponiert mir. Und doch sind sie alle unglaublich liebenswert und ich habe die gemeinsame Zeit mit den drei Frauen und ihren Töchtern sehr genossen. Eine sommerliche Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 25.07.2022

Bilder, die bleiben

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"Aber was ist das allerschlimmste das du gesehen hast?" (S. 9)

Kayleigh braucht Geld. Nachdem sie einige Monate im Callcenter arbeitete, sind ihre Ansprüche nun relativ gering und sie bewirbt ...

"Aber was ist das allerschlimmste das du gesehen hast?" (S. 9)

Kayleigh braucht Geld. Nachdem sie einige Monate im Callcenter arbeitete, sind ihre Ansprüche nun relativ gering und sie bewirbt sich auf eine Stelle, die zwar wenig aussagekräftig klingt, jedoch zwanzig Prozent mehr Lohn verspricht: "Mitarbeiter (m/w/d) im Qualitätsmanagement". Nach erfolgreicher Eignungsprüfung wird sie übernommen, arbeitet nun als Content Moderator für eine Social Media Plattform, deren Namen sie nicht nennen darf. Ihre Aufgabe: täglich mindestens 500 Videos und Postings ansehen, die als gewaltsam, rassistisch oder suizidal eingestuft wurden, und entscheiden, ob sie gelöscht werden oder stehen bleiben dürfen. Die Arbeitsbedingungen bei HEXA sind hart, die Arbeit zermürbend und die Gefahr, gekündigt zu werden, groß. Ein Team aus Supervisors bewertet ihre Arbeit, erstellt eine Erfolgsquote und analysiert, wie viel Zeit sie braucht, denn: Zeit ist Geld. Würde man Kayleigh nachts aufwecken, sie wüsste alle Regeln auswendig, und doch gelingt es ihr, trotz allem eine professionelle Distanz zu dem Gesehenen zu bewahren - und Spaß an der Arbeit zu finden. Nicht zuletzt wegen Sigrid. Während der gemeinsam im Pub verbrachten Feierabende kommen sie sich näher, verlieben sich; ihr Glück scheint vollkommen. Doch plötzlich verändert sich alles: Ihre Kollegen halten dem psychischen Druck nicht mehr stand, brechen zusammen, reden über Verschwörungstheorien - und Sigrid beginnt sich zunehmend von ihr zu distanzieren. Kayleigh versteht nicht, was vor sich geht. Ist sie die Einzige, die dem Druck standhalten kann - oder merkt sie nur nicht, wie sie sich allmählich verändert?

Eindringlich und aufwühlend entwirft Hanna Bervoets in ihrem Roman "Dieser Beitrag wurde entfernt" (OT: Wat wij zagen, aus dem Niederländischen von Rainer Kersten) ein Psychogramm der gegenwärtigen Gesellschaft, in der Social Media und die Nutzung von Smart Devices über den Alltag und die soziale Interaktion bestimmen. Ein Leben ohne wäre für die meisten undenkbar. Was wir sehen, beeinflusst uns und unser Handeln, unser Denken - unser Leben. Was nicht ungefährlich ist, denn: die Abhängigkeit entsteht leise. Hanna Bervoets blickt hinter das Bild, das wir auf unsere Bildschirmen sehen, unter Umständen selbst erzeugen: Sie deckt auf, unter welchen abstrusen, unmenschlichen Bedingungen die Menschen arbeiten, die darüber bestimmen, was wir in der digitalen Parallelwelt sehen, welchen Bildern sie ausgesetzt sind, um uns vor traumatischem oder negativ beeinflussendem Content zu schützen.

Nachdem ihre Kollegen bei HEXA gekündigt hatten, Kayleigh selbst auch schon seit mehreren Monaten nicht mehr dort arbeitete, wurde eine Sammelklage gegen die Arbeitsbedingungen und die Auswirkungen der Arbeit auf ihre mentale Gesundheit aufgesetzt. Herr Stisic, der zuständige Anwalt, fordert sie nun unerbittlich dazu auf, sich an der Klage zu beteiligen. Darauf hat Kayleigh keine Lust, doch sie ist bereit, ihm von ihren Erfahrungen bei HEXA zu erzählen, wenn er sie dafür in Ruhe lässt. Es gleicht einem Geständnis oder viel eher einer Offenbarung, wie Kayleigh ihre sexuellen Erfahrungen mit anderen Frauen, ihre Zeit als Content Moderator und die Beobachtungen und Erfahrungen, die sie machen musste, mitteilt. Nüchtern reflektiert sie, wie die Grenze zwischen moderierter und gelebter Realität allmählich verschwimmt, sie und ihre Kollegen ohne psychologische Betreuung in der Luft schweben mussten, immer unter dem Druck standen, zu versagen. Und das Bedürfnis verspürten, helfen zu müssen. Solange, bis sie daran zerbrechen.

Auf der einen Seite finde ich den Roman in seiner Intention unglaublich interessant, die Kritik, die die Autorin übt, und auch den sanft gezogenen Vergleich zwischen der Arbeit bei HEXA und der Unbeständigkeit von Kayleighs Beziehungen, dass all das der subjektiven Einschätzung, dem Blickwinkel unterliegt. Doch irgendwo fehlte mir die Tiefe in den Beschreibungen der psychologischen Auswirkungen, das gewisse Etwas und letztlich die Empathie und Nähe zu den Charakteren und ihren Schicksalen. Nichtsdestotrotz ein kurzweiliges, eindringliches Buch, das zum Denken anregt und Spuren hinterlässt.

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