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Veröffentlicht am 14.11.2017

5 Gründe, "Geister" zu lesen

Geister
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Statt einer klassischen Buchbesprechung gibt's von mir eine Aufzählung: 5 Gründe, "Geister" von Nathan Hill zu lesen

1) Die Geschichte

Wenn Bücher mit Argumenten wie "Der Autor verwebt die Geschichte ...

Statt einer klassischen Buchbesprechung gibt's von mir eine Aufzählung: 5 Gründe, "Geister" von Nathan Hill zu lesen

1) Die Geschichte

Wenn Bücher mit Argumenten wie "Der Autor verwebt die Geschichte des Landes auf beeindruckende Weise mit dem Schicksal einer Familie" empfohlen werden, bin ich raus. Ein Garant für Langeweile, denke ich, und lege das Buch wieder zurück. Das mag etwas ignorant sein. Und ja, sicher sollte ich bei meiner Lektüreauswahl etwas offener sein, mich auf neue Themen einlassen und überhaupt ... auch mal die Komfort-Zone verlassen. Aber man kommt mit dem Lesen ja ohnehin kaum hinterher. Da bleibt mir nicht die Zeit, auch noch die Bücher zu lesen, die mich nicht interessieren.
Ich bin sehr froh, dass "Geister" nicht mit dieser oder einer ähnlichen Floskel beworben wurde. Denn sonst wäre mir dieses Buch am Ende noch entgangen. Und das wäre nicht nur schade, weil es tatsächlich die amerikanische Geschichte auf beeindruckende Weise mit dem Schicksal einer Familie verwebt, sondern vor allem auch weil mich die Handlung schon nach wenigen Seiten gepackt hat. Sie ist spannend, bietet Tiefe, ist originell und steckt voller unerwarteter Wendungen, ohne je befremdlich zu wirken oder abgedroschene Gemeinplätze zu bedienen.

2) Die Charaktere

Als gefrusteter Universitätsdozent, der seine Freizeit damit verbringt, stundenlang vorm Computer zu sitzen und World of Elfscape zu spielen, ist Samuel wahrlich kein klassischer Held. Der Ärger über seine Studenten, seine Antriebslosigkeit und seine Sorge, sein Leben am Ende verwirkt zu haben, machen ihn zwar zu einem angenehmen, aber nicht unbedingt zu einem sympathischen Protagonisten. Als Junge weinerlich, immer darum besorgt, etwas Unerwünschtes zu tun, als Mann voller Wut und Trauer darüber, vor Jahren von seiner Mutter verlassen worden zu sein und keine Chance bei der Frau zu haben, die er seit seiner Kindheit liebt. Ein Mann ohne Ziele, ohne jeden Tatendrang, ohne Energie. Ein Mann, der es sich in seinem trübseligen Leben gemütlich gemacht hat. Man möchte ihn rütteln, ihn schubsen, ihn handeln sehen und gleichzeitig weiß man "Genau so ist der Mensch." Wir lassen Chancen verstreichen, bleiben sitzen, wenn wir aufstehen sollten. Und ärgern uns darüber.
Und auch Samuels Mutter ist eine Frau, die von einer tiefen Angst vor Ablehnung gezeichnet ist, die sich vor Fehlern fürchtet, aber impulsiv ist und Entscheidungen trifft, die sie später bereut. Die mit den Konsequenzen lebt, egal wie sie aussehen, und nicht dagegen ankämpft.
Es sind Menschen, wie wir ihnen jeden Tag begegnen. Sie halten sich selbst und dem Leser einen Spiegel vor.

3) Die Dialoge

Guy Periwinkle ist wohl die schillerndste Figur in "Geister". Samuels Lektor ist ein extrovertierter, begeisterungsfähiger Mann, der den Dozenten dazu bringen will, endlich das Buch zu schreiben, für das er schon vor Jahren einen ordentlichen Vorschuss bekommen hat. Doch eigentlich interessiert Periwinkle sich nicht sonderlich für Samuel. Meist driftet er schon nach der Begrüßung ab und verliert sich in Monologen über andere Klienten (er ist schon lange nicht mehr nur für Bücher zuständig, sondern ist – wie es seine Visitenkarte hergibt – für „die Produktion von Interessen“ verantwortlich) und Marketingclous (da kann das kurze Lob über einen gelungenen Werbeslogan (z.B. „Brauchst du neuen Schwung im Snack-Einerlei“) innerhalb weniger Sätze in einem Vortrag über die Malereien in der Chauvet-Höhle und die Entwicklung der amerikanischen Zivilisation abdriften). Samuel dagegen, dankbar darüber, dass er nicht über sein Buch sprechen muss, geht liebend gerne auf die verbalen Ergüsse seines Lektors ein, begreift absurdeste Gedankensprünge als Chance, das Gespräch möglichst lange von seinen Schreibfortschritten fernzuhalten, und gibt hier und da ein paar ernstgemeinte Ratschläge. Die Telefongespräche entwickeln sich schnell zu skurrilen Dialogen voller rasanter Wortwechsel und erfrischendem Humor.

4) Die Erzählweise

Weder der in den Feuilletons immer wiederkehrende Vergleich zu Jonathan Safran Foer noch der zu Jonathan Franzen erscheint mir passend. Während Foer zwar vor allem in "Extrem laut und unglaublich nah" Originalität beweist, schwingt in seinen Romanen doch auch stets ein leiser Kitsch mit, der ihnen die Glaubwürdigkeit nimmt. Franzen dagegen ist zwar bekannt für große Familienepen, doch mit der kurzweiligen Erzählweise von Hill lassen sich seine Geschichten schwer vergleichen. Der amerikanische Autor hat es geschafft, ein fast 900-seitiges Werk wie einen kurzen Roman wirken zu lassen. Seine Sprache lebt von einer Leichtigkeit, sie ist ungezwungen, locker, ohne je belanglos zu sein. Hills Metaphern sind geistreich, seine Bilder und Vergleiche ungewöhnlich. Für ein Kapitel übernimmt der Protagonist die Rolle des Autors und erzählt die Geschichte in Form einer "Wähle-dein-eigenes-Abenteuer"-Buch weiter, dann vergleicht Hill die vier Typen von Quests bei World of Elfscape mit den Herausforderungen im realen Leben. Hill ist ein Autor, der nicht nur mit einer tollen Geschichte aufwartet, sondern sie auch überzeugend und abwechslungsreich zu erzählen weiß.

5) Das Cover

Ja, schon klar. Das ist nicht wirklich ein guter Grund, um das Buch zu lesen. Aber vielleicht um es zu kaufen. Große Blockbuchstaben und geprägte Konturen einer Hochhauslandschaft auf einem hellen Hintergrund - das Cover ist zurückhaltend und unaufdringlich. Und besticht gerade durch diese Schlichtheit.

Veröffentlicht am 01.08.2017

Kann Erzählen heilen?

Ein wenig Leben
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Es ist die Geschichte von vier Männern: Jude, Willem, Malcom und JB lernen sich auf dem College kennen und teilen sich eine Wohnung. Sie studieren, wählen einen Beruf, entscheiden sich, wie und mit wem ...

Es ist die Geschichte von vier Männern: Jude, Willem, Malcom und JB lernen sich auf dem College kennen und teilen sich eine Wohnung. Sie studieren, wählen einen Beruf, entscheiden sich, wie und mit wem sie ihr Leben verbringen möchten.

Vier Männer, die völlig unterschiedlich sind und die doch ihr Leben lang eine tiefe Freundschaft verbindet.

Und im Mittelpunkt von allem: Jude, ein intelligenter Mann, der nach dem Jurastudium zu einem der erfolgreichsten und gefürchtetsten Anwälte des Landes wird. Der sich ein teures Loft leisten kann und sich in illustrer Gesellschaft bewegt. Und ein Mann, über den seine Freunde kaum etwas wissen. Über seine Vergangenheit spricht Jude nicht. Er erheitert seine Freunde nicht mit Anekdoten aus der Kindheit, verliert nie ein Wort über seine Jugend und verschweigt die Ursache für seinen humpelnden Gang und seine Schmerzanfälle. Mit allen Mitteln versucht er, unauffällig zu bleiben. Jede Aufmerksamkeit, die ihm zuteilwird, blockt er ab.

Doch statt das Interesse zu verlieren, wächst die Neugier seiner Freunde - und des Lesers. Anfangs noch eine leise Ahnung, wird eins schnell zur Gewissheit: In Judes Vergangenheit müssen Misshandlungen stattgefunden haben. Doch lange bleiben einem nur Spekulationen. Vage Vorstellungen von Ereignissen, die aus den Andeutungen des Erzählers resultieren. Schlussfolgerungen, die beide - Freunde und Leser - aus Judes Verhalten ziehen. Und doch hat der Leser einen gewissen Wissensvorsprung. Er bekommt Einblicke in Judes Gedanken, die allen anderen verborgen bleiben, und wird Zeuge seiner Flashbacks, die ihn so quälen. Und gleichzeitig wird der Leser manipuliert. Andeutungen, kurze Rückblicke und subtile Cliffhanger schaffen eine düstere Atmosphäre und führend dazu, sich das schlimmstmöglichen Fall auszumalen.

Und auch wenn es einige Zeit braucht (immerhin ist das Buch über 900 Seiten lang) bis die Geschichte von Jude erzählt ist: Eins ist schon früh klar: Was auch immer in Judes Vergangenheit passiert ist, es hat dazu geführt, dass er sich nicht als anderen ebenbürtig empfinden. Er verletzt sich selbst, schneidet sich exzessiv mit Rasierklingen und schmeißt sich mit seinem Körper gegen Wände. Seine Verletzungen und Narben sind das, was er verdient. Sein Leben, sein Körper, sein Leiden, sein Glück, seine Gefühle, all das wird nicht mit dem gleichen Maß gemessen wie bei anderen.

Und doch hofft der Leser, dass Jude begreift, dass er für seine Vergangenheit nicht verantwortlich, dass er Opfer und nicht Täter ist. Und wie seine Freunde glaubt er daran, dass das Leben reparabel ist, dass die Wunden, die Jude zugefügt wurden, verheilen können. Darüber reden – das ist der Rat, den er von allen bekommt. Von seinem Arzt, der Sozialhelferin, seinen Freunden. Und nicht zuletzt auch vom Leser: Denn auch er möchte, dass Jude seine Geschichte erzählt. Dass durch die Erzählung ein Heilprozess stattfindet. Er hofft auf die Wendung, die Katharsis, die die Literatur verspricht.

Doch Jude weigert sich. Er glaubt nicht an die Heilkraft des Erzählens.

Judes Leidensgeschichte ist eine so schonungslose Aneinanderreihung von Misshandlungen, dass das Lesen schwerfällt. Und auch wenn der Erzähler keinerlei Zweifel an der Authentizität der Erlebnisse aufkommen lässt, so ist es doch zu viel. Ein Zuviel an Grausamkeit, an Unmenschlichkeit, an Härte, die einer einzigen Person zuteilwird. Es ist als würde sich in Judes Kindheit die Rohheit der gesamten Menschheit spiegeln. Doch solange sich Jude an kleinen Glücksmomenten erfreut, Freundschaften genießt und darauf hofft, einen Platz im Leben zu finden, solange hofft auch der Leser, dass die Geschichte trotz allem eine gute Wendung nehmen kann. Denn neben dem vielen Schmerz ist da noch eine rührende Geschichte über Freundschaft und zarte Liebe, die wie ein Gegenentwurf zu Judes bisherigem Leben erscheint. Und so meint man, dass das Leben vielleicht doch reparabel ist. Egal, wie ernst die Verletzungen auch sind.

Das Buch zieht den Leser in einen Bann, dem er kaum entkommen kann. Es ist ein ständiger Wechsel zwischen Entsetzen, Hoffen, Wut und Rührung.

Veröffentlicht am 24.03.2017

“Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren"

Die Revolte des Körpers
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Alice Miller spricht in „Die Revolte des Körpers“ über das vierte Gebot und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft

“Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, ...

Alice Miller spricht in „Die Revolte des Körpers“ über das vierte Gebot und dessen Auswirkungen auf die Gesellschaft

“Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass du lange lebest in dem Lande, das dir der Herr, dein Gott, geben wird.“ Dieses ist das vierte von zehn Geboten, die Mose laut dem Alten Testament auf dem Berg Sinai von Gott erhielt.

Alice Miller schreibt in ihrem 2005 erschienenen Buch „Die Revolte des Köpers“ über die Bedeutung dieses Gebots, das nicht nur Jahrtausende lang überleben konnte, sondern dessen Inhalt sogar ausschlaggebend für die Zielsetzung der Psychotherapie wurde.

Nach Miller wird in der vorherrschenden Therapie davon ausgegangen, dass das oberste Ziel die Versöhnung mit den Eltern sei. War die Kindheit noch so schlimm, wurde man misshandelt oder missbraucht, so solle man in der letzten Therapiestunde doch dazu bereit sein, seinen Eltern zu verzeihen und Liebe für sie zu empfinden. Nur so könne man von einer erfolgreichen Behandlung sprechen.

Mit dieser Auffassung wollte die Schweizer Psychoanalytikerin nicht länger konform gehen und gab ihre Arbeit nach zwanzig Jahren auf um sich mit den Ergebnissen ihrer Kindheitsforschung in Form von mittlerweile elf Büchern an die Öffentlichkeit zu wenden.

Sie stellt sich gegen die Verleugnung der Gefühle, die das Resultat leidlicher Kindheitserfahrung darstellen, und möchte misshandelte Opfer ermutigen, die wahren Empfindungen nicht länger Zugunsten einer verinnerlichten, aber unreflektierten Norm zu unterdrücken.

Dostojewski, Franz Kafka, Virginia Woolf und Marcel Proust – sie alle verbindet nicht nur die Schriftstellerei, sondern auch eine komplizierte Beziehung zu ihren Eltern. So zeugen Berichte über Dostojewskis Vater von maßloser Brutalität, und Proust war ein von seiner dominierenden und beherrschenden Mutter verängstigter Junge, der immer um ihre Zuneigung bangte. Kafka litt sein ganzes Leben unter der Furcht vor seinem Vater und Woolf wurde von ihren Halbbrüdern sexuell missbraucht, ohne Hilfe von ihren Eltern zu bekommen. Sie alle teilten das gleiche Schicksal: Entweder sie starben früh an einer Krankheit oder nahmen sich selbst das Leben.

Anhand dieser biographischen Fakten verdeutlicht Miller ihre Theorie: Der unbewusste Versuch der Autoren dem christlichen Gebot Folge zu leisten und damit über die Grausamkeiten in der Kindheit hinwegzusehen, hieße nichts anderes als Traumata zu ignorieren. Zwar könne man oberflächlich positive Gefühle für die Eltern entwickeln, doch der Körper könne die Erfahrungen nicht verdrängen. Er habe sie registriert, gespeichert und wehre sich. Der Mensch wird krank – die Revolte des Körpers.

Wie sie in ihrem Buch erwähnt, brauchte Miller selbst vierzig Jahre um verdrängte Erinnerungen an Misshandlungen aufzuarbeiten. Sie löste sich von der traditionellen Moral, der sie nicht entsprechen konnte, und den damit verbundenen Schuldgefühlen.

Neben den eigenen Erfahrungen bezieht sich Miller auf Briefe, Biografien und Berichte anderer Opfer, deren Geschichte mit ihrer Theorie übereinstimmen.

Immer wieder macht sie auf die Gefahren aufmerksam, die eine Unterwerfung unter die Diktatur der Moral in sich bergen. So widmet Miller sich in einem nur vierseitigen Abschnitt dem Phänomen der Serienmörder und geht speziell auf die Biografie von Patrice Alègre ein, der mehrere Frauen vergewaltigt und erwürgt hat. Auch hier finden wir eine schlimme Kindheitsgeschichte mit einem gewalttätigen Vater und einer Prostituierten als Mutter, die mit ihrem Sohn nicht nur Inzest beging, sondern ihn auch als Wächter vor der Tür positionierte, wenn sie Kundschaft empfing. Für die Psychoanalytikerin ist der Fall klar: Die Verwirrung, die das sexuelle Verhalten der Mutter auf Alègre bewirkt, löst in dem Jungen den Wunsch aus, seine Mutter, während sie beim Verkehr stöhnt, zu töten. Da er aber den eigentlichen Hass unterdrückt und meint, sie zu lieben, ermodert er an ihrer Stelle andere Frauen.

Die Einfachheit dieser Analyse erscheint fast unglaubwürdig. Millers Argumentation lebt von einer plausiblen Logik, die sich auf alle ihre zahllosen Beispiele anwenden lässt. An scheinbar zu vielen Fällen lassen sich die Konsequenzen aufzeigen, die das Halten an das vierte Gebot mit sich bringt. Es ist wohl das Unkomplizierte, das Zweifel an Millers Theorie aufkommen lässt.

Gleichzeitig beweist die Analytikerin jedoch mit ihren zahlreichen Veröffentlichungen und ihrer langjährigen Forschungsarbeit ihre Unabhängigkeit von traditionellen Normen, indem sie ein altbewährtes System hinterfragt, sich mit einer klaren Begründung dagegen wendet und ihm eine nachvollziehbare und interessante Alternative entgegenstellt. Es ist lohnend, sich mit dieser neuartigen Sichtweise zu beschäftigen, zumal Miller sehr darauf bedacht ist, eine leicht verständliche Sprache zu verwenden. Denn nicht zuletzt ist es ihr Ziel, die Gesellschaft und damit auch Opfer aufzurütteln und für das Problem des vierten Gebots zu sensibilisieren.

Veröffentlicht am 24.03.2017

Spannend wie ein Krimi

Die geheime Geschichte
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Mit einem Stipendium beginnt Richard Papen sein Studium am College von Hampden in Vermont. Für den aus einfachen Verhältnissen stammenden jungen Mann ist das Leben fernab von seiner kalifornischen Heimatstadt ...

Mit einem Stipendium beginnt Richard Papen sein Studium am College von Hampden in Vermont. Für den aus einfachen Verhältnissen stammenden jungen Mann ist das Leben fernab von seiner kalifornischen Heimatstadt die Erfüllung seiner Träume. An der Universität trifft er schon bald auf eine Gruppe von Studenten, die sich alle für einen Griechischkurs bei Professor Julian Morrow eingeschrieben haben, und meist unter sich bleibt. Auf Außenstehende wirken die fünf Freunde unnahbar und arrogant. Doch Richard wird neugierig, findet Anschluss und wählt Griechisch als Hauptfach an. Er wird Teil der Gruppe und verbringt seine Zeit von nun an nur noch mit den Studenten.

Während Robert den Fünfen anfangs noch voller Bewunderung gegenüber steht, spürt er bald, dass die Stimmung zwischen ihnen angespannter wird. Zwischen Alkoholexzessen und philosophischen Diskussionen versucht er seine Rolle in der Gruppe zu finden und ahnt gleichzeitig, dass die anderen etwas vor ihm verheimlichen. Ein unaufgeklärter Mord wird zum Wendepunkt der Geschichte. Unsicherheiten, gefährliche Späße und Drohungen lassen die Gruppe auseinanderbrechen. Zerfressen von Misstrauen und Angst zerbrechen die Freundschaften und aus ehemaligen Freunden werden Feinde.

Was wie eine leicht daher kommende College-Geschichte beginnt, entwickelt sich zu einem tiefgründigen Roman über die menschliche Psyche. Donna Tartt hat sechs Jahre an diesem Roman gearbeitet, der nach eigenen Angaben einige biografische Elemente beinhaltet. Anders als es den Anschein hat, ist keiner der Charaktere glücklich. Doch erst durch den verübten Mord und die darauffolgende, alles beherrschende, Angst treten die Unzulänglichkeiten der Figuren deutlich zutage. Die Charakter stoßen an ihre Grenzen und der Leser muss tatenlos zusehen, wie sie mit der Schuld und Überforderung umgehen. Es ist eine Geschichte, die sich so spannend liest wie ein Krimi und gleichzeitig nachdenklich stimmt.

Veröffentlicht am 24.03.2017

Abenteuer und Philosophie

Schiffbruch mit Tiger
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Als Pi Patels Eltern nach Kanada auswandern wollen, verkaufen sie ihren Zoo in Indien und beginnen ihre Reise mit dem Frachter „Tsimtstum“ über den Pazifik. Mit im Gepäck sind auch etliche Tiere, die in ...

Als Pi Patels Eltern nach Kanada auswandern wollen, verkaufen sie ihren Zoo in Indien und beginnen ihre Reise mit dem Frachter „Tsimtstum“ über den Pazifik. Mit im Gepäck sind auch etliche Tiere, die in einem Zoo in der neuen Heimat übernommen werden sollen.

Doch eines Nachts passiert die folgenschwere Katastrophe: Das Schiff sinkt und Pi rettet sich als einziger Überlebender auf eins der Rettungsboote. Mit ihm ein verletztes Zebra, eine Hyäne und ein Orang-Utan. In seinem überforderten Zustand rettet Pi auch noch den großen, bengalischen Tiger, Richard Parker aus der tobenden See und wird sich gleich seines schwerwiegenden Fehlers bewusst.

Es ist der Beginn einer langen, erschöpfenden Reise eines jungen Mannes, der sich schon als Kind zu drei verschiedenen Religionen bekannt hat. Auf der Suche nach einem tieferen Sinn im Leben hat er sich voller Inbrunst dem Buddhismus, dem Islam und dem Christentum hingegeben. Allen drei Religionen räumt er den gleichen Raum in seinem Leben ein. Dabei sieht er keinen Grund, sich für einen der Glaubensrichtungen entscheiden zu müssen.

227 Tage verbringt Pi auf dem Rettungsboot. Hunger und Durst sind der ständige Begleiter des indischen Jugendlichen, der seinen Vegetarismus hinter sich lassen muss, Fische und Schildkröten fängt, und unter der ständigen Nässe und dem allgegenwärtigen Salz leidet. Dabei ist Richard Parker beides: Eine lebensbedrohliche Gefahr und die einzige Gesellschaft, die Pi vor der zermürbenden Einsamkeit bewahren kann. Mit seiner kraftvollen Sprache präsentiert Martel die Zerrissenheit und Verzweiflung des Helden und nimmt den Leser mit auf die belastenden Monate auf dem offenen Meer.

Es ist die Geschichte, die Pi in allen Einzelheiten erzählt, als zwei Mitarbeiter des japanischen Verkehrsministeriums ihn im Krankenhaus besuchen und sich nach dem Unfall des Frachters erkundigen. Doch als die Japaner erhebliche Zweifel an den Ausführungen des Überlebenden anmelden, präsentiert Pi eine weitere Geschichte – von ihm, seiner Mutter, einem Matrosen und einem Koch. Eine Geschichte, in der nach Mord- und Todschlag nur er übrig blieb.

Seinen Zuhörern überlässt er die Entscheidung darüber, welche der beiden Geschichten nun die besser - und die wahre ist. „Und genauso ist es mit Gott“, schließt er seine Erzählungen. Und damit lässt er nicht nur die zwei Japaner in Unsicherheit – sondern auch den Leser, der, wie ich, mit gemischten Gefühlen zurückbleibt.

Es ist die lebendige Erzählweise, die Martels Roman so locker-leicht daherkommen lässt – und eine Geschichte, die skurril, schräg und fast humorig wirkt. Doch „Schiffbruch mit Tiger“ steckt auch voller Symbolik und philosophischen Überlegungen. Es geht um die Glaubwürdigkeit von Dingen, die sich nicht nachprüfen lassen. Und um die Beweggründe, die Menschen zu ihren Entscheidungen führen. Der Roman lässt dem Leser nicht nur die Entscheidung, welche der Geschichten er für die wahre hält, sondern auch, wie weit er in der Tiefe der Geschichte von Pi schürfen möchte.