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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 02.10.2022

Ein Jahreshighlight!

Lügen über meine Mutter
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“Früh hat sich in meinen kindlichen Blick der Blick meines Vaters eingeschrieben. Lange Zeit habe ich sinen Blick mitgesehen, ob ich wollte oder nicht. Ich musste lernen, ihn aktiv zu verweigern.”

In ...

“Früh hat sich in meinen kindlichen Blick der Blick meines Vaters eingeschrieben. Lange Zeit habe ich sinen Blick mitgesehen, ob ich wollte oder nicht. Ich musste lernen, ihn aktiv zu verweigern.”

In Elas Kindheit dreht sich alles um ein Thema: das Gewicht der Mutter. Dieses wird vom Vater permanent kommentiert und beispielsweise für seinen fehlenden beruflichen Erfolg verantwortlich gemacht. Die Mutter ist praktisch permanent auf verschiedensten Diäten, wird vom Vater zur Gewichtskontrolle durch tägliches Wiegen gezwungen, darf aufgrund ihres Gewichts nicht ins Freibad oder in den Urlaub. All das wird beschrieben von Tochter Ela, die die Kommentare und die Wahrnehmung des Körpers der Mutter in der Familie, im Dorf, in der Öffentlichkeit aus nächster Nähe miterlebt.

“‘Du weißt gar nicht, was du mir antust’, sagte er leise und wanderte mit dem Blick ihren Körper entlang.”

Spannend ist auch die Form, die Daniela Dröscher für ihren Roman wählt: Auf jedes Kapitel aus der Kinderperspektive folgt ein kurzer Text aus ihrer Erwachsenensicht, in dem sie aus heutiger Perspektive die Situation kommentiert/einordnet oder Gespräche mit ihrer Mutter teilt - hat für mich sehr gut funktioniert von der Form her, die “heute Texte” hätten manchmal auch gern noch etwas länger sein dürfen, weil ich es so spannend fand!

“Lügen über meine Mutter” war keine leichte Lektüre, sondern eine die mich oft beim Lesen hat schlucken lassen, die mich sehr bewegt und auch sehr gefesselt hat. Der Roman hat während des Lesens einen riesen Denkprozess in mir angestoßen, denn an vielen Stellen musste ich unwillkürlich darüber nachdenken, wie meine Mutter über ihren eigenen Körper sprach und Diäten ausprobierte, und wie sich das im Jugendalter auf meine Körperwahrnehmung ausgeübt hat.

Eigentlich steckt in "Lügen über meine Mutter" aber thematisch noch so viel mehr als “nur” das Thema Gewicht/Fatshaming: gewollte und ungewollte Mutterschaft, Care Arbeit, weibliche Unabhängigkeit und Geld, soziale Klasse bzw. sozialer Aufstieg, Herkunft im Nachkriegsdeutschland, und und und. Ich habe so viele Stellen beim Lesen angestrichen und bin einfach sehr begeistert vom Roman - steht völlig zurecht auf der Longlist des deutschen Buchpreises!

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Veröffentlicht am 02.10.2022

Sehr berührend

Anleitung ein anderer zu werden
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In “Anleitung ein anderer zu werden” erzählt Édouard Louis seine (Klassen-)geschichte: Aufgewachsen in ärmsten Verhältnissen in einem Dorf im Norden Frankreichs, schafft er den Sprung ans Gymnasium in ...

In “Anleitung ein anderer zu werden” erzählt Édouard Louis seine (Klassen-)geschichte: Aufgewachsen in ärmsten Verhältnissen in einem Dorf im Norden Frankreichs, schafft er den Sprung ans Gymnasium in einer größeren Stadt, von dort aus bis an die Universität und schlussendlich sogar bis nach Paris. Das Buch ist eine Erzählung des Weges dorthin, den Menschen, die ihn auf dem Weg - oder auf verschiedenen Etappen - begleitet und geformt haben, auf die Veränderungen, die er - sowohl optisch, als auch innerlich - durchlaufen hat. Denn der Klassenaufstieg bedeutet für ihn auch schmerzliche, hart trainierte Veränderungen: Manieren, Dialekt und Lachen mussten passend zu seinen neuen sozialen Kreisen eingeübt werden. Außerdem: Neue Kleidung, neue Frisur und gemachte Zähne.

“Nachts träumte ich davon, mich zu verändern, ein anderer zu werden, und vielleicht wurde bereits in diesen ersten Lebensjahren die Idee der Veränderung für mich zentral.” (S. 26)

Ich hatte ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass mich dieses Buch so fesseln würde. Ich hatte davor noch nichts von Édouard Louis gelesen, fand aber das Klassen-Thema so spannend, dass ich es unbedingt lesen wollte. Ich konnte das Buch gar nicht mehr aus der Hand legen - bevor ich mich versehen hatte, war ein Nachmittag rum und ich hatte einfach 150 Seiten in einem Rutsch weggelesen. Viele Stellen oder Sätze von Édouard Louis gingen mir dabei direkt ins Herz und - auch aufgrund der heftigen Thematiken - hatte ich beim Lesen mehrfach Tränen in den Augen oder musste heftig schlucken. Es gibt kaum eine Seite im Buch, in der ich nicht einen Satz mit Bleistift markiert habe - absolutes Lese-Highlight!

“Nach und nach löschte ich alle Spuren des Menschen aus, der ich gewesen war.” (S. 219)

“Anleitung ein anderer zu werden” war mein erstes Buch von Édouard Louis - aber ich war hiervon so begeistert, dass es garantiert nicht mein letztes bleibt. Eventuell wurde gestern Abend auch schon das nächste von ihm bestellt…

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Veröffentlicht am 28.01.2022

Ein Jahreshighlight!

Dschinns
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Auf keine Neuerscheinug 2022 habe ich mich so sehr gefreut, wie auf diesen Roman. Vor einiger Zeit habe ich nämlich ihr Debüt „Ellbogen“ gelesen und GELIEBT und seitdem habe ich sehnsüchtig auf einen weiteren ...

Auf keine Neuerscheinug 2022 habe ich mich so sehr gefreut, wie auf diesen Roman. Vor einiger Zeit habe ich nämlich ihr Debüt „Ellbogen“ gelesen und GELIEBT und seitdem habe ich sehnsüchtig auf einen weiteren Roman gewartet. Die Erwartungen waren demnach auch ziemlich hoch – und ich wurde nicht enttäuscht.
Deutschland, Ende der 90er Jahre. Hüseyin hat dreißig in Deutschland als Gastarbeiter in einer Fabrik geackert um sich seinen großen Traum, eine Wohnung in Istanbul leisten zu können, doch direkt nach dem Einzug stirbt er an einem Herzinfarkt. Seine restliche Familie – Frau Emine, und die Kinder Sevda, Hakan, Peri und Ümit – reisen zur Beerdigung in die Türkei, die Geschichte wird durch die Perspektiven der Familienmitglieder erzählt.
Und hier zeigt sich für mich auch schon die große Stärke von Fatma Aydemir: Sie kann einfach wahnsinnig reale Charaktere schreiben. Die Familienmitglieder sind alle so komplexe Individuen und es gab keine Perspektive, nicht ich nicht großartig fand. Ohne irgendwie in kitschige oder blumige Sprache zu verfallen hat der Roman so viel Emotion transportiert und mich total gefesselt. Am liebsten hätte ich ihn in einem Rutsch gelesen, ich war so gefesselt.
Auch das „zusammenführen“ der einzelnen Perspektiven ist hier sehr gut gelungen. Durch den Romanaufbau lernen die Lesenden ein Familienmitglied nach dem anderen kennen, erst am Ende können alle Puzzleteile zusammengesetzt werden und auch bisher für unbedeutend gehaltene Kleinigkeiten ergeben plötzlich einen Sinn. Bitte lest alle den Roman, ich brauche Dringend jemanden um über das Ende zu reden! :D Wie auch schon bei ihrem ersten Roman ist auch Dschinns zutiefst politisch, es werden Fragen nach Identität, Sexualität und Feminismus behandelt. Ihr merkt schon – ich bin einfach begeistert. Definitiv ein Jahreshighlight und eine riesengroße Empfehlung!

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Veröffentlicht am 26.07.2023

Überraschungs-Highlight

Nincshof
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Wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich von mir aus zu diesem Buch wahrscheinlich nicht gegriffen. Die Grundidee klang zwar witzig, aber so richtig angesprochen hat mich das Thema irgendwie auch nicht. Zum ...

Wenn ich ganz ehrlich bin, hätte ich von mir aus zu diesem Buch wahrscheinlich nicht gegriffen. Die Grundidee klang zwar witzig, aber so richtig angesprochen hat mich das Thema irgendwie auch nicht. Zum Glück hat der Dumont Verlag mich damit überrascht, denn “Nincshof” war für mich ein absolutes Überraschungs-Highlight!

Der Schauort ist ein kleines österreichisches Dorf an der ungarischen Grenze, das sich laut einer Legende vor etlichen Jahren im Schilf versteckt und so ungestört von der Außenwelt existiert hat. Es findet sich eine vierköpfige Gruppe zusammen, die sich “die Oblivisten” nennen und in der Tradition ihrer Dorf-Legende die Geschichte wiederholen wollen: Nincshof soll vergessen werden! Blöd nur, dass sich eine bekannte Dokumentarfilmerin mit ihrem Mann, der mit seiner Irrziegen-Zucht Touristen in die Region locken möchte, im Dorf niederlassen.

Überzeugt hat mich sofort der feine Humor, der sich durch das gesamte Buch zieht und der mich oft zum schmunzeln gebracht hat. Angefangen beim Thema, über die Dialoge bis hin zu Details wie die Irrziegen. Dazu liebenswerte, etwas schrullige Charaktere, wie zum Beispiel die Rentnerin Erna Rohdiebl, die nachts in andere Gärten einbricht, um im Pool schwimmen zu können. Interessant fand ich auch, dass - entgegen der vermutlich meisten Dorf-Historien - in Nincshof einige ziemlich feministische Traditionen herrschen, wie das Weiterreichen des Nachnamens der Frau. Die philosophischen Fragen, die das Thema “Vergessen/Erinnern” mit sich bringt, haben dem Buch eine angenehme Tiefe gegeben - nicht zu seicht, aber auch nicht so tief, als dass es nicht mehr unterhaltend und leicht zu lesen gewesen wäre. Auch wenn ich es am Anfang wirkich nicht gedacht hätte, hat mich das Buch aus einer Leseflaute gezogen und ich habe es quasi gar nicht mehr aus der Hand legen können. Falls ihr also auch dachtet, dass das Buch nix für euch ist: Lest unbedingt mal in der Buchhandlung rein, ob euch der Humor zusagt! Und da ich schon häufiger gelesen habe, dass “Nincshof” etwas an Mariana Leky erinnert, muss ich da wohl auch ganz dringend mal was lesen.

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Veröffentlicht am 30.03.2023

(K)eine gute Geschichte

Keine gute Geschichte
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Arielle Freytag hat den sozialen Aufstieg geschafft: Aus dem Brennpunktviertel zur erfolgreichen Social-Media-Managerin in einer Agentur mit schicker Wohnung in Creme-Tönen und fancy Kaschmir-Pullis. Hilft ...

Arielle Freytag hat den sozialen Aufstieg geschafft: Aus dem Brennpunktviertel zur erfolgreichen Social-Media-Managerin in einer Agentur mit schicker Wohnung in Creme-Tönen und fancy Kaschmir-Pullis. Hilft aber alles nichts gegen ihre Depression, die sie in Behandlung zwingt. Danach und noch nicht in der Lage, weiterzuarbeiten, kehrt sie zurück in die Heimat und zu ihrer Großmutter, die sie aufgezogen hat. Dort sind zwei junge Mädchen verschwunden, was Erinnerung an das Verschwinden ihrer eigenen Mutter weckt.

Was für ein Debüt! Lisa Roy hat es geschafft, eine Protagonistin zu schreiben, die gleichzeitig relatable und unsympatisch ist. Als jemand, die selbst in einer Marketing-Agentur gearbeitet hat, habe ich die Teile zu Beruf (und bspw. auch ihrem Imposter-Syndrom) komplett geliebt. Arielle erzählt das Buch in einem rotzigen Tonfall mit vielen Anglizismen - das mochte ich eigentlich ganz gern (Stellenweise war es mir etwas too much), wird aber einigen auch gar nicht gefallen.

Richtig gut gefallen hat mir das Thema soziale Ungleichheit, das sich wie ein roter Faden durch die gesamte Geschichte zieht. Die verschwundenen Mädchen, Arielles verschwundene Mutter - hätte die Welt mehr Interesse an ihrem Verschwinden, wenn es sich nicht um eine Ashanti, Tochter einer alleinerziehenden Mutter aus dem “Assi-Viertel”, und eine drogennehmende Teenie-Mutter handelte, sondern um eine geigenspielende Charlotte aus der Reihenhaussiedlung? Oder bei Arielle, die zu Beginn ihrer Agentur Karriere gar nicht weiß, wie sich wohlhabende Menschen kleiden oder verhalten, und die trotz beruflichen Erfolges an Imposter-Syndrom leidet.

Fazit: Ich mochte das Buch sehr, würde es aber nicht uneingeschränkt allen empfehlen. Ich kann mir vorstellen, dass wem die Verbindung fehlt, die Protagonistin eher negativ wahrgenommen wird - vielleicht mal reinlesen in der Buchhandlung. Für mich ein spannendes Debüt, das mir noch eine Weile im Kopf bleiben wird.

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