Profilbild von Viv29

Viv29

Lesejury Star
offline

Viv29 ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Viv29 über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.01.2024

Spannend, atmosphärisch, aber etwas konstruiert

Waiseninsel
7

Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, ...

Waiseninsel beginnt mit einem ungemein spannenden und gruseligen Prolog der gleich neugierig macht. Was die Spannung betrifft, hält die Geschichte das, was der Prolog verspricht; langatmig wird es nie, nur auf den Privatkram der Ermittler und Jessicas Rückblicke hätte ich gerne verzichtet. Das ist aber etwas, das man bei Serien in Kauf nehmen muß. Störender fand ich, daß der Autor die Halluzinationen der Protagonistin Jessica benutzt, um es sich bequemer zu machen. Jessica hat Schizophrenie und dazu noch allerlei Vorbelastungen, die ich zu geballt fand und welche die Handlung gerade am Anfang häufig unterbrachen. Vorbelastete Ermittler sind ein überbenutztes Stilmittel des Genres, auch sonst greift der Autor immer wieder zu überbenutzten Versatzstücken. Abgesehen davon, daß ich es unglaubwürdig finde, daß Jessica im Polizeidienst arbeiten kann, erhält sie durch ihre Halluzinationen immer praktische Eingebungen, da hat der Autor es sich leicht gemacht. Auch manche zuerst gruselige oder spannende Momente entpuppen sich dann als Halluzination – so wird Spannung auf Kosten der Plausibilität erzeugt und ich fühle mich als Leser verulkt. Allerdings kann der Autor auch ohne derlei Hilfsmittel Spannung schaffen und eine gute Geschichte erzählen.

Die Atmosphäre ist das ganze Buch hindurch hervorragend geschildert. Der Großteil der Handlung findet auf einer Insel statt, auf welcher auch die Morde geschahen, und Seeck weiß diese Elemente zu nutzen. Der abgelegene Gasthof mit teils seltsamen Leuten, die ansonsten menschenleere Insel, ein verlassenes Kinderheim, eine gruselige Legende – all dies wird gekonnt verwebt, immer herrscht leichte Beklemmung und jeder scheint ein Geheimnis zu haben. Der historische Hintergrund ist ebenfalls ausgezeichnet ausgesucht und geschildert – hier sind wir im Jahr 1946 in einem Kinderheim, mit einer Gruppe Kinder, die zuerst vor dem Krieg evakuiert wurden und anschließend in einem tragischen Unfall ihre Eltern verloren. Hier rührt die Geschichte der kleinen Maija, die so eindringlich und gefühlvoll erzählt wird, daß es einem beim Lesen das Herz bricht. Man leidet mit ihr und die Erzählweise hat etwas ungemein Sensibles – auch hier zeigt sich wieder das Gespür des Autors für Atmosphäre.

Der Fall selbst ist dann verwickelt und geht in vielerlei Hinsicht in die Tiefe. Die Ermittlungen bringen zahlreiche neue Rätsel und der Autor versteht es, falsche Fährten zu legen. In einem Fall geschah mir das etwas zu plump, aber es gelang jedes Mal, mich zu überraschen, und man merkt, daß hier sorgfältig überlegt und konzipiert wurde. Die Auflösung fand ich leider nicht gänzlich plausibel und sie zeigt auch rückblickend, daß die Geschichte insgesamt zu konstruiert ist. Einen Großteil dieser Auflösung erfahren wir übrigens durch das albernste Stilmittel, auf das fast jeder Krimiautor zurückgreift, obwohl es überbenutzt und komplett unrealistisch ist: im unvermeidlichen Showdown berichtet der Täter seinem künftigen Opfer und/oder anwesenden Ermittlern erst einmal ausführlich von all seinen Taten, Motiven und Vorgehensweisen. Es ärgert mich, daß den Lesern diese lächerliche Szene immer noch in fast jedem Roman dieses Genres vorgesetzt wird, das schwächt eine Autorenleistung ganz erheblich. Seeck beweist in dem Buch zwar, daß er kreative Wege gehen kann, macht es sich aber eben auch oft zu einfach.

So hatte „Waiseninsel“ für mich durch Jessicas diverse persönliche Probleme, die konstruierte Geschichte, die teilweise fehlende Plausibilität und die überbenutzten Krimiklischees mehrere Mankos, allerdings bot das Buch auch prächtige und gekonnte atmosphärische Schilderungen, interessante Einblicke in das finnische Leben und eine überaus gelungene historische Komponente, die sowohl thematisch spannend als auch ausgezeichnet geschildert war. Ich konnte in die Geschichte eintauchen, spannende und leicht gruselige Szenen genießen und wurde überwiegend ausgezeichnet unterhalten.

  • Einzelne Kategorien
  • Handlung
  • Erzählstil
  • Charaktere
  • Cover
  • Spannung
Veröffentlicht am 16.11.2023

Herrlich bebilderte, etwas summarische Reise durch Berlins Dörfer

Idyllisches Berlin
0

Auf den ersten Blick mag man denken, daß „idyllisch“ und „Berlin“ ein Gegensatz ist, und so war ich besonders neugierig auf die angekündigten „schönsten Dörfer der Stadt“. Nachdem ich dieses Buch mit Freude ...

Auf den ersten Blick mag man denken, daß „idyllisch“ und „Berlin“ ein Gegensatz ist, und so war ich besonders neugierig auf die angekündigten „schönsten Dörfer der Stadt“. Nachdem ich dieses Buch mit Freude gelesen habe, kann ich sagen, daß Gary Schunacks Bestreben, seinen Lesern ein fast unbekanntes Berlin zu zeigen, absolut gelungen ist. Ich habe Berlin hier von einer unerwarteten Seite kennengelernt und diese leserischen Ausflüge genossen.

Das Buch ist liebevoll gestaltet. Das beginnt schon beim Titelbild, bei dem ein Huhn, ein Reiher, ein Schmetterling und ein Gartenzwerg als zeichnerische Elemente eingebaut sind, und setzt sich im Buch fort. Die 45 Kapitel (ja, so viele dörfliche Oasen gibt es in Berlin!) haben originelle Titel, die neugierig machen und die wesentlich gelungener sind als sterile Ortsangaben. Jedes Kapitel beginnt mit einigen relevanten Angaben und einem kleinen Umriss von Berlin, in welchem der entsprechende Ort mit einem Punkt eingezeichnet ist. Sehr erfreulich übersichtlich. Hinten im Buch findet sich auf einer Doppelkarte eine größere Ansicht von Berlin, in welche die Lage aller 45 Orte mit nummerierten Kreisen verzeichnet ist, so hat man gleich einen nützlichen Gesamtüberblick. Schade finde ich, daß die Nummern nicht gruppiert sind, so steht hier die 11 neben der 37, die 9 neben der 24, die 2 neben der 22 usw. Für eine Ausflugsplanung fände ich es sinnvoller, die Kapitel nach Lage zu ordnen, auch ein thematischer Grund für die Reihenfolge ist für mich nicht ersichtlich, so daß es etwas sprunghaft wirkt. Allerdings ist das kein erhebliches Manko.

Jedes Kapitel besteht aus einem ganzseitigen Foto, einer Textseite, einer Seite mit mehreren Fotos und einer Übersichtsseite mit Informationen zur nächsten Haltestelle, dem nächsten Parkplatz, einem Einkehrtip und drei Highlights, welche mit einem weiteren Foto abschließt. So sind auch die Kapitel übersichtlich und optisch ansprechend gestaltet. Die vielen Fotos – alle in Farbe – waren eine wahre Freude. Abgesehen von einem stammen alle vom Autor selbst und zeigen damit, welche Hingabe hier einfloss. Die Fotos sind gelungen und fangen die jeweilige Atmosphäre hervorragend ein, sind dazu noch ein visuelles Vergnügen. Es hat Spaß gemacht, auf diese Weise fotografisch durch Berlin zu reisen.

Etwas enttäuscht hat mich der geringe Textanteil. Gerade am Anfang war ich immer irritiert, wenn der Text schon zu Ende war, als ich mich gerade in das jeweilige Kapitel eingelesen habe. Auch wenn ich mich beim Lesen schließlich an die knappen Überblicke gewöhnt habe, blieb es ein Wermutstropfen. Die Texte liefern durchaus gelungene Zusammenfassungen des jeweiligen historischen Hintergrunds, der Atmosphäre und sehenswerter Punkte, auch erfahren wir immer wieder unterhaltsame Fakten wie das Vorhandensein einer noch in Nutzung befindlichen Telefonzelle von 1934, die Herkunft eines ungewöhnlichen Ortnamens oder der sich in einem Fisch an einer Kirchenwetterfahne manifestierende Stolz eines Fischerdorfes – es sind genau solche Informationen, die ein Buch charmant machen und aus der Masse herausheben. Insgesamt sind es aber eben Zusammenfassungen und ich merkte immer wieder, daß ich zu diesem und jenem viel mehr hätte lesen wollen. Schon die Übersichtsseite mit viel weißer Fläche hätte durchaus Raum für eine weitere halbe Textseite gegeben, ohne das Format zu beeinträchtigen. Dem Summarischen fallen dann auch manche notwendigen Informationen zum Opfer, die ohne großen Aufwand hätten eingefügt werden können. So wird im Kapitel über Nikolskoe erwähnt, „die Tochter des Königs von Preußen“ hätte „den Sohn von Großfürst Nikolai“ geheiratet. Welche Tochter es war oder in welchem Jahr das geschah, um welchen König von Preußen es ging – kein Wort. Googlen ergab, daß es sich um die 1817 erfolgte Eheschließung zwischen Charlotte von Preußen und dem künftigen Zar Nikolaus I handelte (der übrigens der Sohn von Zar Paul I war – also ist die Angabe „Sohn von Großfürst Nikolai“ zudem falsch). Auch bei den drei angegebenen Highlights pro Kapitel hätte ich manchmal sehr gerne gewusst, warum dieses Highlight denn nun ein Highlight ist. Hier hätte es schon einen gewaltigen Unterschied gemacht, anstatt von knappen Stichpunkten einfach ein oder zwei Sätze zu jedem Highlight zu schreiben – genug freie Fläche ist auf den entsprechenden Seiten durchaus vorhanden und ich lese ein Buch ja, um die Fakten dort zu erfahren, nicht um Stichworte googlen zu müssen. Auch hätte ich mir gelegentlich eine Bildbeschriftung gewünscht – die Bilder geben einen Gesamteindruck und sprechen meistens für sich selbst, doch hier und da wäre es hilfreich gewesen, zu wissen, was dort abgebildet ist.

Zusätzlich zu dem inhaltlichen Fehler fielen mir auch häufig grammatikalische Fehler, insbesondere beim Satzbau, auf, in einem Fall gleich drei auf einer Seite. So angenehm und flüssig der Text auch geschrieben ist, diese Fehler waren ärgerlich und beeinträchtigten das Lesevergnügen.

Insgesamt lesen sich die Texte aber gut und das Buch enthält eine Menge interessanter und nützlicher Informationen, vier themenbezogene Kapitel komplettieren die ortsbezogenen Informationen anschaulich. Zusammen mit den ansprechenden Bildern kann man auf eine herrlich idyllische Reise gehen, tolle erste Eindrücke gewinnen und Orte kennenlernen, die sogar vielen Berlinern unbekannt sind. Die persönliche Hingabe des Autors für sein Thema ist spürbar und trägt erheblich zu diesem erfreulichen Buch bei.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 07.11.2023

Unterhaltsame, schön bebilderte Informationen

Lost & Dark Places Odenwald
0

Wie schon im „Sachsen“-Band der Lost & Dark Places-Reihe erkundet Cornelia Lohs auch hier wieder 33 „vergessene, verlassene und unheimliche Orte“, diesmal im Odenwald, und wieder sind es nicht nur die ...

Wie schon im „Sachsen“-Band der Lost & Dark Places-Reihe erkundet Cornelia Lohs auch hier wieder 33 „vergessene, verlassene und unheimliche Orte“, diesmal im Odenwald, und wieder sind es nicht nur die Orte selbst, sondern auch die Geschichten dahinter, die zum unterhaltsamen Gesamtbild beitragen. Jedes Buch der Serie beginnt mit einigen Verhaltensregeln für Lost Places, was lobenswert ist, auch wenn ich den letzten Hinweis, man solle darauf achten, beim Betreten nicht gesehen zu werden, um u.a. „mögliche Konfrontationen mit der Polizei“ zu vermeiden, weiterhin fragwürdig finde.

Eine Karte vorne im Buch zeigt durch große Zahlen gleich an, wo im Odenwald sich der jeweilige Ort befindet, was erfreulich übersichtlich ist. Allerdings sind die Zahlen hier ziemlich wild über die Karte verteilt, nicht so schön gruppiert wie im Sachsen-Buch, so daß 3 und 4 neben 27 und 33 stehen, 1 und 2 neben 15, 26 und 29 usw. Ich finde es zur Planung und Übersichtlichkeit angenehmer, wenn die geographisch zusammengehörigen Orte auch im Buch entsprechend gruppiert sind.

Die zahlreichen großen Farbbilder sind eine Freude, hier bekommt man schon beim Lesen einen tollen Eindruck der Orte und kann sich auch jene, die man nicht besuchen würde, gut ansehen. Die Orte selbst reichen vom verlassenen Dorf über recht viele Burgruinen hin zu kirchlichen Gebäuden oder Gedenkstätten. Mehrere davon können allerdings gar nicht von innen besucht werden oder bestehen lediglich aus einer Säule oder recht überschaubaren Überresten. Insgesamt hat die Auswahl mich weniger überzeugt als beim Sachsenbuch, aber es ist durchaus eine interessante Zusammenstellung und ich habe mir schon manche Orte für einen Besuch vorgemerkt.

Wie immer schreibt die Autorin angenehm und zugänglich. In den beiden Büchern, die ich bislang von ihr las, genoss ich es bereits, so viele Geschichten kennenzulernen, in eine Vielfalt historischer Themen und auch persönlicher Schicksale einzutauchen. Dies setzt sich hier fort, allerdings fand ich manche Kapitel doch etwas trocken. Mir fehlte hier manchmal die persönliche, direkte Note und mich irritierten auch kleine Fehler, so steht auf Seite 29 zweimal fast derselbe Satz kurz hintereinander. Zwei Kapitel berichten leider so gut wie nichts über den jeweiligen Ort, eines ist eine Zusammenfassung des Dreißigjährigen Krieges und eines eine Kurzbiographie Hindenburgs. Abgesehen davon, daß dies historisch Interessierten größtenteils schon bekannt sein dürfte, passen solche allgemeinen Informationen dann eher in ein Geschichtsbuch und der Bezug zum jeweiligen Lost Place ist nur ganz am Rande vorhanden. Das Besondere an diesen Büchern ist für mich eigentlich gerade, daß man dort die ungewöhnlichen Geschichten liest, die man eben nicht überall erfährt. Deshalb war ich von einigen Kapiteln doch etwas enttäuscht, während andere eine äußerst gelungene Mischung aus Information und Unterhaltung darstellten und mich beim Lesen ganz in die jeweilige Geschichte eintauchen ließen. Insgesamt kann man hier viel über deutsche und regionale Geschichte erfahren, einige Sagen runden die Thematik „Lost Places“ erfreulich ab.

Für jene, die Lost Places im Odenwald besuchen möchten, finden sich hier viele gute Anregungen, auch hat jedes Kapitel noch einen kleinen Zusatztip in der Gegend. Auch für jene, die ohne Reise einfach gerne auf ein wenig andere Art in Geschichte und Geschichten eintauchen möchten, ist das Buch eine unterhaltsame Lektüre und vermittelt vielfältiges Wissen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 17.10.2023

Gelungener Blickwinkel, herrliche Informationsfülle, teilweise unzugänglicher Stil

Um 1500
0

Die Zeit um 1500 wird den Lesern in 50 Kapiteln vermittelt, jedes davon widmet sich einem anderen Thema und jedem ist ein Bild Dürers vorangestellt. So begleitet uns Dürer durch sein Werk, aber auch durch ...

Die Zeit um 1500 wird den Lesern in 50 Kapiteln vermittelt, jedes davon widmet sich einem anderen Thema und jedem ist ein Bild Dürers vorangestellt. So begleitet uns Dürer durch sein Werk, aber auch durch sein eigenes Leben durch diese Zeit – eine ausgezeichnete Idee, die dem Inhalt einen persönlichen Fokus verleiht und uns zugleich das beeindruckende Werk dieses Künstlers näherbringt. Die erstklassige Ausstattung des Buches wird dem Sujet gerecht, ich war davon begeistert. Das Papier ist hochwertig, so daß die farbigen Abbildungen sehr gut zur Geltung kommen, auch sonst erfreut die visuelle Gestaltung. Die Bilder sind zudem ausgezeichnet ausgewählt, sie passen zum jeweiligen Thema und sind zudem vielfältig. Der Autor erklärt zu Beginn jedes Kapitels das jeweilige Bild und auch das ist sehr gut gemacht, denn so werden die Leser auf einiges hingewiesen, was einem beim reinen Betrachten eventuell entgeht, auch werden Zusammenhänge und Hintergründe erklärt – sehr erfreulich und schon anhand der Bilder erfährt man vieles über die Zeit.

Vom Bild geht der Text dann zu den allgemeineren Informationen des jeweiligen Themas über. Im Vorwort weist der Autor explizit darauf hin, das Wissen zugänglich vermitteln zu wollen. Das gelingt leider nicht durchgehend. Der Schreibstil konnte mich nur teilweise überzeugen. Er ist überwiegend eher gehoben, was ich erfreulich finde, aber allgemein ziemlich steif, bedient sich einer bei populärwissenschaftlichen Büchern ungewöhnlichen Häufung wenig gängiger Fremdworte und eines oft geradezu sperrigen Satzbaus, wie z.B. „Erst allmählich scheint insbesondere der Druck die Sprachform und das Denken über Sprache fixiert zu haben, was umgekehrt eine stärkere Wahrnehmung der Distinktion nach sich zog" oder „Vielmehr bezogen sich schleifenförmig die Erzählungen des Alten und Neuen Testaments auf die Gegenwart, die sie jeweils präfigurierten. Diese typologische Geschichtssicht war zugleich statisch, da sie mit Kohelet 1,9 postulierte ...".
Auch verliert sich der Autor häufig in theoretischen Exkursen, welche für das allgemeine Leserpublikum schlichtweg zu akademisch und trocken sind und bei manchen Themen zu Lasten interessanter praktischer Aspekte gehen.
Solchen wenig zugänglichen Passagen steht dann der Gebrauch von Denglisch gegenüber, so wird überlegt, ob jemand vielleicht „eine eigene Agency“ hatte, wir haben Begriffe wie In-Group, Honeymooners und Hotspots und aus nicht nachvollziehbaren Gründen wird der Begriff „Geschlecht“ durchweg mit „Gender“ ersetzt, z.B. „Kleidungsstücke konnten also (...) mit (...) dem Gender in direkte Korrelation gebracht werden“, und es geht nicht mehr um Geschlechterrollen, sondern Genderrollen. Das Denglisch paßt weder zum Thema des Buches noch zur Zielgruppe (bei einem speziell für Jugendliche geschriebenen Buch wäre es z.B. nachvollziehbarer) und schon gar nicht zum restlichen Schreibstil, so daß diese Begriffe gleich aus mehreren Gründen fehl am Platz wirken.
Dem stehen aber gut geschriebene und angenehm lesbare Passagen gegenüber, gerade in der letzten Hälfte des Buches wird der Text vom Inhalt her handfester und vom Stil her lesefreundlicher. Insgesamt wirkt der Schreibstil etwas uneinheitlich auf mich – hier hätte ein Lektorat noch einiges bewirken können und sollen.

Manche Punkte werden im Text angerissen, aber nicht erklärt, z.B. wird erwähnt, daß es in manchen Häusern bereits fließendes Wasser gab oder andere Sprachen für Reisende keine Probleme darstellten, aber es wird nicht erläutert, wie das funktionierte. Der Autor bemüht sich, so viele Themen und Aspekte wie möglich anzusprechen, was lobenswert, aber bei diesem Format nicht immer durchführbar ist. Dies merkte ich besonders bei einem Kapitel über politische Hintergründe, welches versucht, auf wenig Raum zahlreiche Aspekte eines ohnehin komplexen Themas zu erklären und dadurch zu einer anstrengenden Aufzählung von Fakten und Namen wird, die den Leser schier erschlagen. Auch manche anderen Kapitel haben etwas Aufzählendes, während wieder andere herrlich anschauliche Informationen vermitteln und uns in die Lebenswelt jener Zeit eintauchen lassen.

Erfreulich ist, daß der Autor viele Zusammenhänge ausgezeichnet erklärt und somit zu einem Verständnis für diese Zeit beiträgt, welche über die reine Faktenvermittlung hinausgeht. Auch die Verknüpfungen von Dürers Leben zu allgemeinen Aspekten sind ausgezeichnet gelungen. Die Themenvielfalt ist bemerkenswert und wir erfahren hier sogar Dinge, die viele andere Bücher auslassen, so ist ein Thema dem Humor gewidmet, und wenn es um Sinneseindrücke geht, wird nicht nur lapidar erklärt, daß es auf den Straßen wenig angenehm gerochen haben muß, sondern wir werden geradezu auf eine Sinnesreise mitgenommen. Hier liest man nicht nur, man erlebt es fast schon mit.

Im Anhang findet sich ein umfangreiches, nach Themen geordnetes Literaturverzeichnis, welches nur ein weiteres Zeichen für die unglaubliche Hingabe, Arbeit und Sorgfalt ist, die in dieses Buch mit seiner enormen Informationsfülle einflossen. Auch wenn sich stilistisch manches lesefreundlicher gestalten ließe, würde ich das Experiment, sich der Epoche durch Dürer und seine Werke zu nähern, als gelungen bezeichnen. Ich habe viel Neues gelernt, wurde mir über manche Zusammenhänge bewußt, habe einen neuen Zugang zu den Menschen jener Zeit bekommen und eine enorme Hochachtung vor Dürer und seinem Werk erlangt.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
Veröffentlicht am 28.08.2023

Eine sprachliche Freude

Eigentum
0

„Eigentum“ hat mich von der ersten Seite an aufgrund des wundervollen Umgangs mit Sprache gepackt. Wolf Haas teilt seine Gedanken und Beobachtungen mit einem herrlich trockenen Humor mit, ohne daß die ...

„Eigentum“ hat mich von der ersten Seite an aufgrund des wundervollen Umgangs mit Sprache gepackt. Wolf Haas teilt seine Gedanken und Beobachtungen mit einem herrlich trockenen Humor mit, ohne daß die Sensibilität des Themas darunter leidet. Wir begleiten nämlich Wolf Haas‘ Mutter auf ihren letzten beiden Lebenstagen und von dort aus durch Teile ihres Lebens. Es ist eine harte, entbehrungs- und enttäuschungsreiche Lebensgeschichte, welche die Mutter laut Aussage eine Dorfbewohnerin zu einer „schwierigen Person“ macht, während ihr eigener Sohn sie als „verrückt“ bezeichnet. Die Geschichte wird uns in allerlei Zeitsprüngen erzählt, die ausgezeichnet miteinander verwoben sind.
Die Leser sitzen mit dem Autor neben seiner Mutter, gehen mit ihm an Orte seiner und ihrer Vergangenheit, haben teil an seinen gelegentlich mäandernden Überlegungen. Diese resultieren in manchmal sprunghaften Themenwechseln, die interessant zu lesen sind und dafür sorgen, daß der Text wie eine Wundertüte wirkt, bei der man nie weiß, was als nächstes kommt. Es ist vor allem diese Sprachvirtuosität, welche das Buch so überzeugend macht, denn auch wenn die Lebensgeschichte der Mutter nicht uninteressant ist, so ist sie keineswegs so außergewöhnlich, daß sie an sich schon spannende Lektüre ausmacht. Das merkt man insbesondere in den Passagen, in denen Haas‘ Mutter direkt erzählt, wir also ihre eigenen Worte lesen. Es bringt eine persönliche Note in das Buch, die Stimme der Frau zu lesen, von welcher das Buch handelt, aber hinsichtlich des Lesevergnügens fielen diese Passagen vom Stil und den detailreich berichteten Nebensächlichkeiten her ziemlich ab.
Auch der Autor selbst verlor sich oft in weniger interessanten Details und Überlegungen, setzt zudem gerne Wiederholungen als Stilmittel ein (worauf er im Text selbst Bezug nimmt). Letztere schwächten den Text für mich häufig. Auch fehlte mir in der Geschichte ein wenig die spätere Entwicklung der Mutter, hier wird vieles angedeutet und hinterläßt Fragen.
Das Leitthema „Eigentum“, welchem die im Jahr der Hyperinflation Geborene jahrzehntelang trotz harter Arbeit erfolglos hinterherrennt, um schließlich resigniert aufzugeben und das so ersehnte Stück Land erst mit der eigenen Grabstelle zu erlangen, ist ausgezeichnet gewählt und zeigt die Tragik dieses Lebens. Es liegt eine Melancholie über dem Buch, immer wieder kurz aufgehellt von dem lakonischen Humor. Trotz mancher langatmiger Passagen ist „Eigentum“ eine überzeugende und erfreuliche Leseerfahrung, die einen sprachlich und vom Aufbau her elegant konzipierten Einblick in das Leben der Mutter und die Gedanken des Sohnes bietet.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung