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Veröffentlicht am 16.04.2023

Vom American Way of Life und Schreibmaschinen

Schräge Typen
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Der bekannte und mehrfach ausgezeichnete Schauspieler Tom Hanks ist nicht nur eben das sondern auch ein Autor. Nach Veröffentlichungen in verschiedenen amerikanischen Zeitungen und Magazinen ist dies nun ...

Der bekannte und mehrfach ausgezeichnete Schauspieler Tom Hanks ist nicht nur eben das sondern auch ein Autor. Nach Veröffentlichungen in verschiedenen amerikanischen Zeitungen und Magazinen ist dies nun sein erste Buchveröffentlichung in Form einer Kurzgeschichtensammmlung.

Hier gibt es Geschichten zu entdecken, die in ihrer Ausrichtung uramerikanisch daherkommen. Es geht um die einfachen Menschen, wie sie sich mit den Werten des freien Amerikas durch ihr Leben schlagen. Da kommen die frisch Eingebürgerten vor, die Bowling als klassisch amerikanische Sportart entdecken, da ist der WWII-Veteran, der an Weihnachten 1953 ein besinnliches Fest mit seiner Familie in der wirtschaftlich gut aufgebauten Existenz feiern möchte, da ist die Schauspielerin aus der Provinz, die im New York der 1970er ihren eigenen Weg zum Erfolg gehen will. Die insgesamt elf Kurzgeschichten werden von vier Kolumnentexten des fiktiven Reporters Hank Fiset unterbrochen, welche sich mit Alltäglichem aus dem Zeitungswesen und dem Leben von Hank beschäftigen.

Alle Texte dieses Buches sind solide geschrieben, zeigen stilistisch jedoch wenig Finessen. Inhaltlich sind die meisten gut, nur wenige stechen heraus. So eine Geschichte um die Zeitreise zurück zur Weltausstellung in New York 1939 („Die Vergangenheit ist uns wichtig“). Mir den Kauf einer Schreibmaschine richtig schmackhaft gemacht, hat „Das sind die Betrachtungen meines Herzens“, welche sich um eine junge Hipster-Frau dreht, die auf dem Flohmarkt eine alte, billige Plastikschreibmaschine ersteht und später durch einen kautzigen Schreibmaschinenverkäufer doch von einer sensationellen Hermes 2000 aus der Schweiz der 1950er Jahren überzeugt wird. Schreibmaschinen kommen übrigens immer wieder in den Geschichten vor. Und der Titel „Die Vergangenheit ist uns wichtig“ könnte auch Titel des Buches sein. Denn Hanks beschwört hier immer wieder das Beste der Vergangenheit herauf, ohne jemals in einem Topf mit den Rückwärtsgewandten der aktuellen Republikanischen Partei zu landen. Denn hier geht es um die Offenheit, auf der der Staat fußt. Aber ein bisschen retro darf es eben auch immer sein. So interessant die ein oder andere Geschichte auch sein mag, so finden sich die, wie durch den deutschen Titel des Buches vermutet, „Schrägen Typen“ eher selten in Hanks Geschichten. Vielmehr könnte man sich bei den Protagonisten vorstellen, dass die ein oder andere Haupt- oder Nebenrolle locker ins Portfolio des Schauspielers Tom Hanks gepasst hätte.

Insgesamt handelt es sich hier um eine gute Geschichtensammlung, die gut bekümmlich ist aber mit nur wenigen Überraschungen aufwarten kann. Ein nettes Buch für Zwischendurch, das einen mit einem wohligen Gefühl im Bauch zurücklässt. Die Amerikaner würden sagen: „Cozy and Wholesome“.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 27.03.2023

Kann man sich ansehen, muss man aber nicht

Seht mich an
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Der Eisele Verlag hat die 1928 geborene und 2016 verstorbene Anita Brookner, welche mit „Hotel du Lac“ 1984 den Booker Prize gewonnen hat, für den deutschen Markt wiederentdeckt und bringt nun – einheitlich ...

Der Eisele Verlag hat die 1928 geborene und 2016 verstorbene Anita Brookner, welche mit „Hotel du Lac“ 1984 den Booker Prize gewonnen hat, für den deutschen Markt wiederentdeckt und bringt nun – einheitlich mit vorangegangenen Veröffentlichungen – den Roman „Seht mich an“ aus dem Jahre 1983 heraus.

Wie einige andere Romane der Autorin beschäftigt sich auch dieser mit der Einsamkeit einer alleinstehenden Frau, jungen bis mittleren Alters, die wohl recht nah an der Autorin selbst angelegt ist. Frances arbeitet als Mitarbeiterin einer medizinischen Bibliothek, welche sich auf die Darstellung von Erkrankungen und Tod in vergangenen Jahrhunderten beschäftigt. Sie lebt allein in der Wohnung ihrer bereits verstorbenen Eltern. Die Mutter pflegte sie noch bis vor zwei Jahren zusammen mit der Haushälterin Nancy, welche die Bedienstetenkammer bewohnt, bis zum Tod. Nun ist nur noch Nancy als Mitbewohnerin in dieser dunklen, altmodischen Wohnung in London übrig. Frances‘ Familie erwirtschaftete „neues“ Geld, weshalb Frances auch jetzt noch recht wohlhabend ist. Trotz allem fühlt sie sich in ihrem Alltag allein und findet erst Kontakt zur Welt, als das schillernde Ehepaar Nick und Alix, welche „altes“ Geld durch die Kolonialgeschichte Großbritanniens besitzen, sie auserwählt, um ihrer Freundschaft würdig zu sein.

Der Roman beginnt mit hochinteressanten Betrachtungen zu Bildnissen von Wahnsinn, Depressionen und Tod in der Kunstgeschichte, sowie einer kurzen Vorstellung der Figuren, welche sich in der besagten Bibliothek herumtreiben. Mit einer sehr präzisen und literarisch niveauvollen Sprache beschreibt Brookner nicht nur diese Bildnisse sondern auch Frances und ihr Umfeld. Atmosphärisch bekommt mein ein Gefühl für ihre beklemmende Wohnung aus einem vorherigen Jahrhundert wie auch für ihre beklemmende Lebenssituation und dem Hadern mit der Einsamkeit sowie dem Wunsch nach sozialer Anerkennung ihrer Person. Nach diesen ersten ca. 70 Seiten verfällt jedoch der Roman leider in eine ständige Wiederholung Frances‘ hadern mit sich und der Welt. Sprachlich zwar weiterhin brillant aber inhaltlich zunehmend nervig gestaltet Brookner die Innenansicht der Ich-Erzählerin Frances. Diese hat in ihrem sozialen Umfeld einige „prototypische“ Einsame und möchte keinesfalls so enden wie diese, weshalb sie sich den auf den ersten Blick unsympathischen und ausnutzenden Nich und Alix anbiedert. Zwischenzeitlich analysiert sie sogar immer wieder, wie falsch diese beiden handeln und wie falsch sie auch für Frances sind, trotzdem sucht sie immer wieder den Kontakt, möchte sie unbedingt von diesen beiden Menschen gesehen werden. Kurze Erleichterung beim lesen kommt auf, als ein potentieller Liebespartner für Frances auftaucht, nur leider entwickelt sich auch daraus nichts Gutes.

So bewegt sich dieser Roman über mindestens die restlichen 200 Seiten immer wieder vor und zurück. Wie bei einer Flimmerbewegung kreist Frances immer wieder um dieselben Probleme, kommt aber nicht vom Fleck. Eine Entwicklung macht die Figur Frances also leider nicht durch, sie zeigt keinerlei Veränderungspotential. Und so wie die Figur Frances in ihrer Position als alleinstehende „alte Jungfer“ scheinbar eingefroren erscheint, so eingefroren erscheint auch sie und ihr Umfeld in der Zeit. Der Roman wurde 1983 geschrieben, spielt aber schätzungsweise – und wie man aus dem Nachwort von Daniel Schreiber entnehmen kann – Mitte/Ende der 1960er Jahre, den Swinging Sixties, der Zeit kurz bevor und während junge Menschen den Mief der alten Zeit abschütteln wollten und dann sogar politisch aktiv wurden und auf die Straße gingen. Davon merkt man diesem Roman überhaupt gar nichts an; nicht einmal dem schillernden Ehepaar Nick und Alix. Alle Figuren ebenso wie das Wohnumfeld und die gesellschaftlichen Normen scheinen hier wie aus der Zeit gefallen. In Kombination mit der altbackenen - wie gesagt, wenn auch tollen, präzisen - Schreibe der Autorin wirkt es so, als würde man einen Roman aus dem 19. Jahrhundert lesen. Auch wenn das Thema Einsamkeit grundsätzlich zeitlos ist, da es in jeder Generation, wenn auch in unterschiedlichen Ausprägungen und mit anderen Belastungen, auftritt, so erscheint der vorliegende Roman hingegen nicht zeitlos, sondern hingegen wirklich nicht gut gealtert. Trotz der scharfsinnigen Sätze der Autorin bin ich ob der stillstehenden Handlung mitunter eingenickt beim Lesen. Das ist leider nie ein gutes Zeichen bezüglich einer Lektüreerfahrung.

Das Nachwort von Daniel Schreiber, Autor des kürzlich veröffentlichten Essaybandes „Allein“, ist durchaus lesenswert, da es den Romaninhalt mit der Biografie Anita Brookners in Zusammenhang bringt. Mit manchen seiner Deutungen des Romans, sowie seiner Idee im Roman finde sich „kühler Humor“, gehe ich zwar nicht konform. Trotzdem handelt es sich bei dem Text um eine gute, mitunter erhellende Ergänzung zum Roman.

Ich hätte sehr gern mit dem sehr klug ausformulierten Schreibstil der Autorin ein inhaltlich interessanteres, also ein anderes, Buch gelesen. So kann ich abschließend „Seht mich an“ nicht unbedingt empfehlen, wenngleich ich es nicht unglaublich schlecht finde. Das Buch ist okay, wird aber das letzte sein, welches ich von der Autorin gelesen habe, gerade weil sich ihre Werke inhaltlich recht stark ähneln sollen.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 04.03.2023

Vom alltäglichen Leben in der amerikanischen Provinz um 1930

Draußen die Welt
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Die erstmals in den 1940ern veröffentlichten Romane der amerikanischen Autorin Janet Lewis (1899-1998) wurden für den deutschsprachigen Markt wiederentdeckt und der vorliegende Roman von Sylvia Spatz nun ...

Die erstmals in den 1940ern veröffentlichten Romane der amerikanischen Autorin Janet Lewis (1899-1998) wurden für den deutschsprachigen Markt wiederentdeckt und der vorliegende Roman von Sylvia Spatz nun ins Deutsche übersetzt.

Wir begleiten in dieser Geschichte die Familie Perrault mit ihrem stillen Zentrum Mary, der Mutter von vier Kindern. Die Familiengeschichte trägt sich Ende der 1920er, Anfang der 1930er Jahre in der kalifornischen Provinz zu und wird zunächst äußerst beschaulich erzählt. Mary und ihre Familie kommen während der Weltwirtschaftskrise und der darauffolgenden Depression relativ gut über die Runden, aber der Alltag wird immer stärker durchbrochen durch verschiedene Schicksalsschläge, die das nähere und fernere soziale Umfeld der Familie betreffen, beginnend mit dem Unfalltod von Marys bester Freundin.

Der Text zeichnet sich meines Erachtens vor allem durch die atmosphärischen Landschaftsbeschreibungen der Autorin aus. Sie bringt die sengende Hitze Kaliforniens ausdrucksstark rüber und lässt ein ausführliches Bild des Lebens vor einhundert Jahren in dieser damals erst relativ frisch gegründeten, fiktiven Gemeinde South Encina vor dem inneren Auge entstehen. Über die 366 Seiten hinweg nehmen aber auch diese Beschreibungen zur Umgebung, technischen Errungenschaften oder Bootstouren mitunter auch Überhand und wirken bisweilen recht langatmig. Da die Figuren fast naturalistisch mit ihren alltäglichen Sorgen und Nöten eher oberflächlich beschrieben werden, blieben sie mir sehr fern. Der Text konnte bei mir bis kurz vor Schluss leider keine Empathie evozieren oder Emotionen der Figuren glaubhaft vermitteln. Immer wieder geschieht etwas, über das sich die Familie austauscht, dann wird die Thematik aber ziemlich schnell wieder fallen gelassen und taucht entweder gar nicht oder viel später nur kurz wieder auf. Eine ausführliche Auseinandersetzung mit angeschnittenen Themen, wie soziales Handeln innerhalb einer Nachbarschaft, der Umgang mit Trauer, junge Liebesbeziehungen, soziale und finanzielle Unterschiede etc. geschieht leider nicht im Detail. So wirkte der Roman für mich über weite Strecken belanglos, obwohl wichtige Themen darin durchaus vorkommen. So plätscherte der Roman für mich größtenteils so dahin, Schicksalsschläge fühlen sich nicht wie solche an und die durch den Klappentext des Verlags angestachelten Erwartungen, erfüllen sich leider nicht. Dort heißt es nämlich: „Aber dann bricht 1929 die New Yorker Börse zusammen: Der Kampf ums nackte Überleben bringt das Fundament der Gesellschaft ins Wanken und bedroht auch das innere Gleichgewicht der Familie Perrault.“ Das ist äußerst dramatisch formuliert und findet sich so keinesfalls im Text. Ein weniger effekthascherischer Infotext hätte dem Buch und meiner Rezeption dessen gutgetan. Das Cover des Buches hingegen ist grandios gewählt und lässt auf den zweiten Blick die Vieldeutigkeit der Alltäglichkeit erkennen.

Der Roman ist durchaus solide geschrieben und meines Erachtens sehr gut von Sylvia Spatz übersetzt. Man merkt der Übersetzung an, dass es sich um einen 80 Jahre alten Text handelt. Das bekommt dem lesenden Auge gut, freut man sich doch über solch kleine Wörtchen wie „obgleich“ im Text. Obgleich mir grundsätzlich der Schreibstil der Autorin zugesagt hat, konnte mich der vorliegende Roman leider nicht davon überzeugen, zukünftig weitere Werke der Autorin lesen zu wollen.

Für mich charakterisiert ein kurzes Zitat, welches Marys Handeln beschreibt, dieses Buch recht knackig: „Trotz Krieg, Mord und plötzlichem Tod, dachte sie bei sich, spülen muss man trotzdem." Recht hat sie. Mit einigem nachträglichem Suchen kann man durchaus auch subtile moralische Ideen im Text finden, leider konnte mein Interesse dafür nur eingeschränkt geweckt werden.

3/5 Sterne

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Veröffentlicht am 25.03.2024

Hochgelobter Autor mit einem Griff ins virtuelle Klo

88 Namen
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Ich hoffe wirklich sehr, dass Matt Ruff nicht einen Gruß an seinen Autorenkollegen Neal Stephenson im vorliegenden Roman "88 Namen" hinterlassen hat, als er es "Für Neal" widmete. Denn der würde sich die ...

Ich hoffe wirklich sehr, dass Matt Ruff nicht einen Gruß an seinen Autorenkollegen Neal Stephenson im vorliegenden Roman "88 Namen" hinterlassen hat, als er es "Für Neal" widmete. Denn der würde sich die nicht vorhandenen Kopf- wohl aber vorhandenen Barthaare raufen, wenn er mit diesem Buch hier in Verbindung gebracht werden würde. Vielleicht auch nicht. Was weiß ich schon...

Zum Plotinhalt sage ich nichts mehr, steht alles im Klappentext, den Rest hat man im Laufe des Lesens sehr schnell von allein erraten. Und da haben wir schon eine Schwachstelle des Romans: Er ist unglaublich vorhersehbar. Bis auf die obskuren Wendungen am Schluss, die aber einfach nur noch lächerlich prototypisch sind. Aber zunächst einmal zu dem einen Pluspunkt des Buches. Ruff schafft es tatsächlich zu Beginn über lange Strecken ganz hervorragend MMORPGs verschiedenster Couleur vom Fantasy- über das Sci-Fi- bis hin zum (politischen) Zombie-Slasher-Genre zu beschreiben. Hier nutzt er gekonnt die sprachlichen Besonderheiten von Gamern. Ob trotz kurzem Nachschlagewerk im Appendix des Buches wirklich die Masse der Leser*innen hier abgeholt werden kann, wage ich zu bezweifeln. Denn wer schon mit "MMORPG" nicht viel anfangen kann, kann sich eventuell auch gar nicht so gut in beschriebene Spielmechaniken etc. hineindenken. Aber gut. An dieser Stelle trägt vielleicht auch noch ein klitzekleines bisschen die Story und lässt auf eine rasante Abenteuer-Geschichte mit durchaus kritischem Einschlag bezüglich der leider im Gamer-Milieu immer noch omnipräsenten sexistischen und rassistischen Stereotype hoffen. Aber nein. Es geht steil bergab, der Plot entwickelt sich so, wie man es von einem mittelmäßigen Genre-Roman erwarten würde und es gibt ausschweifende Szenen, in denen einfach nur Themen aufs Tableau geworfen werden, die der Autor scheinbar noch unterbringen wollte (Cyber-Sex zum Beispiel). Am Matt Ruff häufig zugesprochenem Humor fehlt es meines Erachtens dem Roman fast komplett. Und öde Anspielungen an pseudo-Nerdwissen ist nicht witzig sondern nur noch lahm. Übrigens finde ich ganz nebenbei, wie ich hier gerade sitze und mir das Cover und den Titel das Buches ansehe, dass das Cover rein gar nichts mit dem Buch zu tun hat und dass "88 Namen" auch wenig bedeutungsvoll bezogen auf den Inhalt des Buches ist. Liegt vielleicht daran, dass so viel Inhalt unterm Strich nicht übrig bleibt.

Letztendlich bleibt zu sagen: Wer sich für das Thema interessiert, findet u.a. in Tad Williams (!!! Otherland !!!), William Gibson, Ernest Cline oder dem oben genannten Neal Stephenson (leider alles männliche Kollegen) bessere Romanautoren, um in virtuelle (Spiel-)Welten einzutauchen. Dieses Buch hier tut zwar nicht schrecklich weh, verschwendet aber wichtige Lebens-/Lesezeit.

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Veröffentlicht am 28.02.2024

Daran beißt man sich die Zähne aus – zu zäh!

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
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Das autofiktionale Romandebüt von Julia Jost dreht sich um ein Mädchen, das Anfang der 1990er Jahre in einem Kärntner Dorf aufwächst, entdeckt, dass sie nicht so ist, wie ihre Eltern sie als Mädchen gern ...

Das autofiktionale Romandebüt von Julia Jost dreht sich um ein Mädchen, das Anfang der 1990er Jahre in einem Kärntner Dorf aufwächst, entdeckt, dass sie nicht so ist, wie ihre Eltern sie als Mädchen gern hätten, und ebenso wie einer ihrer Brüder auch politisch nicht ins Bild der heimattreuen, österreichischen Familie passt.

Die Geschichte des Romans ist zentriert um eine Situation herum, die in 1994 stattfindet. J. (unsere Ich-Erzählerin) ist 11 Jahre alt und ihre Familie zieht aus dem Gasthof-Gebäude, welches den Eltern gehört, aus. Sie spielt mit ihrer Freundin Luca Verstecke und während Luca von Einhundert rückwärts zählt, schweift J. gedanklich in vergangene Situationen und Familienmythen ab. Immer wieder kehren wir im Text zurück zu diesem Moment des Versteckspiels, der auch der einzige ist, der im Präsens erzählt wird. Alle Erinnerungen und Anekdoten werden im Präteritum erzählt.

Grundsätzlich erscheint das Romankonzept auf den ersten Blick äußerst ansprechend. Die Inszenierung wirkt geschickt eingefädelt und man freut sich auf eine (Zitat Verlagsinternetseite) „Coming-of-Age-Geschichte voller Drive und Witz“. Leider bekommt man nur den ersten Teil der Versprechung, den zweiten kann der Roman nicht halten.

So liest sich „Wo der spitzeste Zahn…“ über die nur 230 Seiten unglaublich zäh. Eine Familien- bzw. Dorfanekdote reiht sich an die nächste. Erst im Verlauf wird klarer, welche überhaupt relevant für unsere Erzählerin ist. So zum Beispiel der tragische (aber nicht sonderlich tragisch erzählte) Tod eines Mitschülers in 1989. Dieses Ereignis wird auch später noch Auswirkungen auf die beteiligten Personen haben, leider transportiert sich dies überhaupt nicht auf der emotionalen Ebene. Generell fehlten mir die Emotionen dieses erzählenden Mädchens. Recht lakonisch erzählt es grausamste Geschehnisse herunter, wie man es sich bei einem 11jährigen Mädchen kaum vorstellen kann. Diesbezüglich drängt sich auch ein Problem mit der Erzählperspektive auf. Da die Versteckspiel-Szene im Präsens als Ausgangssituation von der aus das Mädchen ihr Wissen speist werten muss, passt neben dem Ton auch das Wissen der kindlichen Erzählerin nicht so recht ins Bild. Beschreibt sie doch haarklein, dass die Mutter einer Mitschülerin in die DDR gegangen ist und die Familie für einen SED-Funktionär (diese Worte!) verlassen habe. Da kommen Zusammenhänge zum Tragen, die nicht zum Verständnisraums eines Kindes, welches – so erleben wir es in anderen geschilderten Situationen – von ihren Eltern nicht als vollwertiger Mensch angesehen und größtenteils ignoriert wird, außer es entwickelt sich eben nicht so, wie es als Mädchen sollte. Zu einem Lapsus kommt es, wenn es auf Seite 44 heißt: „meine erste Cola habe ich mit einundzwanzig getrunken“. An keiner anderen Stelle gibt es einen Hinweis darauf, dass J. Von einem späteren Zeitpunkt als dem in 1994 heraus erzählt. Somit sehe ich für mich das Problem mit der Erzählperspektive bestätigt.

Ich nehme an, es soll sich hierbei nicht nur um eine reine Coming-of-Age-Geschichte um dieses Mädchen aus dem LGBTQ+Spektrum, sondern vielmehr um einen Gesellschaftsroman, der das Leben und die alltäglichen Sorgen, Intrigen und Anekdote von Menschen aus dem ländlichen Österreich handeln. So scheinen immer wieder die rechtspopulistischen Gesinnungen der Dorfbewohner durch, wenngleich die bosnische Einwandererfamilie von Luca als Arbeiter gern gesehen sind. Leider taucht die Erzählerin kaum in Lucas Geschichte ein, was vielleicht widerspiegeln soll, wie diese Menschengruppe zu der Zeit ignoriert wurde.

Ich hatte so meine Schwierigkeiten nicht nur mit der Erzählperspektive sondern auch mit der Geschichte an sich, da die Handlung sehr reduziert ist und sich auf wild aneinandergereihte Anekdoten stützt. Man wird hier mit, wie ich finde, sehr vielen eher unwichtigen Details versorgt, mit der Beschreibung von Menschen, Umgebungen, Situationen, Familienmythen. Es kommt zu zahlreichen Abschweifungen, bis man gar nicht mehr richtig weiß, wie man dort überhaupt hingekommen ist. Am Ende hatte ich den Eindruck, viel weniger gelernt zu haben, als die Geschichte eigentlich hergegeben hätte. Jedenfalls nicht in dem Maße, welches Volumen die Abschweifungen im Buch einnehmen. Vieles wirkte auf mich eher ablenkend und störend. Für wen solche wilden Szenenwechsel und das Anschneiden von Themen etwas ist, wird hier vielleicht besser mit dem Roman zurechtkommen. Für mich war bis auf das letzte Drittel des Romans, dieser unglaublich zäh zu lesen. Wobei das letzte Drittel auch nicht den genannten „Drive“ entwickelte, aber zumindest musste ich mich nicht mehr durch die Sätze quälen. Dort wird auch das rechte Gedankengut am interessantesten sprachlich ausgehebelt und vorgeführt.

Somit kann ich aber leider keine Leseempfehlung für den Roman aussprechen, auch wenn ich das Szenario ganz grundsätzlich und auch den ein oder anderen prägnanten, pointierten Satz sehr gut fand.

2,5/5 Sterne

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