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Veröffentlicht am 30.01.2023

Ein Buch für mehr Sichtbarkeit

Macht
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Der erste ins Deutsche übersetzte Roman der norwegischen Autorin Heidi Furre ist zwar ein kurzes, dafür aber sehr eindringliches Werk. Sie schreibt von Pflegerin Liv, die auf den ersten Blick ein "normales" ...

Der erste ins Deutsche übersetzte Roman der norwegischen Autorin Heidi Furre ist zwar ein kurzes, dafür aber sehr eindringliches Werk. Sie schreibt von Pflegerin Liv, die auf den ersten Blick ein "normales" Leben mit Job, Haus, Mann und Kindern führt. Dass sie in ihrer Studienzeit vergewaltigt wurde und auch Jahre später mit den Nachwirkungen zu kämpfen hat, versucht Liv nicht nur vor ihrem Umfeld, sondern auch vor sich selbst zu verstecken.

Dass dieses Thema keine leichte Kost wird, merkt man schon auf den ersten Seiten. Es gibt keine richtigen Kapitel, das Buch ist eher eine Ansammlung aus alltäglichen Momenten und Situationen. Die Protagonistin Liv beschreibt ganz eindrücklich wie allgegenwärtig die Tat in ihr nachwirkt. Überall lauern Erinnerungen, Gefahren, Gedanken, mögliche Betroffene, Überlebende sowie Täter. Liv kann keinen Schritt mehr gehen ohne an die furchtbare Tat zu denken. Mal analysiert sie mehr sich selbst beziehungsweise ihr früheres Ich und mal mehr den Täter, wobei sie immer wieder zwischen Verständnis, Wut, Schuldzuweisungen, Verharmlosung und Hoffnung schwankt. Jedes dieser kurzen Kapitel und Abschnitte hat auf mich sehr beklemmend, aber auch sehr authentisch gewirkt.

"Manchmal ist es schlimmer zu sagen, ich bin vergewaltigt worden, als tatsächlich vergewaltigt worden zu werden. Als würde man eine Todesnachricht überbringen. Man muss dabei zusehen, wie die anderen mit Abscheu reagieren. Für sie ist die Abscheu nur ein vorübergehendes Gefühl, etwas, das sie ablegen können. Aber in mir hat sie einen festen Platz, wie ein inneres Organ." (S. 135)

Im Roman "Macht" kommt auch zur Sprache wie die Gesellschaft im Allgemeinen mit Vergewaltigungen umgeht. Zum Beispiel, ob es nun Opfer oder Überlende/r heißt, oder die immer wieder auftretenden Skandale um Schauspieler, Musiker, Patriachen, die aber nach wenigen Wochen wieder in der Versenkung verschwinden. Ich fand es spannend und auch realistisch, solche Aspekte aus Sicht einer Betroffenen zu lesen. Liv wirkt so authentisch, dass ich manchmal vergessen habe, dass es sich hier um ein fiktionales Werk handelt.

Denn auch gewisse Zwänge und Verhaltensmuster, die die Protagonistin entwickelt hat, haben mich sehr getroffen und wirkten gleichzeitig schlüssig. Sehr eindrücklich waren Livs Gedanken über ihre beiden Kinder und wie sie einerseits mit Erstaunen und Stolz dabei zusieht, wie sie aufwachsen und (noch) Vertrauen in die Menschheit haben, andererseits mit Sorge und Wut darauf blickt.

Heidi Furre hat mit "Macht" ein ganz wichtiges und eindringliches Buch geschrieben. Es war stellenweise schwer zu lesen, aber gleichzeitig finde ich die Sichtbarkeit absolut notwendig und bin dankbar für diesen Roman.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 17.10.2017

Schockierendes Portrait einer belgischen Dorfgemeinde

Und es schmilzt
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Belgien während der Jahrtausendwende: In dem kleinen verschlafenen Dorf Bovenmeer wachsen die „drei Musketiere“ Eva, Pim und Laurens auf. 13 Jahre später kehrt Eva in ihr Heimatdorf zurück, mit nichts ...

Belgien während der Jahrtausendwende: In dem kleinen verschlafenen Dorf Bovenmeer wachsen die „drei Musketiere“ Eva, Pim und Laurens auf. 13 Jahre später kehrt Eva in ihr Heimatdorf zurück, mit nichts weiter als einem riesigen Eisblock und einem mindestens genauso großen Trauma im Gepäck. Mit der Geschichte hinter dieser mysteriösen Buchbeschreibung eroberte die Autorin Lize Spit die belgische Bestsellerliste im Sturm und hielt sich ein ganzes Jahr auf dem ersten Platz.

Die Erzählung beginnt eigentlich ganz sanft. Eva ist 13 und eng mit Pim und Laurens befreundet, den einzigen gleichaltrigen Kindern in Bovenmeer. Getreu dem Motto der drei Musketiere „Einer für alle, alle für einen“ drücken sie gemeinsam die Schulbank und verbringen auch den Großteil ihrer Freizeit auf dem Bauernhof von Pims Eltern. Bei Eva daheim sind sie dagegen nie. Ihre Mutter ist Alkoholikerin, ihr Vater suizidgefährdet, ihre kleine Schwester Tesje entwickelt nach und nach Zwangsneurosen, für die sich kein Erziehungsberechtigter zu interessieren scheint, und der große Bruder Jolan schottet sich so weit es geht von der Familie ab, versteckt sich lieber hinter Büchern und wissenschaftlichen Fragestellungen. Trotz allem erzählt Lize Spit zunächst ruhig, sanftmütig und fast schon lustig von Evas Kindheit. Es könnte alles so idyllisch sein, wenn man mal von Evas Heim absieht.

Langsam aber sicher werden die drei Musketiere jedoch erwachsen und wollen ihre Grenzen austesten. Anfangs lies ich den Dreien vieles durchgehen, verharmloste und rechtfertigte dies damit, dass Jugendliche eben so sind. Nach und nach wurde mir jedoch immer bewusster, dass die Handlungen Ausmaße annehmen, die die Grenzen des guten Geschmacks deutlich überschreiten. Lize Spit steuert ihre Protagonisten auf eine Katastrophe zu, die der Grund ist, warum Eva mit Mitte 20 wieder in ihr Heimatdorf zurückkehrt. Es gelingt ihr nicht, mit den Ereignissen des Sommers 2002 abzuschließen.

"Ich bestehe nicht länger aus einem Körper, sondern aus einer ganzen Gruppe von Menschen, die alle in eine andere Richtung gerannt sind." (S.53)

Der Schauplatz Bovenmeer spielt bei dieser Entwicklung eine große Rolle und vereint so gut wie alles, was im Jahre 2002 eigentlich schon undenkbar sein sollte: Rassismus, Frauenfeindlichkeit, Tierquälerei, Erniedrigung von behinderten Menschen. Es gab so viele Aspekte, die mich unfassbar wütend zurückgelassen haben. Keine einzige Person in diesem konservativen und gelangweilten Dorf war nicht vollkommen auf sich selbst fixiert. Keiner war bereit, für jemand anderen einzustehen. Es ging nur darum, nicht aufzufallen, der Dorfgemeinde keinen Klatsch und Tratsch zu liefern, egal, ob dabei der körperliche oder seelische Schaden eines Lebewesens in Kauf genommen werden musste. In diesem Buch wird auf eine schockierende Art und Weise gezeigt, wie die Zeit in Bovenmeer stehen geblieben ist und wie ignorant die gesamte Dorfgemeinde gegenüber jeglichem Fehlverhalten ist. Obwohl die meisten Bewohner passiv auftreten, machte sie das in meinen Augen nicht weniger schuldig und damit meine ich auch Eva, die zwar am Ende jenes Sommers selbst zum Opfer wird, bis dahin aber auch immer nur eine Mitläuferin war, auch wenn sie die immer extremeren Aktionen ihrer Freunde Pim und Laurens sehr wohl bemerkt hatte.

"[Ich stelle mir vor,] dass ich ein x-beliebiges Mädchen bin, dass meine Vagina nicht mir gehört. Das ist wichtig. Wenn dies nicht mein Körper ist, braucht auch die Scham nicht meine zu sein." (S. 279)

Lize Spits Schreibstil ist großartig. Sie beschreibt detailliert und lebendig, verliert sich niemals in Nebensächlichkeiten und wusste mich zu fesseln. Genau dadurch wirken einige Szenen auch so knallhart. Ich war schockiert, fassungslos, angewidert, wütend, traurig und habe vor allen Dingen selbst körperliche Schmerzen beim Lesen gespürt. Dieses Buch ist nichts für zarte Gemüter, es ist eine Wucht und bereitet mir auch noch Tage nach dem Beenden Kopfzerbrechen.

"Wenn es möglich wäre, würde ich jetzt gern eindimensional werden, zeitreisen, in dieses Foto kriechen, in diesen Moment schlüpfen, Tesje vor dem warnen, was ihr bevorsteht, sagen: Mach, dass du hier wegkommst. […] Das könnte ich sagen, aber es würde wenig ändern. Wäre vor zwanzig Jahren eine dreißigjährige Version meiner selbst plötzlich aufgetaucht und hätte gesagt: „Ich weiß, was passieren wird, mach, dass du hier wegkommst“, dann hätte ich mich keinen Zentimeter bewegt. Dann wären Tesje und ich einfach sitzen geblieben, nicht, weil wir glücklich waren, sondern weil Dinge erst geschehen müssen, bevor man sie bereuen kann." (S. 328f)

Fazit:
„Und es schmilzt“ ist stilistisch wunderbar, weswegen es inhaltlich gleich doppelt und dreifach wehtut. Mit dem Gedanken, dass die beschriebenen menschlichen Abgründe realer sein könnten, als ich glauben will, bleibe ich zurück. Ich weiß nicht, ob gerade das den Roman absolut genial oder ein bisschen zu eindimensional macht. Lesenswert ist das Debüt auf jeden Fall, jeder muss sich aber darüber im Klaren sein, dass dieses Buch keine leichte Kost ist und dass die Schmerzen, die Lize Spit beim Lesen zufügt, noch einige Zeit erhalten bleiben.

Veröffentlicht am 17.10.2017

Be who you are

George
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George ist ein transgender Mädchen, d.h. sie ist ein Mädchen, ihr genotypisches Geschlecht ist allerdings männlich. Sie ist 10 Jahre alt und hat sich ihrer Umwelt noch nicht anvertraut. Ein Schultheater ...

George ist ein transgender Mädchen, d.h. sie ist ein Mädchen, ihr genotypisches Geschlecht ist allerdings männlich. Sie ist 10 Jahre alt und hat sich ihrer Umwelt noch nicht anvertraut. Ein Schultheater soll dies ändern, denn George glaubt, dass eine weibliche Rolle im Stück ihr helfen kann zu zeigen, wer sie wirklich ist.

"George" ist ein Kinderbuch und dementsprechend relativ kurz und in simplem Englisch geschrieben. Wir lernen nicht nur George kennen, sondern auch ihre Mutter, ihren Bruder, ihre beste Freundin Kelly und zwei Lehrerinnen, die sehr unterschiedlich mit George umgehen. Alex Gino hat mit diesen Charakteren in meinen Augen wunderbar zusammengefasst, wie unterschiedlich die Reaktionen auf George und ihre Gefühle auch im realen Leben sein können. Während die Klassenlehrerin George für ihr Vorsprechen der weiblichen Rolle sogar auslacht, unterstützt Kelly sie ohne wenn und aber. Kelly war sowieso meine Lieblingsfigur im gesamten Buch, denn sie ist offen, ehrlich und lebensfroh.

Dieses Buch soll nicht nur all jenen Mut machen, die eine ähnliche Situation wie George durchleben. Es soll auch aufzeigen, wie sehr unsere Gesellschaft noch durch Vorurteile und Stereotypen geleitet wird, wie schwer wir es Menschen machen, die auch nur im geringsten von diesen Stereotypen abweichen, und wie wir es besser machen können. Das hat mir sehr gut gefallen und es gibt ein ausführliches Nachwort mit erklärenden Worten zu den Begriffen wie transgender, nonbinary und genderqueer. In diesem knapp 200 Seiten umfassenden Kinderbuch können natürlich nicht alle Fragen abgedeckt werden, ich empfand es aber als guten und herzergreifenden Einstieg und möchte mich in Zukunft noch mehr mit dem Thema (und dem respektvollen Umgang damit) beschäftigen.

Einen Stern habe ich abgezogen, weil ich mit der Genrezuordnung Kinderbuch nicht so ganz zufrieden bin. Vom Schreibstil her stimme ich zu, George und die anderen Kinder haben sich aber in meinen Augen nicht unbedingt wie Zehnjährige verhalten, sondern schon ein bisschen älter. Damit beziehe ich mich vor allem auf ein paar Sprüche, die ich bis zur sechsten oder siebten Klasse bestimmt nicht verstanden hätte. Es ist auch kein richtiges Jugendbuch, sondern eher zwischen den beiden Genres. Ich tue mich selbst schwer mit einer Altersempfehlung, sofern ein Kind aber nicht selbst zu dem Buch greift und Eltern es schenken möchten, sollten sie es vielleicht vorher selbst überfliegen und darüber nachdenken, ob ihr Kind dafür reif genug ist. Zwischen zwei Zehnjährigen können schließlich Welten liegen.

Fazit:
Bei "George" handelt es sich um ein Kinderbuch, welches in meinen Augen sehr gut zum Einstieg in die transgender Thematik und einen respektvollen Umgang damit geeignet ist. Die Geschichte ist herzergreifend und ermutigend geschrieben und ich wünsche mir, dass jeder eine Kelly zur besten Freundin hat.

Veröffentlicht am 17.10.2017

Humorvoll, interessant und lehrreich!

Die Entdeckung des Glücks
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Den größten Teil der Woche verbringen wir mit Arbeit, d.h. mit mehr oder weniger herausfordernden Aufgaben und Kollegen. Dass genau diese Dinge einen großen Einfluss auf unser Glück und unsere Lebensqualität ...

Den größten Teil der Woche verbringen wir mit Arbeit, d.h. mit mehr oder weniger herausfordernden Aufgaben und Kollegen. Dass genau diese Dinge einen großen Einfluss auf unser Glück und unsere Lebensqualität haben, nehme ich persönlich oft wahr, da ich ein sehr ehrgeiziger Mensch bin und meine Aufgaben am besten sofort und perfekt erledigen möchte. Da dieses Vorhaben utopisch ist, habe ich zu Isabell Prophets Glücksratgeber gegriffen.

Das Buch ist in drei Teile gegliedert und zuerst führt die Autorin vor Augen, warum die Suche nach dem Glück den meisten Leuten so schwierig fällt. Es geht unter anderem um den Zusammenhang von Geld und Glück, aber auch darum, dass wir Menschen uns ziemlich schnell an wiederkehrende Ereignisse gewöhnen und deren Glückspotential durch die Regelmäßigkeit immer weiter sinkt.

Im zweiten Teil wird erklärt, wo das Glück zu finden ist, was die eigene Gedankenwelt, Bewusstsein, Dankbarkeit, Ordnung, Sport und soziale Kontakte damit zu tun haben. Mir hat besonders gut gefallen, dass die Autorin hier auf viele aktuelle Studien eingegangen ist und im dritten Teil des Buches nochmal ganz konkret Lektionen für ein glücklicheres Leben verfasst. Nicht jede Methode ist für jeden Menschen geeignet, aber ich möchte viele Anstöße ausprobieren, da sie absolut logisch und gut erklärt wurden. Den dritten Teil habe ich mir daher mit einem Post-It markiert und werde sicherlich öfter wieder reinschauen. Übrigens gehen diese Lektionen weit über ein knappes "Verzeih anderen und dir selbst" hinaus, sondern erklären ganz konkret, wie das Verzeihen überhaupt gelingt. Das hat der ganzen Thematik ein bisschen die Spiritualität und Schwammigkeit genommen, die leider oft mit solchen Tipps einhergeht. Die Lektionen sind darüber hinaus auch alltagstauglich und umsetzbar ohne, dass man von allen Kollegen gleich für verrückt erklärt wird oder seine Aufgaben vernachlässigen muss.

Anzumerken ist auch, dass die Sprache im gesamten Buch sehr locker und humorvoll gehalten ist. Mir hat das Lesen des Buches vor allem im zweiten und dritten Teil sehr viel Spaß gemacht und die Zeit, die ich mir für das Lesen und für mich selbst genommen habe, hat mich auf jeden Fall schon mal ein bisschen glücklicher gemacht.

Nicht nur alle von Isabell Prophet angesprochenen Studien sind im Quellenverzeichnis zu finden, sondern auch weiterführende Ratgeber und Tipps zum Thema Glück, Achtsamkeit, Meditation und Ordnung.

Fazit:
Nicht alle Tipps zur Suche nach dem Glück waren neu für mich, in meinen Augen hat Isabell Prophet mit diesem Glücksratgeber aber eine gute Zusammenfassung der bisher bekannten und wissenschaftlich belegten Methoden geschrieben. Das Buch liest sich humorvoll und beinhaltet einige Anekdoten, in denen ich mich selbst wiedergefunden habe. Besonders gefallen hat mir der letzte Teil des Buches mit den konkreten Anleitungen für den Alltag, insbesondere für das Berufsleben, die ich auf jeden Fall mal ausprobieren werde.

Veröffentlicht am 27.02.2024

Fremde Federn

Yellowface
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Die junge Autorin June Hayward schreibt mehr so vor sich hin und hofft auf einen Durchbruch, während ihre gleichaltrige Bekannte Athena Liu bereits eine Bestseller-Autorin ist. June kommt nicht umhin sich ...

Die junge Autorin June Hayward schreibt mehr so vor sich hin und hofft auf einen Durchbruch, während ihre gleichaltrige Bekannte Athena Liu bereits eine Bestseller-Autorin ist. June kommt nicht umhin sich zu vergleichen und schamhafte Gründe zu erfinden, warum Athena mehr Erfolg hat als sie selbst, zum Beispiel wegen der heutzutage geforderten und gefeierten Diversität und Athenas asiatischer Abstammung. Eines Abends erstickt Athena, als June zu Besuch ist. Obwohl dieser Todesfall tatsächlich ein Unfall ist und June sich in dieser Hinsicht nichts zu Schulde kommen lässt, sackt sie beim Verlassen der Wohnung noch schnell das bisher unveröffentlichte und ungesehene Manuskript von Athena ein. Es wird unter Junes Namen veröffentlicht und prompt zum Bestseller - ist also doch nicht nur alles Auftreten und Marketing, sondern wirklich Talent? Und wie passen Junes weiße Herkunft und das Thema des Buches, nämlich chinesische Soldaten im ersten Weltkrieg, zusammen?

Der Schreibstil von Rebecca F. Kuang und die Protagonistin June sind von der ersten Seite an einnehmend und so ehrlich und offen, dass es mir großen Spaß gemacht hat in das Buch einzutauchen. June hat einen unzensierten Blick auf ihre Freundschaft oder eher Bekanntschaft mit Athena. Ganz unverblümt werden hier Nähe und Faszination, aber auch Neid und Eifersucht aufgezeigt. Spannend fand ich dabei, dass ich Protagonistin June irgendwie sympathisch fand, obwohl sie sich so sehr vergleicht und Athenas bisherigen Ruhm in der Literaturszene herunterspielt und relativiert.

Dieser lebendige Schreibstil zieht sich auch weiter durch, wenn es immer mehr um die Literaturszene, Agenturen, Verlage und die Own-Voices-Debatte geht. June veröffentlicht als weiße Autorin ein Buch über chinesische Soldaten im ersten Weltkrieg und natürlich muss sie sich damit auseinandersetzen bzw. wird eher konfrontiert damit, dass sie keine asiatischen Wurzeln hat. Ganz spannend war hier zu lesen, wie June das für sich und die Presse rechtfertigt. Es geht viel darum, was Autor:Innen dürfen oder nicht dürfen, ob jemand zensiert werden sollte, ob mit viel Recherche- und Sensitivity-Arbeit nicht auch einem Blick “von außen” die Chance auf eine Publikation gegeben werden soll. Und dann zählt sie auch Beispiele aus ihrer Zeit mit Athena auf, die ja “bloß” chinesischer Abstammung war, aber immer in westlichen Schulen und Unis gelernt hat, kein Chinesisch spricht und auch niemals dort gelebt hat. Es geht um die Frage, ob man mit gewissen Wurzeln das Recht und gewissermaßen auch die Pflicht hat bestimmte Geschichten zu erzählen oder eben nicht. Das fand ich sehr spannend und vor allem clever gemacht, schließlich ist Rebecca F. Kuang selbst auch asiatisch-amerikanisch und “darf” somit so eine Geschichte schreiben. Wie wäre “Yellowface” aber angekommen, steckte eine weiße Autor:in dahinter? Es ergeben sich durch dieses Buch auf jeden Fall ganz spannende Fragen, Gedankenspiele und Einblicke in den Literaturbetrieb.

Zitat:
> Wer hat das Recht über Leid zu schreiben? (S. 131)

Gleichzeitig gibt es auch Beispielszenen, in denen Athena ein Stück koreanische Geschichte literarisch “für sich beansprucht”, obwohl sie keinerlei koreanische, sondern chinesische Wurzeln hat. Reicht es in den USA (oder auch hierzulande) dann schon, asiatische Wurzeln zu haben? Wie detailliert wollen es die Kritiker:innen wissen und wo wird die Grenze gezogen? Wollen die Verlage und Leser:innen überhaupt andere Bücher von Autor:innen mit Migrationsgeschichte in der Familie lesen, als welche, die mit dieser Migration im entferntesten Sinne zu tun haben? Das Buch war für mich vor allem wegen dieser sehr spannenden Diskussion eine wahre Freude.

Zitat:
> “Ich weiß nicht”, murmele ich. “Ganz ehrlich, Mr Lee, ich weiß nicht, ob ich die richtige Person war, um diese Geschichte zu erzählen.” Er drückt meine Hände fester. Sein Gesicht ist so gütig, ich fühle mich scheußlich. “Sie sind genau richtig”, versichert er. “Wir brauchen Sie. Mein Englisch ist nicht so gut. Ihre Generation kann sehr gutes Englisch. Sie können denen unsere Geschichte erzählen. Dafür sorgen, dass sie sich an uns erinnern.” Er nickt bestimmt. “Ja. Sorgen Sie dafür, dass sie sich an uns erinnern.” (S. 146)


Mit der Zeit reißt June immer mehr Grenzen ein und obwohl bei mir die Sympathie vollkommen umgeschwenkt ist, hat es weiterhin sehr viel Spaß gemacht, den Roman zu lesen. Es war lebendig, spannend und interessant und neben der Debatte um “Wer darf eigentlich was veröffentlichen” geht es auch um soziale Medien und deren Macht. Ist einmal ein Shitstorm ausgelöst, lässt er sich nicht mehr zurückholen und die betroffenen Personen leiden darunter für immer. Auch das fand ich gut dargestellt, auch wenn das Thema bereits häufiger in Romanen verarbeitet wurde und mich nicht so sehr beeindruckt hat wie das zentrale Thema rund um Identität, Authentizität und die Funktionsweise der Literatur- und Verlagswelt.

Zitat:
> “ […] Und wenn Athena als Erfolgsgeschichte gilt, was bedeutet das für den Rest von uns?”, Candices Stimme wird hart. “Weißt du, wie es ist, wenn man ein Buch pitchen will und sie dir sagen, dass sie schon eine asiatische Autorin haben? Dass sie nicht zwei Minderheitengeschichten in einem Programm haben können? Dass Athena Liu bereits existiert und du damit überflüssig bist? Diese Branche baut darauf auf, uns mundtot zu machen, uns in den Boden zu stampfen und weißen Menschen Geld in den Rachen zu werfen, damit sie rassistische Stereotype von uns reproduzieren.” (S. 366)

Kuangs Schreibstil, die Gedankenanstöße, die Charakterentwicklung und die ganze Metaebene in diesem Buch haben mir sehr gefallen. Ich habe mich selbst hinterfragt und wurde gleichzeitig unterhalten, ein sehr kurzweiliges und empfehlenswertes Buch am Puls der Zeit!

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