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Veröffentlicht am 15.09.2016

Baba Dunjas letzte Liebe

Baba Dunjas letzte Liebe
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Tschernowo ist ein kleines Dorf in der Nähe des Kernreaktors Tschernobyl. Hier lebt niemand freiwillig, sollte man denken. Weit gefehlt. Baba Dunja, eine einfache Frau, bedeutet die Heimat so viel, dass ...

Tschernowo ist ein kleines Dorf in der Nähe des Kernreaktors Tschernobyl. Hier lebt niemand freiwillig, sollte man denken. Weit gefehlt. Baba Dunja, eine einfache Frau, bedeutet die Heimat so viel, dass sie dort den Rest ihres Lebens verbringen will. Die Nähe zum Kernreaktor macht ihr nichts aus. Denn sie hat nichts mehr zu verlieren. Sie ist alt, über neunzig, und das Gute für sie am Alter ist, dass sie niemand mehr um Erlaubnis fragen muss. Zum Beispiel, ob sie in ihrem alten Haus wohnen kann und ob sie Spinnennetze hängen lassen darf. Baba Dunja hat alles gesehen und vor nichts mehr Angst. 'Der Tod kann kommen, aber bitte höflich." (Seite 12)

Für sie ist Tschernowo das Paradies, wenn auch ein verstrahltes. Besonders im Winter ist es stiller als still. "Wenn eine Schneedecke über allem liegt, sind sogar die Träume gedämpft, und nur die Dompfaffen springen durch das Gestrüpp und sorgen für Farbe in der weißen Landschaft." (Seite 32)

Hier läuft das Leben in ruhigen Bahnen ab. Für Baba Dunjas Nachbarin Marja, deren Hahn Konstantin gleich im Kochtopf landet. Sidorow, der noch mit hundert Jahren auf der Suche nach einer Frau ist. Lenotschka, die einen endlos langen Schal strickt und lächelt, wenn man sie anspricht, jedoch nicht antwortet. Das gebildete Ehepaar Gavrilov, das nicht auf Annehmlichkeiten verzichten muss. In Tschernowo verlangt niemand etwas von den Bewohnern. Es zählt das Heute, nicht das Morgen. Die Alten leben von der Selbstversorgung, das Gemüse wächst üppig in ihren Gärten. Nur nicht bei Petrow, der als letzter ein Häuschen im Dorf bezog und der seinen Krebs, von dem sein Körper komplett durchsetzt ist, nicht füttern will. Die Öfen werden mit Holz befeuert, Wasser spenden Brunnen, und an manchen Tagen gibt es auch Strom.

Baba Dunjas Kontakte zur Außenwelt bestehen aus gelegentlichen Busfahrten nach Malyschi. Dann erzählt ihr Boris, der Busfahrer, was er im Fernsehen gesehen hat. Viel über Politik. Die ist natürlich wichtig, doch Baba Dunja ist da pragmatisch, denn "es bleibt trotzdem immer an einem selbst hängen, die Kartoffeln zu düngen, wenn man irgendwann Püree essen will." (Seite 46)

Ab und an bekommt Baba Dunja Pakete von ihrer Tochter Irina. Diese ist Ärztin und lebt mit Enkelin Laura in Deutschland. Wenn Baba Dunja daran denkt, dass sie Laura (außer auf Fotos) noch nie gesehen hat, kommt Wehmut auf. Gut, dass gelegentlich Ehemann Jegor vorbeischaut, der aber nicht wirklich stört. Baba Dunja plaudert gern mit ihm. Seit er nämlich tot ist, ist er sehr höflich. Als er noch lebte, war das leider nicht so.

In die Idylle kommt Unruhe, als eines Tages ein Mann seine Tochter mitbringt. Recht schnell wird klar, dass das Kind als Spielball zwischen den getrennten Eltern steht. Das ist für Baba Dunja unhaltbar. Ein Kind hat in Tschernowo nichts zu suchen. Zwar ist Tschernowo ein schöner und guter Ort für seine Bewohner. Niemand wird fortgejagt. Nur wenn jemand noch jung und gesund ist, sollte er sich ein anderes Heim wählen. Schon gar nicht sollte ein kleines Kind aus Rache dem Tode geweiht werden.

Und daher dauert es nicht lange, das liegt der Mann tot auf der Erde, und Baba Dunja nimmt alle Schuld auf sich...

Mit viel Verständnis und Geradlinigkeit lässt Alina Bronsky Baba Dunja erzählen. Die im Grunde kleine Geschichte entfaltet eine große Wirkung. Sie ist poetisch, lebendig, weise und ehrlich, manchmal verschmitzt, dann wieder traurig und anrührend.

Baba Dunja "strahlt" - im wahrsten Sinne des Wortes - eine Lebensfreude aus, die zu Herzen gehend ist. Mit Klugheit und Nachsicht schaut sie auf ihre Mitmenschen und ist der Mittelpunkt der eigenwilligen, schrulligen, sturen und manchmal auch exzentrischen Dorfbewohner, die trotzdem allesamt liebenswert in ihrer Gelassenheit, mit der sie ihr Dasein verbringen, erscheinen.

Man möchte sie in den Arm nehmen und fest drücken. Und auf jeden Fall ein langes Leben wünschen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Ein Leben voller Möglichkeiten

Im Land der goldenen Sonne
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Der dreiundzwanzigjährigen Harriet Heron schnürt es im nebligen giftigen Dunst des viktorianischen Londons im wahrsten Worte die Luft ab. Sie leidet an Asthma und rechnet jeden Tag damit, den nächsten ...

Der dreiundzwanzigjährigen Harriet Heron schnürt es im nebligen giftigen Dunst des viktorianischen Londons im wahrsten Worte die Luft ab. Sie leidet an Asthma und rechnet jeden Tag damit, den nächsten nicht mehr zu erleben. Sie wird behütet und geschützt, ist gleichwohl aber auch gefangen in diesem Kokon der Fürsorge und getrennt von den Dingen, die eine junge Frau ihres Alters kennenlernen sollte. Lediglich ihre seit ihrer Kindheit bestehende Faszination für Ägypten, besonders ihre Leidenschaft für Hieroglyphen geben ihr Halt.

Da sie vor ihrem Tod das ägyptische Theben sehen möchte, kann sie erst ihren Arzt und dann ihre Mutter Louisa davon überzeugen, dass ihr das Klima in Ägypten besser bekommt. Mit auf die Reise geht als Dritte im Bunde der Damen die unverheiratete, gottesfürchtige (Tante) Yael, Louisas Schwägerin, nicht minder naiv in ihrem Glauben und ohne Kenntnis, was sie im unbekannten Land erwartet.

Schon auf dem Schiff begegnen sie unterschiedlichen Menschen: dem Ehepaar Cox, das seine Hochzeitsreise macht, dem Maler Eyre Soane, den eine längst begraben geglaubte Vergangenheit mit Louisa zu verbinden scheint, dem deutschen Professor Eberhardt Wolf, der einen Flügel nach Ägypten transportiert.

Endlich in Alexandria angekommen, kann Harriet angesichts der sauberen Luft zunächst aufatmen. Yael, die bislang ihren Vater gepflegt oder „gefallene“ Mädchen betreut hat, findet einen neuen Lebenssinn. Sie eröffnet eine Klinik, in der die Augen der ägyptischen Kinder behandelt werden.

Doch Louisa will zurück nach London, auch um Soane und den Erinnerungen und Geistern ihrer Jugend, die er weckt, zu entkommen. Als in Alexandria die Stürme beginnen, verschlechtert sich Harriets Gesundheitszustand. Erneut kann sie die Mutter überreden, Ägypten nicht zu verlassen, sondern vielmehr nach Luxor weiterzureisen. Yael hingegen will ihre Kinderklinik nicht aufgeben und bleibt in Alexandria zurück.

In Luxor begegnet Harriet dem mit Ausgrabungen beschäftigten Eberhardt Wolf wieder und entdeckt in dem Ägyptologen eine verwandte Seele, nachdem dieser begreift, dass Harriets Interesse echt und nicht bloß das einer Touristin ist. Sie fertigt Kopien der von ihm ausgegrabenen Hieroglyphen an und hilft, deren Bedeutung zu entschlüsseln. Auch Soane taucht in Luxor wieder auf und interessiert sich für Harriet.

Unterdessen wächst angesichts der sozialen Verhältnisse im Land die Unruhe in der Bevölkerung, so dass eine Rückkehr nach England zunehmend unmöglich erscheint...

Wendy Wallace überrascht mit einer lebendigen, atmosphärisch dichten Geschichte, die von einer intensiven und sorgfältigen Beschäftigung mit dem historischen Hintergrund zeugt. Sie vermag es, dem Leser die herbe, gleichwohl mystische Schönheit Ägyptens ins üppigen Farben, die von Wind und Sand erfüllte Luft und die starke Hitze zu vermitteln. Während das neblige London die dunkle Seite darstellt, scheint Ägypten hell und voller Licht zu sein. Doch diese Schönheit täuscht.

Ägypten ist im 19. Jahrhundert eine brutal unterdrückte Nation unter osmanischer Herrschaft, ein Land, das sich am Rande der Revolte befindet, es entwickelt sich eine wachsende nationalistische Bewegung wider die horrenden Steuern, die Sklavenarbeit und Unterdrückung, im Grunde entsteht der hier der erste „arabischen Frühling“.

In dieser Zeit gehen die drei Frauen, ohne es zu ahnen, auf eine Reise gehen, die eine jede von ihnen verändert. Zunächst tragen sie das starre Korsett ihrer Herkunft und sind geprägt vom Anstand und der Moral ihrer Zeit. Eindrucksvoll schildert die Autorin, wie sie sich von den Zwängen befreien, die die viktorianischen Gesellschaft vor allem den Frauen auferlegt.

Die Figuren wirken echt und aus dem Leben gegriffen. Ihre Gedanken, Gefühle und Motivation sind nachvollziehbar durch Handlungen und Aussagen dargestellt. Dabei ist der Erzählstil sehr ausgewogen und nie übertrieben, klar und sensibel und durchaus poetisch.

"Der Himmel war gigantisch. Eine silbrige Riesenschale über ihrem Kopf, an deren Rändern sich perlmuttfarbene Wolkenfinger bis an den Horizont zogen. Um sie herum glitzerte und wogte das Meer. Es wirkte gewaltig. Rein und lebendig." (Seite 50)

Die drei weiblichen Protagonisten Harriet, Lousia und Yael sind von ungleichem Charakter, und so reagieren sie auch völlig unterschiedlich auf das für sie fremde exotische Land.

Yael und Louisa haben nichts gemein. Während Louisa von dunkler Aufsehen erregender Schönheit ist, die noch immer jedem ins Aug fällt, allerdings weder Zeit für Wohltätigkeitsarbeiten noch für Bibelstudien hat, legt Yael weder auf ihr äußeres Erscheinungsbild größeren Wert noch ist sie an der Welt des Spirituellen interessiert. Hingegen Louisa lässt sich von Stimmen ihrer bereits verstorbenen Mutter leiten, misst diesen große Bedeutung zu. Außerdem ist nicht nur in ihrem Wunsch, ihre Tochter zu schützen, gefangen, sondern auch in der eigenen Vergangenheit und der Pflicht, den guten Ruf zu wahren. Aber sie verändert sich, und dies geschieht in einer für den Leser begreifbaren Art und Weise.

Gleiches gilt für Yael. Allerdings ist sie, die die meisten Vorbehalte gegen die Reise hat, es, die letzten Endes über sich hinauswächst, als sie der Der dreiundzwanzigjährigen Harriet Heron schnürt es im nebligen giftigen Dunst des viktorianischen Londons im wahrsten Worte die Luft ab. Sie leidet an Asthma und rechnet jeden Tag damit, den nächsten nicht mehr zu erleben. Sie wird behütet und geschützt, ist gleichwohl aber auch gefangen in diesem Kokon der Fürsorge und getrennt von den Dingen, die eine junge Frau ihres Alters kennenlernen sollte. Lediglich ihre seit ihrer Kindheit bestehende Faszination für Ägypten, besonders ihre Leidenschaft für Hieroglyphen geben ihr Halt.

Da sie vor ihrem Tod das ägyptische Theben sehen möchte, kann sie erst ihren Arzt und dann ihre Mutter Louisa davon überzeugen, dass ihr das Klima in Ägypten besser bekommt. Mit auf die Reise geht als Dritte im Bunde der Damen die unverheiratete, gottesfürchtige (Tante) Yael, Louisas Schwägerin, nicht minder naiv in ihrem Glauben und ohne Kenntnis, was sie im unbekannten Land erwartet.

Schon auf dem Schiff begegnen sie unterschiedlichen Menschen: dem Ehepaar Cox, das seine Hochzeitsreise macht, dem Maler Eyre Soane, den eine längst begraben geglaubte Vergangenheit mit Louisa zu verbinden scheint, dem deutschen Professor Eberhardt Wolf, der einen Flügel nach Ägypten transportiert.

Endlich in Alexandria angekommen, kann Harriet angesichts der sauberen Luft zunächst aufatmen. Yael, die bislang ihren Vater gepflegt oder „gefallene“ Mädchen betreut hat, findet einen neuen Lebenssinn. Sie eröffnet eine Klinik, in der die Augen der ägyptischen Kinder behandelt werden.

Doch Louisa will zurück nach London, auch um Soane und den Erinnerungen und Geistern ihrer Jugend, die er weckt, auszuweichen. Als in Alexandria die Stürme beginnen, verschlechtert sich Harriets Gesundheitszustand. Erneut kann sie die Mutter überreden, Ägypten nicht zu verlassen, sondern vielmehr nach Luxor weiterzureisen. Yael hingegen will ihre Kinderklinik nicht aufgeben und bleibt in Alexandria zurück.

In Luxor begegnet Harriet dem mit Ausgrabungen beschäftigten Eberhardt Wolf wieder und entdeckt in dem Ägyptologen eine verwandte Seele, nachdem dieser begreift, dass Harriets Interesse echt und nicht bloß das einer Touristin ist. Sie fertigt Kopien der von ihm ausgegrabenen Hieroglyphen an und hilft, deren Bedeutung zu entschlüsseln. Auch Soane taucht in Luxor wieder auf und interessiert sich für Harriet.

Unterdessen wächst angesichts der sozialen Verhältnisse im Land die Unruhe in der Bevölkerung, so dass eine Rückkehr nach England zunehmend unmöglich wird...

Wendy Wallace überrascht mit einer lebendigen, atmosphärisch dichten Geschichte, die von einer intensiven und sorgfältigen Beschäftigung mit dem historischen Hintergrund zeugt. Sie vermag es, dem Leser die herbe, gleichwohl mystische Schönheit Ägyptens ins üppigen Farben, die von Wind und Sand erfüllte Luft und die starke Hitze zu vermitteln. Während das neblige London die dunkle Seite darstellt, scheint Ägypten hell und voller Licht zu sein. Doch diese Schönheit täuscht.

Denn Ägypten ist im 19. Jahrhundert eine brutal unterdrückte Nation unter osmanischer Herrschaft, ein Land, das sich am Rande der Revolte befindet, es entwickelt sich eine wachsende nationalistische Bewegung wider die horrenden Steuern, die Sklavenarbeit und Unterdrückung, im Grunde entsteht der hier der erste „arabischen Frühling“.

In dieser Zeit gehen die drei Frauen, ohne es zu ahnen, auf eine Reise, die eine jede von ihnen verändert. Zunächst tragen sie das starre Korsett ihrer Herkunft und sind geprägt vom Anstand und der Moral ihrer Zeit. Eindrucksvoll schildert die Autorin, wie sie sich von den Zwängen befreien, die die viktorianischen Gesellschaft vor allem den Frauen auferlegt.

Alle Figuren wirken echt und aus dem Leben gegriffen. Ihre Gedanken, Gefühle und Motivation sind nachvollziehbar durch Handlungen und Aussagen dargestellt. Dabei ist der Erzählstil der Autorin sehr ausgewogen und nie übertrieben, klar und sensibel und durchaus poetisch.

"Der Himmel war gigantisch. Eine silbrige Riesenschale über ihrem Kopf, an deren Rändern sich perlmuttfarbene Wolkenfinger bis an den Horizont zogen. Um sie herum glitzerte und wogte das Meer. Es wirkte gewaltig. Rein und lebendig." (Seite 50)

Die drei im Mittelpunkt stehenden weiblichen Protagonisten Harriet, Lousia und Yael sind von ungleichem Charakter, und so reagieren sie auch völlig unterschiedlich auf das für sie fremde exotische Land.

Yael und Louisa haben nichts gemein. Während Louisa von dunkler Aufsehen erregender Schönheit ist, die noch immer jedem ins Aug fällt, allerdings weder Zeit für Wohltätigkeitsarbeiten noch für Bibelstudien hat, legt Yael weder auf ihr äußeres Erscheinungsbild größeren Wert noch ist sie an der Welt des Spirituellen interessiert. Hingegen Louisa lässt sich von Stimmen ihrer bereits verstorbenen Mutter leiten, misst diesen große Bedeutung zu. Außerdem ist nicht nur in ihrem Wunsch, ihre Tochter zu schützen, gefangen, sondern auch in der eigenen Vergangenheit und der Pflicht, den guten Ruf zu wahren. Aber sie verändert sich, und dies geschieht in einer für den Leser greifbaren Art und Weise.

Gleiches gilt für Yael. Allerdings ist sie, die die meisten Vorbehalte gegen die Reise hat, es, die letzten Endes über sich hinauswächst, als sie der Armut und Unterdrückung der ägyptischen Bevölkerung begegnet. Sie handelt, entdeckt ihre eigenen, beträchtlichen Fähigkeiten und emanzipiert sich, breitet die Flügel aus, bekommt Ausstrahlung und Souveränität und lebt eine Toleranz im Glauben, die bewundernswert ist.

Nachvollziehbar wird auch der Wandel von Harriet geschildert. Anfangs ist sie in London eine sterbenskranke, schwache junge Frau. In Ägypten lernt sie mit der Zeit das Atmen, gewinnt Kraft, Zuversicht und Unabhängigkeit. Dabei ist die Entwicklung langsam, kommt nicht als Wunder einer plötzlichen Heilung daher und weist zudem Rückschläge auf.

Harriet und damit auch dem Leser wird bewusst, dass die Welt ungeheuer schön und voller Möglichkeiten und Abenteuer sein kann. Dass sich die Leben der Menschen nicht nur in ihrer Länge unterscheiden, sondern vor allem in ihrer Intensität, im ungleichen Grad an Schönheit, Freude und Genuss. Dass es wichtig ist, sich nicht einfach nur ein langes Leben zu wünschen, sondern eines, das Belang hat, ein Leben (und eines Tages auch einen Tod) nach eigenen Vorstellungen.

Veröffentlicht am 17.09.2024

Weihrauch und Schwert

Tankred: Weihrauch und Schwert
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Wir schreiben das Jahr 882. Seit ihrer Vertreibung aus England sind die Dänen auf Beutezug im Rheinland. Vor allem auf die reichen Klöster haben sie es abgesehen, denn dort finden sie überhaupt keine Gegenwehr. ...

Wir schreiben das Jahr 882. Seit ihrer Vertreibung aus England sind die Dänen auf Beutezug im Rheinland. Vor allem auf die reichen Klöster haben sie es abgesehen, denn dort finden sie überhaupt keine Gegenwehr. Aber auch vor den schlecht gesicherten und kaum verteidigten Städten machen sie keinen Halt, und immer hinterlassen sie rauchende Trümmer.

Nun stehen sie vor den Toren des Klosters Prüm in der Westeifel. Dessen Mönche sind rechtzeitig geflohen, nachdem sie ihre anfängliche Verteidigungsbereitschaft angesichts mangelnder Erfolgsaussichten ad acta gelegt haben.

Allein Tankred bleibt zurück. Der Bibliothekar sorgt sich um die Bücher der Abtei, sie sind sein zweites Leben. Deshalb möchte er sie retten, bevor er Prüm ebenfalls den Rücken kehrt

An diesem 6. Januar 882, dem Epiphaniastag, entscheidet sich Tankreds Schicksal, und er tritt seinen Rückweg in sein altes Leben an. Aus Tankred, dem Benediktinermönch und Bibliothekar, wird wieder Tankred, der Sohn des Grafen Thegan, ein zum Kämpfen erzogener und ausgebildeter Krieger.

Ab dem Moment, den er nicht mehr als Mönch hinter Klostermauern verbannt ist, treibt ihn noch etwas an: Die Sorge um seine Schwester Judith, den einzigen Menschen aus der Verwandtschaft, der ihm etwas bedeutet. In Wahrheit ist es Tankred allein, der weiß, wo Judith lebt, genau genommen derjenige, der weiß, dass sie überhaupt lebt

Trotz aller Hoffnung kommt er zu spät. Judith ist nicht mehr in Aachen, wo er sie in Sicherheit glaubte, sie wurde von Dänen entführt

Gemeinsam mit seinem neuen Gefährten Gauzbert folgt er der Spur der Dänen, immer in der Hoffnung, dass Judith wegen ihrer Besonderheit – zwei verschiedenfarbige Augen –, nicht als Sklavin verkauft wird.

Die Reise ist beschwerlich, nicht nur die winterlichen Witterungsverhältnisse machen ihnen zu schaffen. Sie müssen ebenso ständig auf der Hut vor den Dänen sein, die ihren Weg kreuzen.

Tatsächlich entdecken sie Judith in den Fängen des Dänen Ivar, ein unberechenbarer und gewalttätiger Unhold, der selbst von seinen eigenen Leuten als irre betrachtet wird. Eine Befreiung stellt sich dadurch als viel schwieriger heraus, als angenommen …


Mit „Weihrauch und Schwert“ startet Michael Römling die Reihe um seinen Helden Tankred, für die er sich eine Epoche der wenig bekannten deutschen Geschichte ausgesucht hat und eher selten Mittelpunkt historischer Romane.

Von Anfang an fasziniert seine Darbietung der Ereignisse, weil er hier nicht nur fundiertes historischen Wissens einbettet, sondern auch einen mitreißenden und überzeugenden Erzählton anlegt und diesen dauerhaft zu halten vermag, dessen thematisch notwendige Ernsthaftigkeit mittels humorvoller Szenen aufgelockert, so dass ein vereinzelter Ausflug in die moderne Sprache verziehen wird.

Der Autor ist in der Lage, uns mit detaillierten Bildern Einblicke in die damaligen, geschichtlich überlieferte Vorgänge zu gewähren und paart diese mit einer fesselnden Handlung, in der seine fiktiven Figuren neben einstigen Persönlichkeiten agieren.

Überhaupt sind es die sorgsam und unverwechselbar ausgearbeiteten Charaktere, vordergründig Tankred in seinem Zwiespalt, indes auch alle anderen von Gauzbert und Lupus, Fidis und Folchar, bis hin zu den familiären und dänischen Gegenspielern, die den Roman zu einer unterhaltsamen Lektüre machen.

Der Roman profitiert von der Erzählweise seines Protagonisten aus der Ich-Position heraus. So befinden wir uns als Leser mitten im, an Tempo zunehmenden Geschehen und sind in die Abenteuer im Grunde hautnah involviert.

Die Schilderungen des im Kloster zum Manne gereiften Tankreds sind facettenreich, offen und ehrlich, manchmal deftig im Ausdruck, meist direkt und schmuck-, aber nicht emotionslos. Hinsichtlich der ihm anvertrauten Menschen offenbart Tankred seine weiche Seite und begegnet ihnen mit Rührung und Liebe sowie der unbedingten Entschlossenheit, besonders die zerbrechlichen Leben zu verteidigen.

Einst hatte er, der Sohn eines Adligen, einen Menschen getötet und wurde in die klösterliche Verbannung nach Prüm geschickt. Dort arrangiert sich der junge Mann, anfänglich noch zerfressen von Hass und Wut, mit seinem Los, erfährt Erfüllung in seiner Tätigkeit als Bibliothekar und verbringt einen Großteil seiner Zeit in der Abtei – immerhin zwölf Jahre – damit, sich mit Wissen „vollzusaugen“ und dieses Wissen bei Tag und Nacht zu verarbeiten, zu notieren, nachzuschlagen, abzugleichen, zusammenzufassen und umzuformulieren.

Indes will es das Schicksal anders. Von einen Tag auf den anderen wird Tankred vom beschaulichen Dasein als Mönch, als Denker und Freund der Wissenschaft zurück katapultiert ins Leben als Kämpfer, hinein in ein Spiel aus Macht und Intrigen, bei dem wir ihn im Folgeband weiterhin gerne begleiten.

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Veröffentlicht am 27.05.2024

Ihr letztes Spiel

Ihr letztes Spiel
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Mike Müller und seine Sekretärin Alice sind ein eingespieltes Team. Nicht nur in der Detektei, sondern auch als Liebes- und Lebenspartner.

Als Alice plötzlich spurlos verschwindet, glaubt Mike, ein Déjà-vu ...

Mike Müller und seine Sekretärin Alice sind ein eingespieltes Team. Nicht nur in der Detektei, sondern auch als Liebes- und Lebenspartner.

Als Alice plötzlich spurlos verschwindet, glaubt Mike, ein Déjà-vu zu erleben, hat er doch achtzehn Jahre zuvor den „Verlust“ seiner damaligen Freundin verkraften müssen. Während der Fußballweltmeisterschaft 2006 war Valerie entführt und nie wieder aufgefunden worden. Außerdem zerbrach zu diesem Zeitpunkt die Freundschaft zu seinem Mitbewohner Simon.

Nun steht wieder eine Meisterschaft im eigenen Land an, und es überschlagen sich die Ereignisse: Mike trifft zufällig Simon wieder, und fast parallel scheint es jemand seine Gefährtin ins Visier genommen zu haben.

Aber Mike ist nicht mehr der unbedarfte Student, der er einst war und begibt sich auf die Suche, auch in seinen Erinnerungen an das einstige Geschehen.

Wird er dieses Mal erfolgreich sein und Alice wiederfinden?


Der Privatdetektiv Mike Müller steht in seiner Heimatstadt Bochum vor seinem bislang größten Fall. Denn mit der Entführung seiner Lebensgefährtin Alice wird es sehr persönlich.

Arne Dessaul lässt seinen Protagonisten in „Ihr letztes Spiel“ eine harte Nuss knacken, die ihm einiges abverlangt. Vor allem weil ihn diese recht geheimnisvollen und keinen Sinn ergebenden Vorgänge, die er aus seiner Sicht schildert, in die eigene Vergangenheit führen. Nur so können er und wir Leser mit ihm die Zusammenhänge begreifen.

Arne Dessauls Krimi enthält eine mit Geschick ersonnene Handlung, die zwischen den Jahren 2024 und 2006 wechselt und die in Deutschland stattfindenden Fußballmeisterschaften einbindet. Sie wird unbeschwert, stellenweise mit einer gewissen Komik und in einem gefälligen Rhythmus erzählt, wozu die musikalische Benennung der Kapitel passend gewählt ist. Es gibt sogar ein Glossar für sämtliche Songs der Playlist.

Das Thema Fußball erhält naturgemäß einen hohen Stellenwert, ist indes für Nicht-Liebhaber zu keiner Zeit ausufernd oder eintönig. Genauso wie die Atmosphäre der Stadt Bochum, die Arne Dessaul dezent vermittelt.

In der Gestaltung gelungen sind ebenfalls die eingeschobenen Passagen, die Einblicke in die Situation der „Gangster“ und der Entführten bieten. Tatsächlich haben auch diese Abschnitte mein Gedankenkarussell angekurbelt und zusätzliche Spannungsmomente erzeugt.

Eindeutig gehören daneben sämtliche Überraschungseffekte zu den Höhepunkten der Geschichte, wobei – allerdings lediglich als kleiner Wermutstropfen - das Ende etwas zu knapp geraten ist.

Hiervon abgesehen ist "Ihr letztes Spiel" ein kurzweiliger Krimi, bei dem das Zusammenspiel aus Plot und Protagonisten sehr gut funktioniert.

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Veröffentlicht am 13.05.2024

Zerbrechliche Hoffnung

Die Porzellanmanufaktur – Zerbrechliche Hoffnung
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Keine acht Jahre nach einem verlorenen Krieg, zerstörten Städten, zerbombter Infrastruktur und Millionen von Toten normalisiert sich die Weltlage und Deutschland schickt sich an, zu neuem wirtschaftlichen ...

Keine acht Jahre nach einem verlorenen Krieg, zerstörten Städten, zerbombter Infrastruktur und Millionen von Toten normalisiert sich die Weltlage und Deutschland schickt sich an, zu neuem wirtschaftlichen Aufschwung zu gelangen. Die Kriegsgegner Großbritannien und Frankreich hat es längst hinter sich gelassen, und hinsichtlich der Exporte liegt es im Vergleich zu den USA auf der Überholspur. Die Aussichten sind goldig.

Wenn auch nicht alle Schrecken der Vergangenheit überwunden sind, so widmen sich die Menschen im Jahr 1952 der Gestaltung der Zukunft. Auch die Thalmeyers stellen sich in ihrer Porzellanmanufaktur in Selb wichtigen Herausforderungen.

Zunächst beginnt das Jahr gut, die Auftragsbücher sind voll. Dann jedoch droht Konkurrenz aus der DDR: Meißner Porzellan, das viele Jahre nicht in den Westen gelangte, darf wieder importiert werden und erobert mit günstigeren Preisen den westdeutschen Markt. Die Thalmeyers verlieren Kunden, und plötzlich sieht die Zukunft der Manufaktur nicht unbedingt rosig aus.

Zumal sie sich außerdem noch mit ihrem diebischen Buchhalter Willemsen auseinandersetzen müssen, der die letzten zwei Jahre fast zehntausend Mark in die eigene Tasche gesteckt hat.

Zumindest eine Sorge ist Marie Thalmeyer los: Sie konnte ihre Tochter Jana, deren Sorgerecht ihr auf Grund eines alten Gesetzes entzogen worden war, innerhalb kürzester Zeit zurück in ihre Obhut nehmen.

Während Marie die Geschicke der Manufaktur lenkt, bereist ihre Schwester Sophie mit Porzellankollektionen die Kaufhäuser in ganz Bayern und macht dabei äußerst erfolgreich Reklame für die Produkte. Ihre Ehe mit Harry Kruskopp funktioniert zuverlässig, allerdings zeigen sich diesbezüglich ein paar Gewitterwolken am Himmel.

Joachim Thalmeyer verbringt viel Zeit mit seinem Jugendfreund Bernhard. Die beiden musizieren nicht nur gemeinsam, sondern halten dort, wo sie es dürfen, Händchen. Ein offizielles Paar sind sie indes nicht, das ist dann doch viel zu gefährlich im Jahr 1952. Daneben konzentriert sich Joachim darauf, sich als Manager von zukünftigen Stars zu etablieren.

Eine alte Feindschaft erhält zusätzliches Feuer, und es werden auch von anderer Seite Intrigen gesponnen ...


Mit „Zerbrechliche Hoffnung“ kehren wir 1952 in „Die Porzellanmanufaktur“ nach Selb zurück. Der zweite Band knüpft wenige Monate später an das Geschehen des Vorgängers an und bringt uns nunmehr die Hoffnungen der Menschen nahe, die sie mittlerweile nach der Überwindung der entbehrungsreichen Nachkriegsjahre immer mehr hegen. Stefan Maiwald eigener Schreibstil ist mir inzwischen sehr vertraut, so dass ich mich dieses Mal von Anfang über den zwischen den Zeilen erkennbaren untrüglichen feinen Humor freuen konnte.

Außerdem gelingt es dem Autor erneut, den historischen Hintergrund akkurat zu verarbeiten, so dass ein atmosphärisches aktives Bild der Anfänge der Fünfzigerjahre entsteht, das den damals herrschenden Zeitgeist in seiner detaillierten Farbigkeit ausgezeichnet wiedergibt. Die Menschen schauen nach vorn und hoffen auf eine bessere Zukunft, die Dank „Wirtschaftswunder“ auch durchaus aussichtsreich ist.

Die Geschichte profitiert von den Wechseln der Perspektiven in kurzen schnittigen Kapiteln, die zum einen Vergangenes aufgreifen, zum anderen die Gegenwart reflektieren, was die ständige Neugier auf den weiteren Verlauf der Ereignisse anheizt.

Wenngleich manchmal die Verbindung zu den Figuren etwas ausgebremst und damit die emotionale Nähe eingeschränkt wird, so hat mich dies weniger gestört als im ersten Band, weil für mich die Zurückhaltung in der Darstellung von Empfindungen ein Merkmal der Art und Weise des Erzählens ist.

Stefan Maiwald baut in seinem zweiten Band abermals auf seine uns bereits vertraute Figurenmannschaft mit alten Freunden und Feinden auf, wobei mancher Weg und ebenso die Entwicklung der unterschiedlichen Charaktere etwas intensiver beleuchtet werden. Daneben ergänzt er die Stammbesetzung mit ein paar interessanten Persönlichkeiten, die in besonderer Weise agieren und die Handlung in ihrer Mischung aus Tragödie und Komödie auffrischen.

Das alles trägt zur erfolgreichen Fortführung der Reihe um „Die Porzellanmanufaktur“ bei. „Zerbrechliche Hoffnung“ ist kurzweilige Unterhaltung im Gewand der Fünfzigerjahre, die anregende Lesestunden bereitet und darum empfehlenswert ist.

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