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Veröffentlicht am 30.12.2017

Eine haarige Sache

Die Sache mit Norma
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ist es, die Sofi Oksanen diesmal erzählt: das Schicksal Normas, die, gerade erst 30jährig, ihre Mutter Anita durch Freitod verloren hat. Anita arbeitete in einem Haarsalon - einem sehr modernen, der sich ...

ist es, die Sofi Oksanen diesmal erzählt: das Schicksal Normas, die, gerade erst 30jährig, ihre Mutter Anita durch Freitod verloren hat. Anita arbeitete in einem Haarsalon - einem sehr modernen, der sich voll und ganz Echthaar-Extentions verschrieben hat. Wobei ihre Tochter definitiv keine nötig hat: sie hat mehr Haare, als sie gebrauchen kann.

Und die machen ihr nicht nur Freude, sondern bestimmen ihr Leben: nämlich als Indikatoren für Ereignisse, gewissermaßen auch als Droge - und als noch so einiges, aber das offenzulegen, würde bedeuten, Ihnen jetzt schon zu viel vom Geschehen zu verraten!

Ein bisschen was von einem Krimi hat diese Geschichte, die Menschen zusammenbringt, die seit Jahrzehnten miteinander verbunden sind, teilweise, ohne es zu wissen. Norma will auf jeden Fall herausfinden, was ihre Mutter dazu bringen konnte, sich auf die Bahngleise zu stürzen. Aus ihrer Sicht kann es dafür nur einen einzigen Grund geben: nämlich sie, ihre Tochter zu schützen - aber warum, um alles in der Welt? Oder war es Mord? Und wer der Schuldige?

Um dies herauszufinden, begibt sich Norma in den Haarsalon, der von Marion geführt wird, einer Tochter von Anitas Jugendfreundin, die seit Jahren in einer Nervenklinik weilt. Auch deren Sohn sowie Exmann mit zweiter Ehefrau hängen mit drin, also eine Sache unter Freunden? Sind sie Täter oder Opfer?

So plakativ bleibt die Geschichte nicht - so leicht macht die Autorin es uns nicht, hat sie es ja nie gemacht, zumal in dem Buch auch Gewesene auftreten, eine vor allem, Anitas Großmutter Eva, die also Normas Urgroßmutter ist und ihre große Zeit in den 1920ern hatte. Was sie dort zu suchen hat? Es hat alles seinen Sinn, seinen Hintergrund, seine Rechtfertigung: trotz allem Extremen, Überraschenden schwingt bei Oksanen auch immer etwas Rationales mit.

Wobei es ein wenig dauert, bis man darauf kommt: Sofi Oksanen schreibt ungewöhnliche Bücher: das ist mir nach der Lektüre ihres gesamten bisher in deutscher Übersetzung erhältlichen Oeuvres völlig klar, aber "Die Sache mit Norma" sprengt alles bisher Dagewesene - und zwar gewaltig.

Starke, eigenartige und eigenwillige Figuren sind es, die hier agieren, größtenteils Protagonisten einer modernen Welt, die jedoch allesamt etwas Urtümliches , ja Sagenhaftes in sich tragen. Und die den Machenschaften, Problemen, Fragestellungen der Gegenwart, die hier angesprochen werden, einen Hintergrund verleihen.

Anwandlungen ins Märchenhafte hat es bei Oksanen immer wieder mal gegeben, auch wenn sie tief in ihrem Herzen immer Realistin bleibt, eine Autorin nämlich, die das wirklich Wichtige, die großen Fragen des menschlichen Daseins thematisiert und das tut sie auch in diesem Buch. Extrem und eigenwillig wie ihre Figuren ist auch dieser Roman der Autorin, man könnte ihn auch - ohne zu übertreiben - als wahnwitzig bezeichnen. Ganz sicher nicht ein Buch für jedermann, es wird bestimmt polarisieren. Aber wer bisher einen Gewinn aus den Romanen Oksanens gezogen hat, der wird das möglicherweise auch diesmal tun - außer wenn es ihm prioritär um die historische Einbettung gegangen ist. Dennoch - einen Versuch ist es allemal wert!

Veröffentlicht am 30.12.2017

Frau Jenner und Herr Wiener

Und dann steht einer auf und öffnet das Fenster
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für die Leser Klara und Fred, finden über die Sterbebegleitung zueinander: eine ebenso ungewöhnliche wie extreme Form der Bekanntschaft. Sie, ein ehemaliger Deadhead (Fan der Gruppe Grateful Dead), inzwischen ...

für die Leser Klara und Fred, finden über die Sterbebegleitung zueinander: eine ebenso ungewöhnliche wie extreme Form der Bekanntschaft. Sie, ein ehemaliger Deadhead (Fan der Gruppe Grateful Dead), inzwischen sechzig und sterbenskrank, er ein übergewichtiger alleinerziehender Vater Mitte Vierzig, der seinem Leben einen Sinn geben und sich in der Betreuung sterbenskranker Menschen engagieren will. Klara ist sein erster "Fall" und er stellt sich ebenso idealistisch wie tollpatschig an.

Klara Jenner und Fred Wiener gehen miteinander einen schweren Weg und werden dabei von weiteren Akteuren: Freds Sohn Phil, Klaras Nachbarn Herrn Klaffki und Rena und einer ganzen Herde von Sterbebegleitern flankiert, jeder davon mit einer ganz eigenen Bedeutung für die Geschichte - jede davon ebenso ungewöhnlich wie die Geschichte selbst.

Es geht ums Sterben, aber auch ums (Über)Leben, ums Füreinander-da-sein und um das, was von Bedeutung ist. Dass das für jeden etwas anderes ist und nicht unbedingt immer zusammenpasst, ist klar. So kann Klara beispielsweise viel besser mit Phil, Freds Sohn, als mit ihm selbst und "entdeckt" Freds Qualitäten erst in einer absoluten Extremsituation: so wie Fred zunächst erfolglos Schicksal für Klara spielen wollte, tut dies der Nachbar Herr Klaffki, eine Art Hausmeister, nun seinerseits sehr erfolgreich für Klara und Fred.

Ausgesprochen schwere Kost, diese Geschichte, aber das ist sie allein wegen des Themas, denn sie ist von leichter Hand geschrieben und entbehrt auch nicht einer gehörigen Prise von Humor. Und jede Menge Skurrilität und Morbides ist auch dabei, wie es sich für einen Roman, in dem es ums Sterben geht, gehört.

Besonders genossen habe ich die Charaktere, die die Autorin Susann Pásztor scheinbar - wie den ganzen Roman - nur so aus dem Handgelenk geschüttet und mit einer gehörigen Prise von Originalität versehen hat, jeden einzelnen von ihnen. Meine Lieblinge sind neben dem jugendlichen Dichterfürsten Phil Herr Klaffki und einige Figuren aus der Runde der Sterbebegleiter.

Sterbebegleitung und Hospize - ein immer präsenter werdendes Thema, das in diesem Roman ausgesprochen originell verpackt wird. Vielleicht nicht jedermanns Sache, aber meine auf jeden Fall!

Veröffentlicht am 29.12.2017

Serienmorde statt Wiener Walzer

Mädchenauge
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serviert hier Christian David in seinem Erstling "Mädchenauge" - und zwar vom Allerfeinsten. Junge Mädchen werden im Abstand von zwei Wochen offenbar willkürlich umgebracht - oder etwa nicht. Der Wiener ...

serviert hier Christian David in seinem Erstling "Mädchenauge" - und zwar vom Allerfeinsten. Junge Mädchen werden im Abstand von zwei Wochen offenbar willkürlich umgebracht - oder etwa nicht. Der Wiener Politik ist an einer schnellen, möglichst glatten - heißt: gefälligen - Auflösung des Falles gelegen und dafür wird dem langjährigen Mitarbeiter der Wiener Ermittlungsbehörden, Major Belonoz, der gerade erst von Ungnaden wieder rehabiliert wurde, mit Lily Horn eine unerfahrene, noch nicht einmal dreißigjährige Staatsanwältin zur Seite gestellt. Ein Team mit Biss? Durchaus, auch wenn im Miteinander der beiden noch längst nicht das gesamte Potenzial von Animositäten, Sich-Bälle-Zuwerfens und, und, und ... ausgeschöpft ist.

Und die Story? Superspannend und durchaus originell, wenn sich auch der Autor ein klein wenig in Nebenschauplätzen und aus meiner Sicht zu vielen Nebendarstellern verheddert. Trotzdem ist dies ein Krimi mit allem Zipp und Zapp, der es wert ist, gelesen zu werden.

Meinerseits gibt es also durchaus ein paar Kritikpunkte anzumerken - und trotzdem gibt es ganze fünf Sterne? Jawohl, und zwar wegen des nicht zu übertreffenden Showdowns. Um es mit einem Reim zu sagen: Der Schluss ist ein Genuss! Absolut überraschend, originell und was mir in letzter Zeit immer mehr fehlt: es werden tatsächlich alle Erzählstränge aufgelöst... nur der nicht, wie es mit Lily und Belonoz weitergeht. Aus meiner Sicht umso besser: das lässt auf eine Fortsetzung hoffen!

Veröffentlicht am 29.12.2017

Ein Patriarch und seine Familie

Hero
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Der Patriarch Hero, Oberhaupt einer Großfamilie mit fünf Kindern, dazu Enkeln und Urenkeln, ist an Krebs erkrankt. Die Geschichte seines Leidens und der Hoffnungen wird vor allem aus zwei Perspektiven ...

Der Patriarch Hero, Oberhaupt einer Großfamilie mit fünf Kindern, dazu Enkeln und Urenkeln, ist an Krebs erkrankt. Die Geschichte seines Leidens und der Hoffnungen wird vor allem aus zwei Perspektiven erzählt. Aus der Sicht von Hero und aus der seiner mittleren Tochter Nele, der eigentlichen Ich-Erzählerin in diesem Roman. Doch auch andere Familienmitglieder kommen zu Wort und so wird der Leser nach und nach vertraut mit dem Setting, den Positionen und Interessen der Familienmitglieder. Und dabei schreitet die Krankheit fort....

Eine Familie am Abgrund , könnte man meinen, doch die Autorin erzählt mit einer solchen Leichtigkeit und zeichnet die Figuren so eindringlich, dass es eine Freude ist. Zu letzterer trägt auch der feine Humor, die sanfte Ironie bei, von der das ganze Buch durchzogen ist, das I-Tüpfelchen jedoch, das ist Root Leebs Sprachempfinden, ja, trotz des eher stillen Eindrucks, den das Buch hinterlässt, nenne ich es ihre Wortgewalt. Dabei geht es nicht um vordergründige Emotionen, nein, das Stilmittel der Autorin ist der Abstand - die Distanz: wie durch eine Lupe betrachtet, werden Charaktere, Beziehungen und weitere Strukturen immer deutlicher und verweben sich zu einer fesselnden Geschichte. Liebhabern von Familienromanen, Freunden der deutschen Sprache und der leichten, niemals gehässigen Ironie wärmstens zu empfehlen!

Veröffentlicht am 29.12.2017

Ein Gebäude als Hauptdarsteller

Torstraße 1
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ist das Haus in der Berliner Torstraße 1 in Sybil Volks' gleichnamigen Roman - und bildet gleichsam den Punkt, an dem alle Fäden zusammenlaufen. Die Autorin begleitet das Schicksal des Hauses seit seiner ...

ist das Haus in der Berliner Torstraße 1 in Sybil Volks' gleichnamigen Roman - und bildet gleichsam den Punkt, an dem alle Fäden zusammenlaufen. Die Autorin begleitet das Schicksal des Hauses seit seiner Entstehung 1929 bis zur Gegenwart und flankiert dies durch die Lebensgeschichte zweier Familien, die quasi durch Geburt miteinander verbunden sind: auf der einen Seite die kleine Kaufhausangestellte Vicky - Mitarbeiterin des Kaufhauses Jonass, der ersten Station des Hauses in der Torstraße 1, die, schwanger vom Juniorchef, auf der Einweihungsfeier des neuen Geschäftshauses entbindet und auf der anderen Seite der Handwerker Wilhelm, der das Haus miterbaut hat und zufällig als Vickys Geburtshelfer fungiert. Er wird, so erfahren er und auch die Leser es später, zur gleichen Stunde Vater eines Sohnes. Diese beiden Kinder, Elsa und Berhard sind ihr Leben lang mal mehr, mal weniger miteinander verbunden und es sind ihre beiden Leben, ergänzt von denen ihrer Familien, die im Mittelpunkt der Handlung stehen und über Jahrzehnte die Geschichte Berlins in Ost und West auf ganz persönliche Weise präsentieren.

Ein Roman, der Atmosphäre schafft: Sybil Volks vermag es, jede einzelne von ihr aufgezeichnete Epoche lebendig werden, den Leser quasi in die Handlung eintauchen zu lassen. Auch wenn die einzelnen Phasen - sowohl in Bezug auf die historische Entwicklung als auch auf das Leben der beiden Familien - teilweise nur beiläufig abgehandelt werden, habe ich die Lektüre durchgehend genossen, denn an jeder Stelle kann der Leser sich in die geschilderte Situation einfühlen, die Begebenheiten quasi miterleben bzw. nachempfinden. Ein Roman für alle, die gerne auf farbigste Art und Weise in die neuere und neueste deutsche Geschichte eintauchen, ohne sich dabei an Sachbücher zu halten.

Allerdings sollten aufgrund der sehr charakteristischen Erzählweise gewisse Vorkenntnisse bereits vorhanden sein: der Leser muss sich darauf gefasst machen, dass er hier die Historie in Form von kurz aufleuchtenden Blitzlichtern auf sich wirken lässt. Dadurch können bei seiner Rezeption des Buches Lücken auftauchen, die er selber zu füllen hat, doch aus meiner Sicht ist es das wert, nein, es macht den Roman aus.

Für Liebhaber anspruchsvoller historischer Literatur und natürlich für Berlin-Fans genau die richtige Lektüre!