Nie vergeblich
Auf dem Cover von Christina Wesselys neuem Buch „Liebesmühe“, erschienen 2024 im Carl Hanser Verlag, ist eine von der betrachtenden Person abgewandte schmale Frau zu sehen, die in einem Sessel sitzend ...
Auf dem Cover von Christina Wesselys neuem Buch „Liebesmühe“, erschienen 2024 im Carl Hanser Verlag, ist eine von der betrachtenden Person abgewandte schmale Frau zu sehen, die in einem Sessel sitzend ihren Schatten betrachtet – den Schatten ihrer Selbst. Es gibt wahrscheinlich kein besseres Bild für das Thema des Buches.
Wessely beschreibt in „Liebesmühe“ punktgenau und in schonungsloser Ehrlichkeit die Emotionen einer jungen Mutter, die nach der Geburt eines Kindes in eine postpartale Depression verfällt, ein Phänomen, das in unserer Gesellschaft noch immer radikal tabuisiert wird und zu dem mensch kaum Hilfestellung erlangt. Klar arbeitet sie heruas, dass diese Diagnose unter Umständen nur eine Pathologisierung von etwas ist, das im modernen Zeitalter in der westlichen Welt leider ganz normal ist. Damit sind nicht die Symptome gemeint, sondern die attestierte Krankhaftigkeit, die letztlich nur eine sehr logische, systemische Reaktion darstellt. Frauen im westlichen Europa, insbesondere privilegierte Frauen, haben ein reiches, selbstbestimmtes Leben vor einer Schwangerschaft und Geburt, und werden auf einmal komplett in eine Fremdbestimmung geworfen – größer kann die Lücke im Selbstbild nicht gespannt werden – so ergeht es auch Wessely, was sie sehr berührend und eindringlich beschreibt ab dem Punkt, wo sie Worte findet für all das, was nach der Geburt wie ein Tsunami über sie schwappt. Und mit all dem sind, so wie Wessely, die meisten Gebärenden allein. Der Partner verschwindet spätestens nach ein paar Wochen Elternzeit wieder in große Anteile seines vorherigen Lebens, die Freunde und Freundinnen leben ihr Leben weiter und schauen nur ab und zu auf einen Kaffee vorbei, die Eltern leben meist an einem anderen Ort und selbst wenn nicht: Wie können wir auf einmal wieder Kind sein, wo wir doch selbst nun Eltern sind? Die daraus entstehende Zerrissenheit zwischen altem und neuem Selbstbild macht Wessely leicht nachzuempfinden. Und zu wem also in diesem System sollte man einen Satz sagen können wie „Ich habe Angst vor dem Kind“ – ohne sofort als „krank“ angesehen zu werden? Doch Frauen, denen es so geht, gibt es viele und nein, sie sind nicht krank. Sie sind einfach nur entwurzelt und mit etwas Fremdem konfrontiert, für das sie Verantwortung tragen – das aber nicht mit ihnen kommuniziert. Und ja: Das kann furchtbare Angst machen. Wenn dieses Etwas dann auch noch pünktlich am Abend stundenlang schreit, egal was man tut, dann wird alles, was man über sich selbst weiß, in Frage gestellt. Und da helfen keine Sätze wie „Das wird wieder anders“ „Ist nur eine Phase“ usw. All das beschreibt die Autorin so schnörkellos und klar und schriftstellerisch in tollen Bildern, dass mich das Buch schon auf den ersten Seiten sehr begeistert hat, trotz des schweren Inhalts. Gut ist, dass Wessely dabei nicht aus einer Betroffenheit heraus emotional schreibt, sondern sich selbst in der dritten Person analysiert, was der lesenden Person durchweg ermöglicht, bei aller Empathie auch die Außenschau zu bewahren. Und neben dem Schmerz bekommen auch andere wichtige Emotionen Raum, „Zorn über die gesellschaftlichen Verhältnisse, die mütterliche Depression noch fördern. Über die vollkommen irrsinnigen, überzogenen gesellschaftlichen Erwartungen Mutterschaft betreffend, die strukturell in größter Spannung mit weiblichen Erfahrungen stehen. Denen man nie entsprechen kann. Die krank machen.“
Im zweiten Teil des Buches wird es nach der emotionalen Achterbahnfahrt des ersten Teils deutlich wissenschaftlicher – Wessely findet wieder mehr Zugang zu sich selbst und somit auch Zugang zu der kritischen Gesellschaftswissenschaftlerin, die sie ist. Analytisch nimmt sie deshalb auseinander, wie Mütter in der westlichen Gesellschaft zum einen in einen Berg von Theorien und Wissen geworfen werden, mit dem sie sich unbedingt auseinandersetzen sollen, zum anderen aber ständig zurück „zur Natur“ geführt werden sollen und so ein „das ewig Weibliche“-Mythos über sie gestülpt wird. Beides führt dazu, wie Wessely auch hervorragend herausarbeitet, dass frau sich eigentlich ständig defizitär und ungenügend fühlt und sich on top auch noch die damit einhergehenden Gefühle abspricht und verbietet. Und wie dieses Denken nicht durch Solidarität unter Frauen abgefedert, sondern oft noch dazu durch eine Art „Gute-Mutter-Wettbewerb“ verstärkt wird. Unser heutiges Mutterbild wird in seiner historischen Entwicklung aufgedröselt und viele ideologischen Aspekte werden hinterfragt. Dieser zweite, viel mehr theoretisch unterfütterte Teil mag für manche Leser:innen zu viel theoretischen Impact zum Weiterlesen haben, hier liegt definitiv ein Wechsel im Duktus vor. Das ist ein kleiner Kritikpunkt an diesem wichtigen Buch, dass Wessely hier etwas elitär aus ihrer eigenen Bubble heraus schreibt und unter Umständen dadurch minder privilegierte Leser:innen verliert.
Am Ende des Buches spricht Wessely ganz offen über die Scham und das im Nachhinein auf sich selbst schauen und manchmal nicht verstehen können, wie man als denkender Mensch in so einem Tunnel feststecken konnte. Da bleibt ein Gefühl von Schuld, das ganz schwer zu kanalisieren ist – und auch dort ist Gesellschaft wirklich keine Hilfe, manchmal ist dort sogar Therapie keine Hilfe, je nachdem, an wen man so gerät. Es ist noch so viel zu tun für die moderne Frau. Der erste Schritt ist ehrliches darüber Sprechen – weshalb es mehr als wichtig ist, dass Wessely so offen darlegt, wie sie mit sich gekämpft hat, sich doch zumindest ein bisschen besser darstellen zu wollen. Und die Sorge, was das bedeuten kann, wenn dieses Zeugnis in der Welt ist und irgendwann ja auch von ihrem Sohn gelesen werden kann – welche Veränderung wird das dann für ihr Verhältnis bedeuten? Insofern ein besonders mutiger Schritt, diesen Bericht nicht unter Pseudonym zu veröffentlichen, was ja auch möglich gewesen wäre.
Was definitiv fehlt: Triggerwarnungen und ein Anhang mit Verweisen auf Beratungsstellen und Hilfsangebote. Das ist leider ein großes Manko. Das Buch ist so super, schonungslos ehrlich und auch schriftstellerisch auf einem hohen Niveau, aber es gibt den lesenden Personen gar keine konkreten Hilfestellungen - und erzählt doch selbst so deutlich davon, wie schwierig es ist, die passende Hilfe zu finden / die Energie dafür aufzubringen. Das wäre ein klarer Wunsch an den Verlag von mir, hier nachzubessern. Und ja, die Angebote ändern sich, aber da reicht ja ein QR-Code, der auf Seiten verweist, wo solche Angebote gebündelt werden.
Auf jeden Fall ist „Liebesmühe“ aber ein extrem wichtiges Buch, dem ich viele Leser:innen wünsche, vor allem auch viele Leser.
Ein großes Dankeschön an lovelybooks.de und den Carl Hanser Verlag für das Rezensionsexemplar!