Cover-Bild Willy Brandt in Erfurt
10,00
inkl. MwSt
  • Verlag: Links, Christoph, Verlag
  • Genre: Sachbücher / Politik, Gesellschaft & Wirtschaft
  • Seitenzahl: 336
  • Ersterscheinung: 11.03.2010
  • ISBN: 9783861535683
Jan Schönfelder, Rainer Erices

Willy Brandt in Erfurt

Das erste deutsch-deutsche Gipfeltreffen 1970
Erfurt 1970 – Willy Brandt trifft Willi Stoph. Zum ersten Mal kommt ein bundesdeutscher Kanzler zu einem Spitzengespräch in die DDR. Vor dem Tagungshotel, dem 'Erfurter Hof', spielen sich aufwühlende Szenen ab. Die Menschen stürmen den Bahnhofsplatz ungeachtet der vielen Sicherheitskräfte und skandieren 'Willy Brandt ans Fenster!', bis dieser sich schließlich zeigt. Die Menge jubelt, viele lassen ihren Gefühlen freien Lauf und weinen. Die Bilder von diesem Augenblick gehen um die Welt und brennen sich ins kollektive Gedächtnis ein. Jan Schönfelder und Rainer Erices erzählen die Geschichte dieses historischen Besuchs, seine schwierige Vorgeschichte und sein Nachspiel in Ost und West. Ihre reportageartige Darstellung, die viele bislang unbekannte Begebenheiten enthält, lässt ein faszinierendes Stück deutsch-deutscher Geschichte lebendig werden.

Dieses Produkt bei deinem lokalen Buchhändler bestellen

Lesejury-Facts

  • Dieses Buch befindet sich bei Viv29 in einem Regal.
  • Viv29 hat dieses Buch gelesen.

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 13.02.2019

Ein historischer Anfang

0

Es gibt Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte, die sofort Emotionen hervorrufen, bei denen ein Bild reicht, um sie zu vermitteln. So Brandts Kniefall in Warschau oder Genscher in der Prager Botschaft. ...

Es gibt Moment in der deutschen Nachkriegsgeschichte, die sofort Emotionen hervorrufen, bei denen ein Bild reicht, um sie zu vermitteln. So Brandts Kniefall in Warschau oder Genscher in der Prager Botschaft. Oder eben Willy Brandts Besuch in Erfurt, die jubelnden Menschen, sein Erscheinen am Fenster. Ich war zu der Zeit noch nicht einmal geboren, denke daran aber mit der gleichen Bewegung wie bei Genschers Rede in der Prager Botschaft. Immer, wenn ich in einem Zug sitze, der in Erfurt hält, betrachte ich den „Erfurter Hof“ direkt gegenüber vom Bahnhof, mit dem legendären Fenster. Über Jahre verfolgte ich traurig, wie das Gebäude vor sich hin verfiel. Nun ist es wieder schön hergerichtet und eine große Schrift „Willy Brandt ans Fenster“ erinnert an jenen denkwürdigen 19. März 1970.

Dieses Buch berichtet die Vorgeschichte, den Verlauf und die Nachwirkung des Treffens zwischen Willy Brandt und Willi Stoph, welches selbst keine konkreten Ergebnisse erbrachte, aber den Beginn der deutsch-deutschen Gespräche markiert. Die Vorgeschichte, erste Kontaktaufnahmen und Verhandlungen, nimmt hier mit 180 Seiten einen wesentlich größeren Raum ein als das eigentliche Treffen. Minutiös wird hier berichtet, wer wann mit wem sprach und welche Punkte diskutiert und verhandelt wurden. Dies ist mir manchmal etwas zu ausführlich, mit genauen Zeitangaben, Fahrtrouten, Mittagsmenüs, Arten der Begrüßung und anderem. Dadurch wird einerseits gut aufgezeigt, in welch vorsichtig-angespannter Art diese Vorbereitungen verliefen, welch große Folgen eine kleine Nebenbemerkung haben konnte, manchmal wird es aber inmitten der ganzen Detailverliebtheit ein wenig zäh zu lesen. Dies ist allerdings der einzige kleine Kritikpunkt, den ich an diesem Buch habe. Die gegensätzlichen Erwartungen und Vorgehensweisen der Bundesrepublik und der DDR werden hier hervorragend aufgezeigt (und es scheint fast erstaunlich, daß dieses Treffen überhaupt zustande kam), ebenso wie die Einflußnahme der Sowjetunion und auch die außenpolitische Bedeutung des Treffens. Das ist alles klar und gut erklärt.

Der Abschnitt über das Treffen ist naturgemäß der intensivste, emotionalste. Ich kann bis heute den Ortsnamen „Gerstungen“ nicht ohne Erinnerungen und Emotionen lesen und so war die Beschreibung der Zugreise Brandts, des Grenzübergangs auch aus persönlichen Gründen für mich sehr bewegend. Sehr schön fand ich es, daß das Buch auch auf die emotionalen Aspekte hinter der großen Politik eingeht, Brandts Rührung und auch die Gefühle der begleitenden Mitarbeiter beschreibt. Es hat mich beeindruckt und erfreut, daß auch diese gestandenen Politiker den Anlaß mit großen Emotionen erlebten. Die Atmosphäre während des Treffens ist gut dargestellt, man spürt die Befangenheit und kann förmlich mitfühlen, wie vorsichtig Brandt sich verhielt, wie er jede Bewegung, jede Reaktion genau überlegen mußte. Man sieht die Bilder des Jubels, von Brandt am Fenster und ist sich oft nicht bewußt, was alles dahintersteckt. Interessant und erschreckend auch der Bericht über den Besuch in Buchenwald, als die DDR ausgerechnet diesen Moment des Gedenkens nutzte, um Brandt genau dem Zeremoniell, der „Anerkennungspropaganda“ zu unterwerfen, das er vorher ausdrücklich abgelehnt hatte.

„Mit Repressalien wird gerechnet“

Sehr gut wird beschrieben, welches Nachspiel die Sympathiekundgebungen der Bevölkerung in Erfurt für Willy Brandt hatten. Zuerst beordert das Regime instruierte Staatsjubler zum Bahnhofsvorplatz, so viel Angst hatte es vor der Meinung seiner unterdrückten Bürger, dann wird umgehend damit begonnen, diejenigen, die Brandt zujubelten, zu identifizieren, zu verhaften. Wie gründlich vorgegangen wurde, kann man hier anschaulich lesen, wie überhaupt die Atmosphäre der ständigen Überwachung, der Abhörung und der nervösen Bestrebungen, freie Meinungsäußerung zu verhindern, sehr gut geschildert wird.

So liefert dieses Buch sehr gut geschilderte Hintergrundinformationen; zeigt auf, welche Widerstände und Gegensätze überwunden werden mußten, um diesen ersten Schritt der Annäherung zu machen. Willy Brandt wurde mir hier nicht nur als Politiker, sondern auch als Mensch nähergebracht, wie überhaupt das Buch die sachlichen und menschlichen Aspekte gelungen verbindet. Das propagandistische und starre Vorgehen der DDR, die Angst vor den eigenen Bürgern, um die eigene Macht, ersteht ebenfalls deutlich von den Buchseiten auf. Angesichts all dieser so gut dargebrachten Hintergrundinformationen kann ich die Bilder von Willy Brandt in Erfurt nun auch mit einer ganz neuen Würdigung jener betrachten, die sich für diese Annäherung engagierten.