Keine Gute-Nacht-Geschichte: Ein düsteres Märchen über die Shoa
Eigentlich wollte ich, seit ich "Die Bibliothekarin von Auschwitz" gelesen habe, erstmal Abstand von Büchern über die Shoa/den Holocaust nehmen. Nicht etwa, weil ich vor dem Thema die Augen verschließen ...
Eigentlich wollte ich, seit ich "Die Bibliothekarin von Auschwitz" gelesen habe, erstmal Abstand von Büchern über die Shoa/den Holocaust nehmen. Nicht etwa, weil ich vor dem Thema die Augen verschließen will, sondern weil ich mich beim Lesen zu sehr in die Protagonisten hineinversetze, was mir ja schon bei der Bibliothekarin von Auschwitz so an die Nieren ging, da ich stets und ständig das Gefühl hatte, der Tod säße mir im Nacken. Und dann bin ich irgendwann im Sommer in der Connewitzer Verlagsbuchhandlung über "Das Kostbarste aller Güter" gestolpert und hab es mir dann dennoch mitgenommen. Es mussten allerdings noch ein paar Monate ins Land gehen, bevor ich mich an das Buch herantraute.
In diesem Buch wird märchenhaft über das Schicksal eines kleinen jüdischen Mädchens berichtet, dessen Vater es im Eifer einer Kurzschlussreaktion vor dem sicheren Tod in Auschwitz' Gaskammern bewahrt. Wenn ich hier von einer "märchenhaft" spreche, dann meine ich aber keineswegs die "Am Ende wird alles gut" - Erzählungen, die man Kindern vor dem Schlafen gehen vorliest, sondern bezieht sich auf den Schreib- bzw. Erzählstil, den Jean-Claude Grumberg für seine Geschichte ausgewählt hat. Die Geschichte beginnt mit einer armen, weltfremden Holzfällersfrau, die jeden Tag auf den Zug wartet, der durch ihren Wald fährt, weil sie vom "Gott des Zuges" eine Gabe erhofft, sei es, dass der Krieg endet oder etwas zu Essen. Jedoch handelt es bei jenem Zug um einen Transportzug, in dem jüdische Gefangene ins nahegelegene KZ deportiert werden. In einem der Züge befindet sich eine junge Familie, die kürzlich erst Familienzuwachs bekommen hat, Zwillinge, ein Junge und ein Mädchen und da die junge Mutter aufgrund von Mangelernährung und Hunger nicht mehr genug Milch für beide Kinder hat, beschließt der junge Familienvater kurzerhand, eines der beiden Kinder zu nehmen und es, eingewickelt in seinen Gebetsschal, aus dem Zug zu werfen. Was uns im ersten Moment barbarisch erscheint, rettet dem Kind, es ist ein kleines Mädchen, das Leben. Das Kind landet weich im Schnee, wo die alte Holzfällerfrau es findet und mit nach Hause nimmt, um es als ihr Kind groß zu ziehen. Um es zu ernähren, geht sie mit einem mürrischen Einsiedler in einem dunklen Waldstück einen Handel ein und selbst ihr Mann, der von dem Kind Anfangs absolut nichts wissen wollte, gewinnt es schließlich so lieb, als wäre es sein Eigenes. Doch das Glück, dass die Holzfällerfamilie schließlich teilt, währt nicht lang und auch der wahre Vater des Kindes erlebt unfassbares Grauen, sodass er sich beinahe aufgibt.
Halten wir fest: Trotz des Erzählstils ist das kein Märchen, es geht immerhin um den Holocaust. Aber es geht auch um eine Frau, die weiß, dass sie ein jüdisches Kind groß zieht, die sich aber um dessen Herkunft nicht schert, deren Mann, der am Anfang starke Vorbehalte gegen das Kind hat, welche schließlich durch Liebe besiegt werden, die ihn sogar dazu treibt, sich zum Wohle des Kindes zu opfern und einen menschenverachtenden Einsiedler, der dennoch das Herz am rechten Fleck hat.