Nachdem mich Marissa Meyer mit ihrem Trilogie-Auftakt "Renegades – Gefährlicher Freund" überzeugen und in die düstere, ambivalente Welt von Gatlon City entführen konnte, habe ich natürlich sehnsüchtig auf den zweiten Band der intelligenten, innovativen Dystopie gewartet. Als er dann pünktlich zum Erscheinungstermin ankam, habe ich mich sofort kopfüber in die Geschichte gestürzt, die zwar schnell wieder in ihren Bann zieht, dabei aber leider ein wenig unter den typischen Schwächen eines Trilogie-Mittelteils leidet. Trotz eines etwas zähen Mittelteils ergibt sich hier eine spannende Mischung aus rasanten Kampfszenen, politischem Geplänkel, verzwickten Plänen und ruhiger Charakterentwicklung.
"Tapfer kann nur sein, wer die Angst kennt."
Das Cover zieht wieder sofort durch die düstere Ausstrahlung und das spannenden Motiv in den Bann, das dem des ersten Teiles bis auf die Farbgebung gleicht. Umgeben von einigen Häusern der Stadt thront der Turm der Renegades, an den sich zwei kontrapunktische Gestalten lehnen: eine Frau mit Kapuze - Nachtmahr - und ein Mann in Uniform - der Wächter. Umrahmt wird das Ganze von kontrastreichen Strahlen, was dem Szenario zusammen mit der rot-schwarzen-Farbgebung etwas Surreales verleiht. Die zwei Gestalten scheinen durch den Turm der Renegades miteinander verbunden zu sein, schauen aber in verschiedene Richtungen, was den Inhalt auf einer Metaebene eigentlich ganz gut zusammenfasst. Die Gestaltung inklusive der spannenden Gestaltung der blauen Leselaschen und der türkis-blauen Farbe unter dem Einband bekommt von mir also einen deutlichen Daumen nach oben.
Erster Satz: "Adrian hockte geduckt hinter der Dachkante und spähte zum Hintereingang des Städtischen Krankenhauses von Gatlon hinunter."
Nachdem Band 1 mit der krassen Enthüllung endete, dass Ace Anarcho noch lebt und Nova die ganze Zeit in seinem Auftrag handelte, nahm ich eigentlich an, dass sich von nun an alles ändern und Schlag auf Schlag die Identitäten und Fronten auffliegen würden. Dem war aber nicht so - drängende Fragen werden kaum beantwortet, die Lüftung der Geheimnisse wird auf Band 3 verschoben und alles läuft in gewohnten Bahnen weiter. Nova ist immer noch Teil von Sketchs Team, geht mit ihren Renegade-Freunden auf Verbrecherjagd und plant währenddessen an Ace Anarchos Helm zu gelangen. So steigen wir mit der Verfolgung der Anarchistin Dornenschlinge in die Geschichte ein, welche jedoch erstmal die einzige Actionszene der ersten Hälfe bleibt. Stattdessen tritt Nova eine Arbeitsstelle in der Abteilung für Artefakte an, der Rat entwickelt eine neue, kontroverse Waffe und Adrian muss sich nach einem Kampf entscheiden, ob er den Wächter für immer begräbt oder nicht. Es gibt hier leider nicht besonders viel Handlung und Action und alles entwickelt sich langsam vor sich hin. Das ist aber durchaus in Ordnung, da Marissa Meyer hier ihre Prioritäten anders gesteckt und die Vertiefung ihrer Welt, die Entwicklung ihrer Protagonisten und den Konflikt um die wankenden Weltbilder in den Vordergrund gestellt hat.
Zwischen gewählt gestreuten Ereignissen lässt die Autorin lässt ihren Charakteren immer wieder Ruhepausen, um Geschehenes zu reflektieren, sich aufeinander einzulassen und unsere Bilder von Protagonist und Antagonist, also von Gut und Böse immer wieder auf den Prüfstand zustellen und uns dazu zu zwingen, die Sicht auf die Handlung neu zu überdenken. Denn je näher Nova Adrian kommt, je mehr sie Einblick in seine Familie erhält und sich in die Gemeinschaft der Renegades einfindet, desto mehr gerät ihr Weltbild, ihre Loyalität und ihre Überzeugungen ins Wanken und sie stellt sich die Frage, wer nun wirklich Helden und wer Schurken sind. Denn wo die Linie zwischen "Gut und Böse" schon in Band 1 verschwommen sind, lässt sich hier noch schwerer ausmachen, welche der beiden Seiten - Renegades oder Anarchisten - eigentlich im Recht sind. Wir bemerken immer mehr, dass die Superhelden nicht so glanzvoll, heldenhaft und perfekt sind, wie sie behaupten, während aber auch die Anarchisten nicht so böse, gefährlich und gewalttätig sind, wie allgemein angenommen. Subtil aber auch durch ausdrückliche Diskussionen kommt hier der tiefbrodelnde Konflikt um Verantwortung, Macht und Freiheit zur Sprache und die Ambivalenz der zwei Weltansichten wird immer deutlicher.
"Wenn wir erst die totale Macht innehaben - was sollte und dann davon abhalten, selbst Schurken zu werden?"
Gerade durch die wechselnde Perspektive von Adrian und Nova spielt die Autorin geradezu mit den Blickwinkeln und überlässt dem Leser die Entscheidung, auf welche Seite er sich schlagen will. Die Frage wer denn nur wirklich die Schurken und wer die Helden sind wird natürlich nicht beantwortet, doch ich denke dass sich am Ende herauskristallisiert das es nie wirklich "gute" oder "schlechte" Menschen gibt, sondern wenn dann nur "gute" und "schlechte" Handlungen und auch das nur bedingt. Ob man nun mit guten Absichten schlimme Dinge tut oder mit schlechten Absichten gute Dinge - letztendlich tut jeder das, was er oder sie für richtig hält und diese Handlung kann dann nicht per se bewertet werden, sondern muss in ihrem Kontext und aus ihren Motiven, Begründungen und Folgen heraus betrachtet werden. Ein Held ist also nicht der, der im Sinne der Mehrheit etwas tut, was im System für "gut" angesehen wird, sondern der mit Leidenschaft und Überzeugung das verteidigt, an was ihm etwas liegt.
"Ein ganzes Jahrzehnt hatten die Menschen geglaubt, dass Superhelden stets zur Stelle wären, wenn man sie brauchte. Die Gesellschaft musste endlich begreifen, dass sie den Renegades die absolute Macht gegeben und nichts als leere Versprechungen dafür bekommen hatte."
Marissa Meyers Schreibstil trägt ebenfalls viel dazu bei, dass es im Mittelteil trotz gedrosseltem Tempo und zurückgestellter Action niemals langweilig wird. Sie schreibt flüssig, lässt sich aber viel Zeit für ihre Protagonisten und beschreibt dabei Setting und Geschehen eindringlich, ohne jedoch reißerisch zu sein. Inspiriert ist die Geschichte natürlich von typischen Superheldengeschichten wie X-Men, Avengers, Batman, Superman oder anderen bekannten Geschichten aus dem Comicuniversum von Marvel und DC. Gatlon City erinnert dabei nicht nur vom Namen her an Gotham, sondern ist auch atmosphärisch und demographisch sehr ähnlich aufgestellt. Die Autorin entführt uns hier in eine Großstadt, die durch Gewalt und Verbrechen stark gebeutelt ist und deren Wiederaufbau und Erholung noch immer unter dem Kampf zwischen den Renegades und den Anarchisten leidet. Reichtum und Glanz reiht sich neben Chaos und Armut; Hass und Bewunderung sind die zentralen antithetischen Emotionen, die die Bevölkerung gegenüber den Renegades aufbringen. Immer wieder erhalten wir kurze Eindrücke und Anspielungen auf die Grundbedingungen der Stadt und des Landes, erfahren etwas über das Zeitalter der Anarchie, über den Handel, die Technologie oder den Alltag der Menschen. Doch auch wenn das Setting in seinen Grundzügen an Bekanntes erinnert, haucht Marissa Meyer ihren Schauorten ihre eigene Magie und Lebendigkeit ein und überrascht immer wieder durch originelle Ideen.
"Es gibt so viele Dinge, über die man staunen kann. Wie kann irgendjemand dem schaden wollen? Wie können die Menschen jedoch Morgen aufwachen und nicht denken: Sieh mal, die Sonne ist noch da! Und ich bin auch noch da! Das ist ein Wunder!" (…) Hunderte, Tausende Menschen, die ihr Leben lebten. Tag für Tag. Jahr für Jahr. Generation für Generation. Irgendwie war es den Menschen gelungen, all das aufzubauen. Entgegen aller Widerstände. Irgendwie hatten sie sich durchgesetzt. Und sie machten weiter. Ja, es war tatsächlich ein Wunder."
Sehr schöne Ergänzungen und Details runden das Gesamtbild hier gekonnt ab. Gut gefallen hat mir zum Beispiel die Diskussion um die neue Superwaffe Agent N, mit der abtrünnige Wunderkinder neutralisiert, also in normale Menschen verwandelt werden können. Als der Rat die Patrouillen-Teams damit ausstatten will, stellt sich die Frage, ob damit nicht eine zu starke Machtverschiebung zugunsten der Renegades erfolgen würde und wer überhaupt entscheiden kann, wer das Recht darauf hat, ein Wunderkind zu sein. Ein weiterer netter Aspekt ist, dass Nova auf ihrer Suche nach Ace Anarchos Helm in der Abteilung für Artefakte auf jede Menge spannende magische Gegenstände stößt, deren Geschichten teilweise erzählt werden. Das absolute Highlight an Novas neuer Arbeitsstelle ist jedoch Callum, der unscheinbare, quasselnde Wunderknabe mit einer ganz besonderen Gabe: er kann anderen Menschen die Wunder dieser Welt zeigen. Mit seiner ruhigen Art, seiner Faszination für alte Artefakte, seinen friedvollen Visionen für Gatlon und seiner umwerfenden Superkraft ist er mir schnell ans Herz gewachsen. Wundervoll ist auch Adrians Gabe, mit Hilfe derer ein ganz besonderes Wandbild entwirft - um was es sich handelt, werde ich nicht verraten, lest selbst!
Ein weiterer Punkt zugunsten dessen das Voranschreiten der Handlung ein wenig ausgebremst wird, ist die Beziehung zwischen Nova und Adrian. Spannend ist dabei, dass sich die beiden immer näher kommen, während sich Alias - Nachtmahr und der Wächter - immer erbittertere Feinde werden. Dadurch dass die beiden Protagonisten beginnen, eine sanfte Beziehung aufzubauen, ihre Ideen auszutauschen und zusätzlich noch Alter Egos haben, die nicht auffliegen dürfen, was das Ganze deutlich verkompliziert, kommt schön viel Dynamik in die Geschichte. Auch wenn Nova sich einredet, Adrians Zuneigung für ihr Spionage-Projekt gewinnen zu müssen und Adrian Nova wiederum nicht an sich heranlassen will, da seine Tattoos ihn als den Wächter enttarnen würden, können die beiden ihre gegenseitige Anziehung nicht leugnen und beginnen eine unmögliche Beziehung.
"Adrian schlief noch immer tief und fest. Einen ausgedehnten Moment lang musterte sie sein Gesicht: seine gen, den Schwung seines Kiefers, die Lippen, die nun weniger geheimnisvoll, dafür aber umso verführerischer waren.
"Es tut mir so leid, dass du der Feind bist", flüsterte sie."
Die Autorin nutzt die 544 Seiten also nicht um einen wilden Kampf um Gatlon City darzustellen, Geheimnisse wie die Identitäten von Nachtmahr und dem Wächter zu enttarnen oder den Mörder von Adrians Mutter zu finden, sondern stattdessen um das Setting, die Motive der Renegades und der Anarchisten und ihre Protagonisten liebevoll und detailreich auszuarbeiten und weiterzuentwickeln. Dabei wird klar, dass auch die Superhelden ihre Schwächen haben und Sein und Schein oft nahe beieinander liegt. Von Nova können wir uns eine Scheibe von ihrem ausgeprägten Kampfgeist, ihrem Ehrgeiz, ihrer Stärke und ihrer Entschlossenheit abschneiden, während Adrian uns beibringt, dass jeder ein Held sein kann und wir das sind, was wir tun.
Am Ende überschlagen sich die Ereignisse dann geradezu und ein spannender Showdown läutet den großen Endkampf ein, der uns wohl in Band 3 erwartet. Wann dieser erscheinen wird, ist leider noch unklar, ich freue mich aber auf jeden Fall darauf und hoffe, dass dieser ein wenig spektakulärer und aufschlussreicher verlaufen wird, als dieser Teil.
Fazit:
Rache, Heldentum, Gerechtigkeit und verbotene Liebe - darum geht es im etwas ruhigeren, ereignisärmeren zweiten Teil der Dystopie-Trilogie um die düstere Superhelden-Welt von Gatlon City. Statt Fragen zu beantworten und die Handlung voranzutreiben stellt Marissa Meyer hier die Vertiefung ihrer Welt, die Entwicklung ihrer Protagonisten und den Konflikt um die wankenden Weltbilder in den Vordergrund.