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Veröffentlicht am 06.11.2019

Familie, Karriere und Hass im Netz –viele Themen spannend verwoben.

Fake
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Kurzmeinung:
Fake von Frank Rudkoffsky ist eine wirklich großartige Geschichte. Interessante und authentische Charaktere, viele aktuelle Themen und insgesamt einfach echt gut erzählt. Ich habe jede Seite ...

Kurzmeinung:
Fake von Frank Rudkoffsky ist eine wirklich großartige Geschichte. Interessante und authentische Charaktere, viele aktuelle Themen und insgesamt einfach echt gut erzählt. Ich habe jede Seite dieses Buches genossen und ich kann jetzt schon sagen, dass es eines meiner Jahreshighlights 2019 ist! Einziger kleiner Kritikpunkt: das die Geschichte nicht länger war. Ich hätte gern noch viel länger die Entwicklung von Jan und Sophia verfolgt.

Meine Meinung:
Dieses dünne Büchlein erzählt eine große Geschichte und ich bin wirklich einfach nur begeistert. Ich bin sofort gut in die Geschichte reingekommen und war von Anfang an gefesselt. Die Charaktere werden sehr schön detailliert vorgestellt, so konnte ich mir schnell ein Bild machen. Mit Sophia habe ich sofort mitgelitten. Sie ist hatte eine tolle Karriere, einen Job, den sie gern gemacht hat, hat Vollzeit gearbeitet, ist in ihrer Freizeit mit Freunden ausgegangen. Ihr Leben hat sich radikal, als sie Mutter geworden ist. Man steigt in die Geschichte ein, in dem man Sophia dabei begleitet, sich an diese veränderten Umstände anzupassen. Wie sie den Wechsel von Vollzeitarbeitskraft zu Vollzeitmutter vollzieht und ihr Alltag statt aus Geschäftsmeetings, aus Babygeschrei und Windeln wechseln besteht. Ich finde es total großartig, wie der Autor es hinbekommt, sich so gut in die Perspektive hineinzuversetzen und das dann auch so gut wiederzugeben, dass ich als Leserin gleich mitgenommen wurde. Außerdem hat es mir wirklich gut gefallen, wie die Charaktere und die Dynamiken in den Beziehungen dargestellt werden, dass der Roman fast schon Züge einer Charakterstudie hat, trotzdem aber auch die Handlung nicht zu kurz gekommen ist und auch diese mich gefesselt hat. Auch den Schreibstil mochte ich sehr. Sehr ehrlich, authentisch. Neid, Sarkasmus, Wut, Scham –all das hat seinen Platz in der Geschichte und die Charaktere sind sehr echt, haben Ecken und Kanten und sind kein bisschen stereotyp.

Der zweite Protagonist ist Jan, der als Journalist arbeitet. Sein Leben hat sich durch das gemeinsame Baby weniger radikal verändert, doch nach und nach taucht man auch in seine Gefühlswelt immer weiter ein und lernt seine Probleme kennen. Den Leistungsdruck und die Unsicherheiten im Job, dass schlechte Gewissen, seine Freundin mit dem Kind alleine zu lassen.

Der Perspektivwechsel zwischen diesen beiden Figuren ist absolut gelungen.
Die Dynamik zwischen den Jan und Sophia ist sehr spannend. Die Beziehung ist im ständigen Wechsel. Erst bleibt Sophia mit dem Kind daheim, ist frustriert, erschöpft und macht Jan vorwürfe. Dann ist Jan daheim, muss seine Karriere hinten an stellen und auf Sophia lastet der Druck und die Scham, nicht beiden –Karriere und Familie– gerecht werden zu können. Durch den Stress leben beide eher nebeneinander als wirklich miteinander.

Interessant fand ich auch die Einblicke in die Arbeit als Journalist und den Aspekt, wie verführerisch es sein kann, die Geschichte zu schreiben, die man im Kopf hat, die viele Klicks bringt, statt die, die man wirklich erlebt hat. In Jans Abschnitten musste ich an Relotius denken. Damals konnte ich das überhaupt nicht nachvollziehen. Wie man so was machen kann. Als Journalist so sehr seine Werte und das, wofür man steht, verraten. Den "Lügenpresse" Rufenden Futter geben. Aber Rudkoffsky hat mir Jan und seine Motive so nahe gebracht, hat ihn und sein Handeln für mich nachvollziehbar werden lassen.

Daneben werden in diesem relativ dünnen Buch noch so viel mehr Themen behandelt. Es geht um die Anonymität und den Hass im Netz, darum, wie es ist, in eine andere Rolle schlüpfen zu können. Es geht um Lügen und um Verantwortung. Um Karriere und Familie. Um Liebe. Um #regrettingmotherhood.

Am Ende fand ich es nur schade, dass das Buch so schnell ausgelesen war. Ich hätte noch ewig die Geschichte von Jan und Sophia verfolgen können. Nicht, weil es so eine wohlfühl Geschichte ist, sondern weil es sich so echt und nah anfühlt. So authentisch, als wäre ich mitten in ihrem Wohnzimmer dabei und könnte gebannt beobachten, wie sich die beiden immer weiter in ihre Lügen verstricken, während ich mit einer Packung Popcorn gespannt das Geschehen verfolge. Der Autor hat mir die Figuren so nah gebracht.

Fazit:
Fake von Frank Rudkoffsky ist ein großartiger Roman. Es greift aktuelle Themen auf, hat interessante und authentische Charaktere und ist unglaublich gut geschrieben. Ich habe jede Seite dieses Buches genossen. Es hat mich gepackt und gefesselt und schaudern lassen. Auf jeden Fall eines meiner Jahreshighlights!

Veröffentlicht am 22.12.2018

Großartige Sammlung von Kurzgeschichten!

Die Wahrheit über das Lügen
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Kurzmeinung:
Die Wahrheit über das Lügen von Benedict Wells ist eine wundervolle, abwechslungsreiche Sammlung an Kurzgeschichten. Ich würde das Buch am liebsten gleich noch mal lesen.
Durch die große ...

Kurzmeinung:
Die Wahrheit über das Lügen von Benedict Wells ist eine wundervolle, abwechslungsreiche Sammlung an Kurzgeschichten. Ich würde das Buch am liebsten gleich noch mal lesen.
Durch die große Vielfalt der Geschichten eignet sich dieses Buch auch hervorragend als Geschenk.



Meine Meinung:
Normalerweise bin ich kein Fan von Kurzgeschichte. Wenn ich also sage, dass dieses Buch zu dem Besten gehört, was ich 2018 gelesen habe, dann will das schon was heißen.
Vielleicht werden jetzt einige gleich mit Steinen werfen wollen, aber ich muss sagen: Ich fand Die Wahrheit über das Lügen sogar besser als "Vom Ende der Einsamkeit".
In Die Wahrheit über das Lügen befindet sich ein Sammlung von Texten aus verschiedenen Jahren. Sie umfassen eine große Bandbreite an Stilen und Themen.
Da die einzelnen Geschichten so unterschiedlich sind, werde ich keine Gesamtbewertung über das Buch schreiben, sondern euch zu jeder Geschichte einzeln meine Eindrücke schildern.

Die Wanderung
Eine starke Geschichte, über die ich nach dem Ende noch etwas nachdenken musste, um sie zu verstehen. In einer sehr schönen Metapher werden hier die Jahreszeiten des Lebens dargestellt. Und wie eine kurze Tageswanderung manchmal das halbe Leben dauert.

Das Grundschulheim
Die Geschichte gehört für mich zu den Schwächeren. Es geht um sechs Jungen, die aus verschiedenen Gründen nicht bei ihren Familien leben, sondern gemeinsam im Grundschulheim wohnen. Es werden Alltagsszenen aus den vier Jahren erzählt, die die Jungen gemeinsam dort verbracht haben, bevor sich ihre Wege wieder trennten. Die Geschichte ist nicht schlecht, hat mich aber auch nicht sonderlich begeistern können.

Die Muse
Eine wunderschöne Geschichte über Kreativität und das Schreiben. Einfühlsam, bewegend, manchmal fast schmerzhaft, dann wieder fast träumerisch. Eine Autorin trifft ihre Muse und verliebt sich in ihn. Allerdings beraubt ihr Schreiben ihm seiner Substanz. Und so muss sie sich zwischen ihrer Liebe zur Muse und der Liebe zum Schreiben entscheiden.

Ping Pong
Neben "Das Grundschulheim" die einzige weitere Geschichte aus dem Band, die mir nicht so gut gefallen hat. Zwei Männer finden sich in einem geschlossenen Raum wieder. Sie wissen nicht, wie sie dort hingekommen sind. Allem Anschein nach, wurden sie entführt. Mit ihnen im Raum befindet sich außer einer Toilette nur ein weiterer Gegenstand: Eine Tischtennisplatte. Und so beginnen die beiden Männer zu spielen.
Die Geschichte war nicht sehr spannend, nicht emotional und um ehrlich zu sein habe ich keine Ahnung, was sie bedeuten soll.

Richard
In dieser Geschichte lernen wir eine alte Dame kennen, die auf einer Parkbank wildfremden Menschen von ihrem Kater Richard erzählt. Das Thema –Einsamkeit im Alter– finde ich wirklich tragisch und ich finde es gut, dass Benedict Wells diesem Thema eine Geschichte in dem Sammelband gewidmet hat. Dabei drückt er auch hier nicht auf die Tränendrüse, erzählt ohne große Dramatik von diesen Szenen, die wir alle im Alltag schon mal so erlebt haben oder haben könnten. Und diese ruhigen Szenen verstärken die emotionale Wucht noch, mit der mich die Geschichte getroffen hat.

Die Nacht der Bücher
Diese Geschichte stammt indirekt aus dem Roman "Vom Ende der Einsamkeit". Dort wird an einer Stelle erwähnt, dass Jules eine Geschichte über Bibliotheksbücher schreibt, die in der Weihnachtsnacht zum Leben erwachen und sich unterhalten. Eine wirklich schöne, märchenhafte Geschichte.

Das Franchise oder Die Wahrheit über das Lügen
Die titelgebende Geschichte hat mir unglaublich gut gefallen. Ich bin ein großer Star Wars Fan und diese Geschichte über eine alternative Wirklichkeit, in der der Protagonist eine Zeitreise unternommen hat und George Lukas die Idee für das erfolgreichste Franchise aller Zeiten gestohlen hat, ist wirklich grandios.

Die Fliege
Wow, eine der für mich besten Geschichten aus dem Buch. Ganz ruhig, distanziert, fast schon kühl wird in wenigen Worten die Beziehung zwischen einem Mann mit großen Ambitionen und noch größerem Ego und seiner Frau erzählt, die immer zurückstecken musste. Eine Beziehungskonstellation, die in unserer Gesellschaft (leider) noch sehr verbreitet ist und deren Problematik hier präzise dargestellt wird. Gerade in der Unaufgeregtheit der Erzählung liegt die große Kraft dieser Geschichte.

Die Entstehung der Angst
Diese Geschichte stammt aus "Vom Ende der Einsamkeit", hat es aber aus Gründen, die der Autor gut erklärt, nicht in die endgültige Romanfassung geschafft. Das finde ich doch sehr nett, dass er uns nun trotzdem an dieser Idee teilhaben lässt. Ob man diese Ergänzung zum Roman allerdings wirklich selber lesen möchte, bleibt jeder und jedem selbst überlassen, da es die Sichtweise auf die Protagonisten schon verändern kann. Ich für meinen Teil war sehr froh über die zusätzlichen Informationen.

Hunderttausend
Eine schmerzhafte Geschichte über Verlust, über einen Vater und einen Sohn, die zu viel ungesagt lassen und sich immer weiter voneinander entfernen. Die das beide bereuen, aber nicht aus ihrer Haut können, bis es irgendwann zu spät ist.


Kurzgeschichten Weihnachtsgeschenk Buchtipp Buchempfehlung Inhalt

Fazit:
In Die Wahrheit über das Lügen von Benedict Wells findet ihr eine ausgewogene Mischung aus Kurzgeschichten. Sie haben verschiedenen Stile, verschieden Themen. Aber eins ist den Geschichten gemein: sie können unterhalten, sie gehen ans Herz und bringen einen zum Nachdenken. Und sie sind einfach verdammt gut geschrieben. Es ist schon eine Kunst, wie Benedict Wells es schafft, dass einen die Geschichten so schnell in ihren Bann ziehen und einem die Charaktere in nur wenigen Zeilen so ans Herz wachsen. Zwar konnten mich nicht alle Geschichten überzeuge, aber die meisten waren dafür so großartig, dass sie das mehr als wieder gutgemacht haben. Große Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 13.12.2018

Eine schockierende und bewegende Geschichte

Befreit
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Kurzmeinung:
Ein Buch, das mich aus verschiedenen Gründen beim Lesen unglaublich wütend gemacht hat. Insgesamt habe ich mit diesem Buch eine emotionale Berg- und Talfahrt erlebt –von Trauer und Wut bis ...

Kurzmeinung:
Ein Buch, das mich aus verschiedenen Gründen beim Lesen unglaublich wütend gemacht hat. Insgesamt habe ich mit diesem Buch eine emotionale Berg- und Talfahrt erlebt –von Trauer und Wut bis Freude und Stolz war alles dabei. Taras Geschichte hat mich von der ersten Seite an gefesselt und obwohl es mich emotional so mitgenommen hat, konnte ich doch keine Pause einlegen, weil ich einfach immer wissen musste, wie es mit ihr und ihrer Familie weitergeht.
Eine Geschichte, die schockiert, die ans Herz geht, die einem beim Lesen viel abverlangt, die aber irgendwie auch Mut macht.


Meine Meinung:
Dieses Buch hat mich aus verschiedenen Gründen beim Lesen unglaublich wütend gemacht hat. Einerseits hat mich Taras Familie so wütend gemacht. Da ist ihr Vater, der ihr Bildung verweigert und ein Weltbild aufzwingt, welches geprägt ist von Verschwörungstheorien und Verfolgungswahn. Ein Vater, der ihr vermittelt, dass sie niemandem trauen kann und alle anderen Menschen ihre Feinde sind. Ein Vater, der, obwohl er sie nicht aktiv misshandelt, sie so großen Gefahren aussetzt, dass es schon Kindeswohlgefährdung darstellt. Von Klein auf muss Tara auf dem Schrottplatz der Familie mitarbeiten, schwere körperliche Arbeit leisten und sich immer wieder in Gefahr bringen.
Dann ist da noch ihre Mutter, die ihr kein weibliches Vorbild ist, sondern sich immer den Wünschen des dominanten Vaters beugt; die nie für ihre Tochter einsteht. Eine Mutter, die selbst bei schwersten Verletzungen nicht der Schulmedizin vertraut und dadurch mehrmals das Leben ihrer Kinder gefährdet.
Und dann ist da noch Taras älterer Bruder Shawn, der mich am wütendsten gemacht hat. Er misshandelt seine kleine Schwester sowohl psychisch als auch körperlich. Trichtert ihr immer wieder ein, dass sie nichts wert sei, eine Hure sei. Unvorstellbar, was das mit der Psyche eines jungen, heranwachsenden Mädchens macht. Und umso erstaunlicher, dass Tara Westover es dennoch geschafft hat, sich davon zu befreien.

Auf der anderen Seite war ich aber teilweise auch wütend über Tara. Kaum hat sie einige kleine Fortschritte gemacht und sich etwas von ihrer Familie und deren manipulativem, fanatischem Weltbild gelöst, macht sie wieder tausend Schritte zurück und begibt sich wieder in den Einflussbereich ihres Vaters, lässt sich in alte Gedanken- und Verhaltensmuster zurückziehen und sich von ihrem Bruder misshandeln. Natürlich ist meine Wut auf sie überhaupt nicht gerechtfertigt. Wie unglaublich schwierig muss es sein, sich von so einer Gedankenwelt zu distanzieren, die dir Jahrelang als die einzig Wahre eingeprägt wurde –fast schon mit Methoden von Indoktrination. Und trotzdem habe ich es beim Lesen eben manchmal so empfunden, weil Tara mir einfach so leid tat und ich es nur schwer ertragen konnte, sie wieder in dieses Umfeld des Missbrauchs zurückkehren zu sehen, nachdem sie doch gerade erst zarte Fortschritte gemacht hatte.
Aber genau das ist eben auch die große Stärke des Buches. Das der/die Leser*in tatsächlich mitverfolgen kann, wie unglaublich schwer der Prozess des Loslösend von der eigenen Familie ist und von den Werten und dem Weltbild, mit dem man aufgewachsen ist. Diese innere Zerrissenheit, der innere Kampf von Tara wurde sehr deutlich.

"Es ist merkwürdig, wie viel Macht über dich du den Menschen gibst, die du liebst." (Aus Befreit, S. 278)

Der Teil, in dem die Bildung ihr dann tatsächlich die Welt erschlossen hat, hat dann gar nicht mehr so großen Raum in der Geschichte eingenommen, war aber trotzdem sehr interessant. Und der Weg, den sie (trotz oder wegen) ihrer Kindheit und den widrigen Umständen, unter denen sie aufgewachsen ist, geht, ist sehr beeindruckend.

"Die Fertigkeit, die ich mir aneignete, was wesentlich: die Geduld, Dinge zu lesen, die ich noch nicht verstand." (Aus Befreit, S. 98)



Fazit:
Insgesamt habe ich mit diesem Buch eine emotionale Berg- und Talfahrt erlebt –von Trauer und Wut bis Freude und Stolz war alles dabei. Taras Geschichte hat mich von der ersten Seite an gefesselt und obwohl es mich emotional so mitgenommen hat, konnte ich doch keine Pause einlegen, weil ich einfach immer wissen musste, wie es mit ihr und ihrer Familie weitergeht.
Ich könnte noch ewig weiter über dieses Buch schreiben. So sehr hat mich das Buch bewegt, so sehr haben mich die Themen erschüttert und Gedanken nicht mehr losgelassen. Aber das würde hier glaube ich den Rahmen sprengen und deswegen sage ich lieber: lest dieses Buch am besten einfach selbst.

Veröffentlicht am 04.11.2018

Großartige Dystopie über Selbstoptimierung und die Leistungsgesellschaft

Die Hochhausspringerin
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Kurzmeinung:
Ein wirklich starkes Debüt, das mich sehr beeindruckt hat. Julia von Lucadou erschafft eine Zukunftsversion unserer Gesellschaft, bei der es mich schaudern lässt, die aber gleichzeitig erschreckend ...

Kurzmeinung:
Ein wirklich starkes Debüt, das mich sehr beeindruckt hat. Julia von Lucadou erschafft eine Zukunftsversion unserer Gesellschaft, bei der es mich schaudern lässt, die aber gleichzeitig erschreckend realistisch erscheint. Sie wirft wichtige Fragen über den Leistungsdruck in unserer Gesellschaft, über Selbstoptimierung und Überwachung auf. Das ganze veranschaulicht sie gekonnt an der Gegenüberstellung zweier sehr interessanter Frauenfiguren, die sich gut kontrastieren. Eine Geschichte, die es sich zu lesen lohnt!

Meine Meinung:
Mit "Die Hochhausspringerin" erschafft von Lucadou eine erschreckend realistische Dystopie, in der die Leistungsgesellschaft absolut auf die Spitze getrieben wurde. In einer Welt, in der man nur so viel Wert ist, wie man leistet, darf man keine schlechten Tage haben. Denn Credits, Wohnort, Aufenthaltserlaubnis –wirklich alles hängt von der eigenen Leistung ab.
Wenn man manche aktuellen Entwicklungen weiterdenkt, könnte eine zukünftige Gesellschaft tatsächlich so aussehen. Alles was zählt ist Produktivität und wie viel Leistung ein Mensch bringt
In dieser Welt treffen zwei sehr unterschiedliche Frauen aufeinander. Hitomi, die hart arbeitet, um ganz nach oben zu kommen. Und Riva, die dort schon angekommen ist und riskiert, alles zu verlieren, weil sie nicht mehr "funktioniert".

Was mich sehr schüttert hat, sind die Werte in dieser Welt. Wirklich alles dreht sich um die Leistungsfähigkeit der Menschen. Zum Beispiel soll eine Affäre nicht etwa beendet werden, weil es moralisch fragwürdig ist und die Partnerin oder der Partner emotional darunter leiden könnte. Nein, sondern weil das Ende einer Partnerschaft schlecht für die Produktivität ist. Das ist wirklich ziemlich zynisch, finde ich.
In dieser Welt ist es auch nicht per se schlimm, wenn es einem Menschen schlecht geht. Es ist nur seine Leistungsfähigkeit sinkt. Es geht nicht darum zu heilen, sondern nur darum Funktionalität wieder herzustellen.


Zwei interessante Frauenfiguren: Riva und Hitomi

Genau so ein Fall ist Riva. Sie war erfolgreiche Hochhausspringerin, hatte es aus den "Slums" –den sogenannten Peripherien– bis in den elitären Stadtkern geschafft. Doch von heute auf morgen schmeißt sie plötzlich alles hin, riskiert ihren ganzen Status. Und das ohne ersichtlichen Grund. Deswegen wird Hitomi engagiert. Die Psychologin soll herausfinden, was mit Riva los ist und sie wieder dazu bringen, zu funktionieren.
Für Hitomi hängt viel an diesem Auftrag. Sollte sie nicht die gewünschten Erfolge erzielen, wird auch sie alles verlieren und muss zurück in die Peripherie, wo sie ein Leben im Elend erwartet.

Die Geschichte wird also angetrieben von zwei sehr starken Spannungsbögen:
Einerseits möchte man herausfinden, was mit Riva los ist. Was Auslöser für ihren plötzlichen Sinneswandel ist. Andererseits nimmt man großen Anteil an Hitomis Schicksal und was aus ihr wird.

Der Kontrast zwischen diesen beiden Frauenfiguren hat mir sehr gut gefallen. Hitomi, die gerade dabei ist, sich hochzuarbeiten und Angst hat alles zu verlieren. Und Riva, die auf dem Höhepunkt ihres großen Erfolges bereitwillig alles wegschmeißt, was sie sich aufgebaut hat.
Ich hatte beim Lesen richtig Herzklopfen, so sehr habe ich den Erfolgsdruck gespürt, unter dem Hitomi steht. In dieser Welt steht und fällt alles mit der Leistung.

Je mehr ich in diesem Buch gelesen habe, desto mehr hat sich das unangenehme Gefühl verstärkt, das ich gegenüber dieser dystopischen Welt empfunden habe. Dass der Wert eines Menschen ausschließlich an seiner Leistung bemessen wird.


Psychologisch interessant: Heilung, Optimierung und Produktivität

Auch wegen meines Studiums beschäftigt mich die Frage sehr, wie man mit Menschen in Krisensituationen oder mit psychischen Belastungen umgeht. Was steht im Vordergrund? Die Heilung des Patienten um des Patienten willens, oder die Wiederherstellung seiner Produktivität? Ist das überhaupt deutlich zu trennen?
In dem Roman ist die Antwort scheinbar einfach. Riva soll wieder funktionieren. Was ihr fehlt, oder was der Auslöser war, ist eigentlich egal. Hauptsache, sie springt wieder und die Sponsoren bekommen ihr Geld durch die Werbeeinnahmen.
Versteckt wird das alles aber sehr geschickt unter dem Deckmantel der Sorge um die Gesundheit der Menschen. Man will ja schließlich nur das Beste für die Menschen. Ihre psychische und physische Gesundheit stärken. Das dadurch auch die Produktivität steigt? Purer Zufall.
Für mich hat von Lucadou hier sehr geschickt der Gesellschaft den Spiegel vorgehalten. Schaut man sich den aktuellen Trend des "Selbstoptimierungswahn" an, sind da solche Tendenzen schon zu erkennen, finde ich. Schnell noch eine Achtsamkeitsmeditation in den vollen Terminplan einschieben. Nicht, weil man es wirklich will und das dem eigenen Lebensstil entspricht, sondern weil man sich dadurch positive Outcomes verspricht. Oder in der dystopischen Welt der Hochhausspringerin: weil man es machen muss, um seine Credits zu erhöhen und seinen Status aufrechtzuerhalten. Dass das dem zugrundeliegenden Konzept von Achtsamkeit komplett widerspricht, ist dabei egal.
Das sind für mich persönlich total spanende Fragen. Kann etwas prinzipiell Gutes, wie Achtsamkeit und Meditation auch seine positive Wirkung verlieren, wenn man es aus den falschen Gründen macht?


Ein zweiter spannender Aspekt war für mich die totale Überwachung, die in dieser zukünftigen Welt stattfindet. In der Geschichte findet eine fast vollständige Überwachung der Menschen statt. Überall sind Kameras, man wird über Handy und Tablet immer geortet, die Fitnesstracker liefern weitere Daten zu Schlaf und Ess- und Trinkgewohnheiten. So wird jeder Einzelne zum gläsernen Menschen. Doch in dem Buch gibt es keinen per se "bösen" Staat mit bösen Absichten, der die Daten ausnutzt, um Macht auszuüben und Angst und Schrecken zu verbreiten. Es geschieht ja alles unter dem Deckmantel der Fürsorge für die Bewohner. Es geht um die "Optimierung" der Menschen. Ein hehres Ziel? Und gerade weil diese Böswilligkeit fehlt, macht es für mich die Situation irgendwie noch unangenehmer, weil ich kein richtiges Feindbild hatte, keinen klaren Gegner, kein schwarz-weiß.
Diese technische Überwachung lieferte für mich auf jeden Fall einen zweiten, reizvollen Blick auf das vorherrschende Thema der "Optimierung des Menschen" und die Erhöhung seiner Leistungsfähigkeit.


>>"Macht es dich nicht wütend, dass wir nichts selbst entscheiden können?" "Sie versuchen ja nur, unser Potenzial zu erkennen und uns zu fördern. Du kannst ja immer noch nein sagen." "Wen kennst du, der schon mal nein gesagt hat?"<<


Fazit:
Die Hochhausspringerin von Julia von Lucadou ist ein absolut gelungenes Debüt, das uns in eine erschreckende Zukunftswelt entführt und damit spannende Fragen auch für die heutige Gesellschaft stellt. Wie wichtig ist uns der Mensch, wie wichtig seine Leistung. Wie weit wollen wir gehen, in den Bereichen Selbstoptimierung und Tracking?
Das alles wird sehr spannend und anschaulich verpackt in eine Geschichte, die um zwei interessante Frauenfiguren kreist, die sich wunderbar kontrastieren und ergänzen.

Veröffentlicht am 03.10.2018

Großartiges Buch. Absolute Empfehlung!

Altes Land
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Kurzmeinung:
Ein großartiges Buch. In wunderschöner Sprache erzählt die Autorin manchmal mit ironischem aber stets liebevollem Blick von Figuren mit Ecken und Kanten. Vom Leben im Alten Land, von Bioäpfeln, ...

Kurzmeinung:
Ein großartiges Buch. In wunderschöner Sprache erzählt die Autorin manchmal mit ironischem aber stets liebevollem Blick von Figuren mit Ecken und Kanten. Vom Leben im Alten Land, von Bioäpfeln, Marmeladekochen, aber auch von Krieg und Flucht. Und von Müttern und Töchtern.
Absolute Leseempfehlung!


Meine Meinung:
Die Geschichte und vor allem die großartige Sprache der Autorin konnten mich absolut begeistern. Dörte Hansen findet tolle Bilder für innere Vorgänge und schreibt mit vielen Metaphern. Dennoch ist der Text überhaupt nicht anstrengend zu lesen. Die eingestreuten Sätze auf plattdeutsch haben mir unglaublich gut gefallen und viel zur authentischen Atmosphäre des Buches beigetragen.
Mit einem kritischen Blick beschreibt die Autorin manchmal fast bissig, aber immer auch mit einer gewissen Wärme und Zärtlichkeit neurotische Städter, hektische Helikoptereltern, blauäugige Möchtegernbauern und drei Generationen starker Frauen.
Dörte Hansen hat ein unglaublich gutes Auge für Beobachtungen und kann diese dann auch noch wunderbar in Worte fassen. Man spürt in jeder Zeile ihre Liebe für diese Geschichte, für die Gegend und die Bewohner, was sie aber nicht davon abhält, auch sehr streng mit ihnen ins Gericht zu gehen.
Die Charaktere sind alle toll beschrieben, haben Ecken und Kanten. Und auch die Beziehungen gestalten sich sehr interessant. Die Charaktere sind dynamisch und machen im Laufe des Buches eine Entwicklung durch. Das passiert aber langsam und allmählich und ist steht absolut glaubhaft und nachvollziehbar.
Beeindruckt hat mich auch die Fähigkeit der Autorin, durchaus auch tragische Themen zu bearbeiten, etwa die Flucht und die Vertreibung, erfrorene Kinder, die im Krieg gefallenen und die, die zurückkehrten, aber nicht mehr die selben waren, wie vorher. All das fängt die Autorin sehr gut ein und schreibt darüber berührend, aber ohne übertriebene Rührseligkeit. Die Schlichtheit der Worte lässt die Dinge für mich um so ergreifender wirken.


Fazit:
Altes Land von Dörte Hansen ist einfach ein großartiges Buch und eine absolute Leseempfehlung. Die schöne Sprache, die interessanten Charaktere und der strenge, aber liebevolle Blick auf das Geschehen konnten mich absolut begeistern.
Ich freue mich schon sehr auf das neue Buch der Autorin.