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Veröffentlicht am 11.07.2019

Die Jagd des Kraken

Die Stille des Todes
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Immer wenn Inspector Unai Lopez de Ayala, genannt Kraken, einen Tatort betritt und vor einem Mordopfer steht, beginnt er seine Arbeit mit einem stummen Ritual. „Hier endet deine Jagd, hier beginnt die ...

Immer wenn Inspector Unai Lopez de Ayala, genannt Kraken, einen Tatort betritt und vor einem Mordopfer steht, beginnt er seine Arbeit mit einem stummen Ritual. „Hier endet deine Jagd, hier beginnt die meine.“ Ein prägnanter Satz, der keine Zweifel offenlässt, dass ab nun die Dinge anders laufen werden. Die Zeit des Täters ist vorüber, die Zeit des Ermittlers ist angebrochen. Als Ayala jedoch vor zwei Opfern steht, eine Konstellation, die ihm überaus vertraut ist, aus einem zwanzig Jahre zurück liegenden grausamen Fall, ist er genau wie die gesamte baskische Provinzhauptstadt Vitoria-Gasteiz in Alarmbereitschaft. Zwei Opfer, immer in einem bestimmten Alter, nackt, abgelegt an für die Stadtgeschichte wichtigen Orten, in einer inszenierten Pose. Die Hintergründe und die Bedeutung – völlig unklar. Der Täter wurde damals verhaftet, tragischerweise von seinem eigenen Zwillingsbruder und sitzt seither in Haft, die er jedoch in Kürze für einen ersten Freigang verlassen wird. Steuert er aus dem Gefängnis sein „Comeback“? Gibt es einen Nachahmungstäter? Wer steckt hinter dem Twitter-Account, der offensichtlich als Informationskanal dienen soll und Hinweise an die Polizei liefert? Ayala und seine Kollegin Estibaliz Ruiz de Gauna beginnen mit der Analyse des aktuellen Falles und der Sichtung alter Unterlagen, beschäftigen sich mit mystischen Orten und Pflanzen, alten Freunden und Familiengeheimnissen um dem Täter auf die Spur zu kommen. Immer dringender wird die Suche nach dem Täter, als weitere Opfer abgelegt werden, und die ersten bekannten Gesichter aus dem Umfeld der Ermittler darunter auftauchen bzw. das Umfeld zur Risikogruppe Nr.1 zu zählen beginnt…Der Täter scheint über alles äußerst gut Bescheid zu wissen und macht sich die manchmal unübersichtliche Lage während der Feierlichkeiten der Fiestas de la Virgen Blanca durchaus zu nutze. Wie häufig, muss Ayala tief in der Vergangenheit und lange gehüteten Geheimnissen kramen, um der Wahrheit näher zu kommen, fast einen Schritt zu nahe, als das die Geschichte gut ausgehen könnte.
Ich finde es immer wieder spannend, wie sich innerhalb des Genres Thriller dann doch die Provenienz des Autors im Stil niederschlägt. Würde man alle Namen austauschen, man käme doch schwerlich auf die Idee einen skandinavischen oder angloamerikanischen Autor zu lese, nicht mal einen französischen. Irgendwie schaffen es die Autoren oft doch, ihren ganz besonderen regionalen Stempel mit in die Handlung zu legen, auch wenn natürlich vieles, was man hier liest nicht neu ist. Inszenierte Tatorte, Familiengeheimnisse um Identitäten, Verbindung zu alten Mordserien, Kommunikation mit dem (oft vermeintlichen) Täter der alten Fälle und doch: fühlt sich bei Eva Garcia Saenz irgendwie neu und frisch an. Für mich hat dazu vor allem der Erzählstil beigetragen, nicht nur aus der Perspektive Ayalas und in der ersten Person verfasst, sondern mit einer sehr direkten Ansprache des Lesers. Das hat mich von den ersten Seiten an an das Buch gefesselt, vor allem da man zu Beginn irgendwie nicht so genau weiß, in welchem Zustand er denn wohl sein könnte. Die aktuelle Handlung wird in der Rückschau nach Abschluss der Ermittlungen von Ayala geschildert, Einschübe berichten von Vorkommnissen in Vittoria vor 45-30 Jahren und machen das Gesamtbild stimmig.
Dieses stimmige Gesamtbild wird noch dadurch gestützt, dass so ganz nebenbei es auch einen kleinen Crash-Kurs in baskischer Kultur und Tradition gibt, und vor allem: baskische oder alavesische Namen… das ist tatsächlich anfangs ein wenig holprig und man muss sich ein wenig einlesen, aber dann geht es. In jedem Fall macht dieser erste Band einer geplanten Trilogie neugierig auf die Folgebände, die hoffentlich genau so viel Spannung und Unterhaltung bieten werden wie der Erste.

Veröffentlicht am 03.07.2019

Spitzen-Thriller

R.I.P.
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Yrsa Sigurdadottir kann es einfach. Die isländische Autorin hat sich bei mir mit ihren Thrillern um den Ermittler Huldar und die Psychologin Freyja mittlerweile zu einer Lieblingsautorin des Genres entwickelt. ...

Yrsa Sigurdadottir kann es einfach. Die isländische Autorin hat sich bei mir mit ihren Thrillern um den Ermittler Huldar und die Psychologin Freyja mittlerweile zu einer Lieblingsautorin des Genres entwickelt. Der dritte Fall „R.I.P.“ der Reihe steht den beiden Vorgängern in nichts nach: wieder geschehen äußerst grausame Morde, dokumentiert und verbreitet über kurze Videosequenzen, „Snaps“, des Social Media-Netzwerks Snapchat. Die Opfer sind Jugendliche, so dass die Kriminalpolizei auch diesmal wieder im Kinderhaus Reykjavik um fachliche Unterstützung bittet – was natürlich auch ganz im persönlichen Interesse von Huldar liegt, der seine Beziehung mit Freyja gerne nach dem vollkommen missglückten Start endlich auf eine etwas andere Ebene führen würde. Irgendwann wird klar, die Morde haben etwas mit Mobbing zu tun – und: es handelt sich um eine Serie. Bei den Opfern werden Zahlen gefunden, wer steht noch auf der Liste des Killers? Wer hat die Polizeidienstelle telefonisch auf einen Fall hingewiesen, der nicht auffindbar ist? Wie weit gehen die Mobber? Was müssen sich Mobbing-Opfer gefallen lassen, wer steht für sie ein – kumulierend in der für alle zutreffenden Frage – Wer ist bereit, wie weit zu gehen?

Jeder weitere Bezug zum Inhalt verbietet sich, will man nicht Gefahr laufen, ernsthafte Spoiler miteinzubauen. Jedem Freund von Thrillern der etwas härteren Gangart hat die Autorin wieder ein Lesehighlight beschert. Der Spannungsaufbau ist grandios, das Springen zwischen den Schauplätzen und Akteuren, sorgt immer und immer wieder dafür, dass man noch ein Kapitel und noch ein Kapitel mehr liest, um zu erfahren, wie es wo weiter gehen wird. Die Thematik ist aktuell, brisant und glaubwürdig dargestellt, genau wie die Gefühlswelt der Betroffenen, finde ich. Die Verbrechen sind brutal, ein wenig Abscheu und Nervenkitzel gehört aber ja auch irgendwo dazu, wenn ich einen Thriller lese. Und der letzte Satz des Buches – grandios bzw. liest man den nachts, steht man vielleicht auch noch mal auf und schaltet nicht das Licht direkt aus.
Das Buch ist zwar Teil 3 der Reihe, funktioniert aber genauso gut, wenn man es ohne Kenntnis der Vorgänger liest, einzig die Gesamtheit der Animositäten im Kommissariat zwischen Huldar und allen anderen im Allgemeinen und Erla im Speziellen erfasst man vielleicht nicht so ganz, aber das tut dem Ganzen nun wirklich keinen Abbruch. Verfolgt man die Reihe insgesamt, nimmt man natürlich an diesem Drumherum ein bisschen mehr Anteil – und ich schätze das auch. Solange es nicht vollkommen in den Vordergrund rückt, finde ich die Tatsache, dass man Kommissare, Psychologen oder wen auch immer auch neben ihrer Tätigkeit als Privatmenschen mit Problemen und Beziehungen darstellt, einen realistischen Gewinn für das Gesamtwerk (mit anderen Worten: „Huldar gib, nicht auf, ich glaub an dich und Freyja !“).

Fazit: Thriller-Highlight 2019 bisher, absolut empfehlenswert, nichts für zimperliche Gemüter, wer die Autorin noch nicht kennt, sollte sie schleunigst für sich entdecken!

Veröffentlicht am 12.06.2019

Ein besonderer, ein anderer Krimi

All die unbewohnten Zimmer
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Kriminalkommissariat 111 in München. Die Abteilung steht kurz davor, einen Fall abzuschließen, bei dem eine Frau durch einen Schuss getötet und ein Polizist verletzt wurde, als der oberste Dienstherr den ...

Kriminalkommissariat 111 in München. Die Abteilung steht kurz davor, einen Fall abzuschließen, bei dem eine Frau durch einen Schuss getötet und ein Polizist verletzt wurde, als der oberste Dienstherr den nächsten Fall präsentiert: wieder wurde ein Polizist zum Opfer, erschlagen am Rande einer Demonstration. Das Besondere: Eigentlich war die Abteilung 112 zuständig, doch nun wurde entschieden, weiter ermittelt wird durch das Kommissariat unter Polonius Fischer, dem ehemaligen Mönch mit der besonderen Verhörtechnik. Insbesondere eine merkwürdige Situation für Kommissarin Nasri, die erst seit kurzem nach ihrer Versetzung nach Fürstenfeldbruck wieder zurück in die bayrische Landeshauptstadt gekommen ist und zuvor bei den 112ern war… Deren emeritierter Chef Jakob Franck ist dem Kommissariat nach wie vor lose verbunden, als Berater, helfende Hand, Überbringer schlechter Neuigkeiten. Als dann auch noch der ungewöhnliche Detektiv Tabor Süden, ehemaliger Polizist und Spezialist im Auffinden verschwundener Personen, so gut, dass er den Verschwundenen ihren Schatten zurück zu geben vermag, im Polizeipräsidium auftaucht, da er weiß, wen er just an diesem Tage dort antreffen wird, ist klar, dass hier viele Fäden gewoben wurden, dieser Fall ein besonderer ist, und dass nicht nur, weil ein Kollege betroffen ist.
Nicht streng chronologisch, aus vielen Perspektiven, in der ersten Person und in der dritten beginnt Ani ein dichtes Netz zu spinnen, um Ermittler, Zeugen, Täter und Opfer. Er beleuchtet ihre Vergangenheit, ihre Beziehungen, ihre Probleme mit sich, mit anderen, mit dem Zeitgeist, den Institutionen. Die Lösung der Umstände um den Tod des Polizisten gehört selbstverständlich ebenfalls zur Handlung. Sowohl sprachlich als auch inhaltlich bespielt Ani diesen Kriminalroman auf einem hohen Niveau und mit einem gewissen Anspruch.
Man möge es mir verzeihen, aber für einen eingefleischten Krimifan ist das vielleicht alles nichts. Die Lösung des Falls rückt hier in diesem Kriminalroman berechtigterweise in meinen Augen etwas in den Hintergrund zugunsten der Besonderheit, die der Autor bei der Konstruktion des Werks gewählt hat. Denn Ani versammelt seine Protagonisten. Allen schreibt er eine Rolle in diesem Roman zu, und lange habe ich mich gefragt, warum. Erwartet hatte ich, dass ich sozusagen vier Genies, vier Menschen mit einer jeweils einzigartigen kriminalistischen Begabung präsentiert bekomme, die „Helden“ ihrer jeweiligen, seit langen Jahren etablierten Buch-Reihen des Autors. Aber das wäre viel zu glatt, zu unrealistisch, zu anspruchslos. Was der Leser präsentiert bekommt, sind vier Menschen. Jeder anders, mit einer anderen Vorgehensweise, mit einer etwas anderen Art der Interpretation seines Berufsbildes. Die vier arbeiten nicht in einem Kollektiv bei der Lösung dieses Falls zusammen, sondern sind wie sich im Raum bewegende Teilchen, die manchmal eine Bewegungsbahn teilen, sich manchmal berühren und oft nicht und doch tragen alle ihren Teil dazu bei, dass diese Geschichte rund wird – und irgendwie anders ist. Schwer, ein bisschen schwermütig, desillusionierend, tragisch. Denn was für mich als der vorherrschende Eindruck am Ende bleibt, sind tatsächlich wie es der Klappentext sagt, Abgründe. Menschen am Rande des Abgrunds, mitten im Berufsleben oder kurz vor der Pensionierung, aber einfach vollkommen „durch“. Fertig mit der Welt, an der Grenze zum Suchtverhalten (fragt sich auf welcher Seite dieser schmalen Linie), suizidgefährdet, ausgebrannt. Und das ist furchtbar. Großartige Persönlichkeiten, helle Köpfe und verloren in dieser Welt, an diese Welt.
Vielleicht kann man deshalb auch nach der Lektüre nicht leichten Herzens das Buch zuklappen und sagen, „hat mir gefallen“ ohne weiter darüber nachzudenken – oder sollte es zumindest nicht. „All die unbewohnten Zimmer“ liest sich nicht leicht, wie ein Feld-Wald-Wiesen-Krimi, man muss schon ein bisschen mitdenken. Nicht über die Lösung des Falls, die aber tatsächlich auch nicht offensichtlich ist, sondern sich erst stückchenweise für den Leser klärt, sondern über Menschen, Umgang mit Menschen, das Zusammenleben in Häusern, Straßen, Städten, über Menschen, die anderen schlimme Nachrichten überbringen, die Kriminalfälle lösen, die Flaschen sammeln, die ihren Bruder an die Hand nehmen, die vor Friedhöfen stehen, weil jeder von ihnen eine Geschichte hat, die sein Denken und Handeln bestimmt – und dann kann man sagen „hat mir gefallen“ (oder natürlich auch nicht). Mir hat es gefallen, hat es sogar sehr.

Veröffentlicht am 27.05.2019

New Life in New York

Eine eigene Zukunft
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Emilio Arenas aus Malaga hält es nie lange bei seiner Familie in Andalusien. Immer wieder zieht es ihn hinaus in die Welt, immer kehrt er wieder, ist kurze Zeit Teil der Familie, zeugt ein Kind, um dann ...

Emilio Arenas aus Malaga hält es nie lange bei seiner Familie in Andalusien. Immer wieder zieht es ihn hinaus in die Welt, immer kehrt er wieder, ist kurze Zeit Teil der Familie, zeugt ein Kind, um dann wieder an der Pier zu stehen, auf in den nächsten weit entfernten Winkel der Welt. Zurück bleiben seine Frau Remedios und irgendwann drei Töchter.
Auf sich alleine gestellt, aber Teil der spanischen weiblichen Gemeinschaft aus Müttern und Schwiegermüttern, Nachbarinnen und Cousinen. Anfang der 1930er Jahre fasst er schließlich in New York Fuß, die spanische Gemeinde rund um die Cherry Street in Midtown Manhattan wird tatsächlich so etwas wie ein Zuhause. 1936 bucht er Schiffspassagen für seine Frau und seine drei mittlerweile fast erwachsenen Töchter Victoria, Mona und Luz. Er übernimmt ein einfaches spanisches Lokal, „El capitan“, das Grundlage für das zukünftige Leben der Familie sein soll. Seine drei Töchter sind alles andere als begeistert von dem neuen Leben in Amerika, Ziel ist es, so schnell wie möglich wieder zurück in die spanische Heimat zu reisen, insbesondere als Emilio einem Unfall zum Opfer fällt.
Doch dann kommt alles anders: plötzlich sind sie Teil eines Schadensersatzverfahrens bedingt durch den Tod des Vaters, das ihnen plötzlich große finanzielle Möglichkeiten verspricht. Doch wollen sich dubiose Anwälte ihre unglückliche Lage zu Nutze machen. Außerdem müssen die drei überlegen, wie sie künftig für den Unterhalt sorgen. Einerseits wollen sie nicht Fuß fassen in der neuen Welt, andererseits sind sie gezwungen, ihr Leben in die Hand zu nehmen, und plötzlich entstehen Träume und Wünsche, Pläne und Verbindungen. So stark der familiäre Zusammenhalt der drei Schwestern ist, so unterschiedlich sind sie in ihren Charakterausprägungen. Mona, die mittlere ist eindeutig die überlegteste, analytischste der drei, sie entwickelt quasi den Businessplan für den neuen „capitan“ : für die Töchter des Kapitäns „Las hijas de capitan“ wie das neue Lokal heißen soll, ein Nachtklub mit Gesang und Tanz, Flamenco und coplas. Luz lebt für die Musik, das Schauspiel und es dauert nicht lange, bis andere auf ihr Talent aufmerksam werden, ihr vieles versprechen, doch wenig für sie tun. Victoria ist mir immer ein wenig passiv vorgekommen. Sie fügt sich, sie hilft, steht auch meist der Mutter zur Seite – und geht schließlich den ersten Schritt der drei, in dem sie eine Ehe eingeht. Das ist das Ziel der Mutter für alle drei: möglichst schnell einen Mann finden, ebenfalls Spanier und dann zurück nach Andalusien. Die Idee, einen Nachtklub aus dem capitan zu machen, für sie ein Ding der Unmöglichkeit. Doch mit der Zeit bemerken die Töchter das auch irgendwann, dass sie ihre „eigene Zukunft“ bauen müssen und die scheint dann doch in Amerika zu liegen, an der Seite selbst gewählter Männer und selbst gewählter beruflicher Zukunften.

Maria Duenas hat einfach ein Händchen – oder ein Herzchen? – für wundervolle Figuren, starke Persönlichkeiten und ein Gespür für Familien – und Gesellschaftsstrukturen. Ein bisschen Sozialgeschichte, ein bisschen Politik, so wie im richtigen Leben greift alles ineinander. Umfeld und Umwelt sind untrennbar mit dem Denken und Handeln der Protagonisten verknüpft. Wie schon in ihrem Roman „Wenn ich jetzt nicht gehe“ fallen insbesondere wieder die unglaublich guten Schilderungen von Orten, Atmosphäre und Menschen auf. Man erlebt das quirlige Manhattan, die spanischen Nachbarn, die aufeinander einbrüllenden Schwestern, die zänkische Dona Maxima und die verliebten, gut angezogenen männlichen Nebencharaktere so hautnah, als sähe man sie auf einer Leinwand vor sich. Dadurch entsteht für mich ein unheimlich großer Lesegenuss, der auch dieses Mal wieder aufgefangen wird von einer wirklich ebenso spannenden Handlung, denn die Schwestern erleben so einiges, bevor klar ist, das sie in Amerika wirklich angekommen sind, wie und mit wem sie ihr Leben fortan bestreiten werden.

Fazit: Maria Duenas ist eine große Erzählerin. Ich hoffe sie findet noch viele zeitgenössische oder historische Schauplätze für ihre Ideen. Auch hier erzählt sie eine einfach runde, lesenswerte Geschichte. Ohne Kitsch, ohne langwierige Verstrickungen – aus dem Leben.

Veröffentlicht am 27.05.2019

Auf der Suche und auf der Flucht

Dschungel
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Felix ist sein Freund, sein bester Freund, schon seit die beiden sieben Jahre alt waren. Eine Freundschaft, die mit einem Faustschlag begann, den der namenlose Ich-Erzähler Felix verpasst hat. Später kommt ...

Felix ist sein Freund, sein bester Freund, schon seit die beiden sieben Jahre alt waren. Eine Freundschaft, die mit einem Faustschlag begann, den der namenlose Ich-Erzähler Felix verpasst hat. Später kommt es dem Leser so vor, als ob dies vielleicht das letzte Mal war, dass er sich zur Wehr gesetzt hat. Denn diese Freundschaft ist nicht auf gleicher Augenhöhe, Felix gibt den Ton an, ist der „Bestimmer“, manchmal so sehr, dass man es kaum ertragen kann, dass man den Erzähler schütteln möchte und anbrüllen „sei nicht so passiv“, „warum tust du das“, „warum lässt du das mit dir machen“ – egal ob mit 7, 9, 11, 13 oder 15 – interessanterweise sind die Rückblenden meist in diesen zwei Jahresabständen eingestreut. Der Blödsinn, den die beiden machen, ändert sich, nie das Kräfteverhältnis, nie, wer die antreibende Person ist.
Jetzt, in der Gegenwart, ist Felix verschwunden, in Kambodscha, einfach so. Und wieder sorgt er dafür, dass der Erzähler für ihn agieren muss und sich auf die Suche macht. Ein Mensch, der zuvor, und zwar genau einen Tag zuvor, erst das zweite Mal in seinem Leben geflogen ist, macht sich auf den Weg nach Südostasien. In eine andere Welt, ein heftiges Klima, in die Welt der Backpacker und Hippies und beginnt mit einer Suche am letzten bekannten Ort, von dem aus Felix sich gemeldet hatte. Und man sitzt als Leser da und schüttelt den Kopf, weil man es einfach nicht verstehen kann, dass er überhaupt aufgebrochen ist. Nach nicht mal einem Tag Vorbereitung, ohne Landeskenntnisse, ohne Plan (der Pedant in mir schreit: ohne Impfung, ohne Visum?), ohne die passende Persönlichkeit. Er ist noch nie mit dem Rucksack in einem fremden Land unterwegs gewesen, er hasst es, mit fremden Menschen zu sprechen. Was muss ihm diese Freundschaft bedeuten, dass er all das auf sich nimmt? Und angesichts der Tatsache, wie wir diese Freundschaft vorgeführt bekommen, die einem doch mehr als fragwürdig erscheint, die ausnutzend ist, mitunter einfach gemein, oder um es mit der Freundin des Erzählers zu sagen: Felix tut dir leid – im Sinne von er tut dir Leid an, ist es noch unverständlicher. Lange habe ich darauf spekuliert, dass diese Freundschaft eigentlich eine Liebesbeziehung ist, mit unausgesprochenen Konflikten. Lange habe ich gedacht, ich beginne diese Rezension in Form eines Briefes an Felix: „Lieber Felix, du schlechter Mensch (kann gerne durch ein beliebiges Schimpfwort ersetzt werden), was glaubst du eigentlich, was du da tust?“ – Und dann passiert etwas. Wenige Seiten vor Schluss gibt es eine Wendung, die alles auf den Kopf stellt, Opfer und Schuld und Verhalten und Zukunftspläne und einfach alles so dermaßen durchrüttelt, und man dann da sitzt und vollkommen anders auf vieles schaut, was man während der letzten zwei Tage gelesen hat.
Ich bin ganz ehrlich, ich mochte das Buch in vielerlei Hinsicht während des Lesens überhaupt nicht. Ich konnte einfach nicht nachvollziehen, wie man sich an einen Menschen hängt, der einem so offensichtlich immer wieder schadet, einen benutzt, einfach nicht gut tut. Im Nachhinein muss ich natürlich sagen, dass, ohne diese Antipathie, die sich in mir aufbaute, mich der Twist am Ende natürlich auch nicht so knallhart erwischt hätte, in diesem Sinne ist es dann wohl doch eher Chapeau, Herr Karig, großartige Konstruktion. Im Übrigen, genau wie die Sprache des Autors, die auf mich mitunter einen ganz besonderen Sog ausgeübt hat. Karig setzt kraftvolle, plastische Bilder ein, die entweder fast körperlich erlebbar erscheinen, Farben, Klima, Geräusche, Gerüche oder Vergleiche, die man fast auf T-Shirts drucken möchte in ihrer treffenden Einfachheit, ihrer Ironie oder ihrer Intensität. Einer meiner Favoriten: „Der Nachmittag zerfloss wie warme Schokolade in der Hosentasche. Klebrig. Ohne Anfang und Ende.“ (S. 70)
Fazit: Wortgewaltig, mitunter sperrig, manchmal etwas nervend aufgrund der Nicht-Nachvollziehbarkeit, großartig konstruiert. Mit einem Satz: ein überraschendes und dadurch dann umso beeindruckenderes Lesehighlight, aufgrund des Endes und der damit möglichen Re-Interpretation und zwangsläufigen Revision des während des Lesens an sich gewonnenen Eindrucks.