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Veröffentlicht am 21.02.2020

Lebenswege

Rote Kreuze
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Minsk, Weißrussland. Anfang des Jahrtausends. Ein Mann, dreißig Jahre alt, eine Frau, neunzig Jahre alt. Zwei Schicksale, die von Verlust geprägt sind. Ein Hausflur, ein rotes Kreuz an seiner Tür, das ...

Minsk, Weißrussland. Anfang des Jahrtausends. Ein Mann, dreißig Jahre alt, eine Frau, neunzig Jahre alt. Zwei Schicksale, die von Verlust geprägt sind. Ein Hausflur, ein rotes Kreuz an seiner Tür, das sie angebracht hat, damit sie sich erinnern kann, wo sie wohnt, denn sie hat Alzheimer. Und Redebedarf. Als Tatjana Alexejewna ihren neuen Nachbarn Alexander im Treppenhaus geradezu überfällt, ihn in ihre Wohnung bittet, ist er komplett überfahren. Jede ehrliche Reaktion wäre eine Ausgeburt der Unhöflichkeit, also beißt er in den sauren Apfel und folgt ihr, hört zu. Erst widerwillig, dann irgendwann gespannt. Denn Tatjana hat eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, die ein Spiegel der gesamten polit-sowjetischen Geschichte des 20. Jahrhunderts darstellt. Sie ist ein Teil, ein lebendiger Teil der Lenin-Ära, die sie als Kind erlebt, und hat später die Gräuel der Stalin-Ära am eigenen Leib erfahren, in all ihrer Willkür, Brutalität, Konsequenz, Endgültigkeit. All das erfährt Alexander nach und nach und öffnet sich seinerseits der alten Frau. Berichtet, wie es ihn nach Minsk verschlagen hat, was seine Geschichte ist, wie auch er neu anfangen muss, genau wie sie nach den Schicksalsschlägen ihres Lebens. Ob eine Freundschaft oder eine Schicksalsgemeinschaft entsteht, wer will das auf die Goldwaage legen, es entsteht ein empathisches Gebilde, was für beide in einer entscheidenden -überschaubaren, weil endlichen- Lebensphase eine Konstante darstellt.
Sasha Filipenko macht es dem Leser nicht leicht. In seinem nur rund 280 Seiten starken Werk steckt eine Menge drin. Viel für verhältnismäßig wenige Seiten. Die Geschichte zweier Menschen, ein ganzes Jahrhundert Staatsgeschichte, große Fragen nach Moral, Vergangenheitsbewältigung, Menschenwürde und Schuld. Gewaltige Themen, facettierte Inhalte – und doch, heruntergebrochen auf eigentlich wenige Tage des Erzählens zwischen den beiden Protagonisten. All das bedingt einen – und fast widerspricht es sich – verknappten, berichtenden Erzählstil, der auch häufig wechselt zwischen direkten und indirekten Berichten, der ersten und dritten Person und wahnsinnig viel Gehalt. Im Grunde kommt man viel zu schnell voran in der Erzählung, um alle Fakten und alle Zwischentöne zu erfassen, so dass man letztendlich sagen muss, eine zweite Lektüre würde sich fast aufdrängen. Gebremst wird der Lesefluss allerdings durch zwei Faktoren. Zum einen sind – in meinen Augen, verzichtbare Gedichte und ähnliches in den Text eingebunden. Leider sind dies für mich immer für die Handlung irrelevante Faktoren, da ich sie in den seltensten Fällen lese – und schon gar nicht so aufmerksam, dass ich ihnen gerecht würde. Will also der Autor etwas mit diesen Texten sagen, geht es, ganz ehrlich, an mir vorbei. Das mag jetzt mein persönliches Pech sein, ich wähne mich aber nicht alleine mit diesem Problem auf der Welt. Zum anderen enthält der Roman viele Auszüge aus (Original-)Dokumenten, Briefe oder Mitteilungen, die irgendwie sich auch selten so wirklich harmonisch in den Text einfügen. Insbesondere in Passagen, in denen Tatjana in direkter Rede erzählt, und dann ein Dokument folgt, fand ich das merkwürdig. Sie wird Alexander ja das Schriftstück nicht nach Jahrzehnten wortwörtlich memoriert und vorgetragen haben. Das hat mir einfach nicht so gut gefallen. Den Stil an sich mochte ich dahingegen sehr gerne, sowohl der nicht verschnörkelte direkte Ton als auch einige sehr gelungene Vergleiche (beispielhaft: ein Abgrund in Form eines Menschen, S.9, gefangen war der Mensch nicht länger in einem Anstaltsgebäude, sondern in seinem eigenen Schicksal) haben mich durchweg begeistert und an das Buch gefesselt.
Das -typische- Diogenes-Cover ist gelungen und passt hervorragend. Die Person, die sich voran bewegt, aber doch immer von einem Schatten in Form des Kreuzes gefolgt wird, Sinnbild für Vergangenheit, für Verluste, andere Kreuze im Leben, das fand ich hier sehr passend und aussagekräftig.
Fazit: ein Buch, das sich schnell lesen lässt, aber vermutlich nicht schnell gelesen werden sollte, oder zumindest mit sehr viel Muße zum Denken im Nachgang, wirklich zum Sammeln und Resümieren dessen, was man da eigentlich alles in so furchtbar kurzer Zeit erfahren und hoffentlich auch erfasst hat - „ein großer russischer Roman auf nur 280 Seiten“ wie der Verlag titelt – das passt. An den Holprigkeiten – wechselnde Perspektive, Sprünge, Einschübe sollte man sich nicht allzu fest verbeißen, sondern das große Ganze im Blick haben. Klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 19.02.2020

Welche Rolle hast du gespielt?

Der Empfänger
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Niemand stellt diese Frage eindringlicher als er selbst. Josef Klein, ein deutscher Immigrant aus dem Rheinland in New York. Eigentlich interessiert er sich nicht wirklich für Politik, ob die Druckerei ...

Niemand stellt diese Frage eindringlicher als er selbst. Josef Klein, ein deutscher Immigrant aus dem Rheinland in New York. Eigentlich interessiert er sich nicht wirklich für Politik, ob die Druckerei in der er arbeitet, nun für der NS-Ideologie nahestehende Organisationen Flugblätter druckt, oder nicht, es ist ihm eigentlich egal. Nichts kommunistisches zumindest, aber darüber hinaus, egal. Es ist sein Job. Sein Hobby hingegen ist das Funken. Darüber lernt er nicht nur Lauren kennen, sondern wird auch interessant für manche Personen in der deutsch-amerikanischen Gemeinschaft. Er kann morsen, er kann sogar ein Funkgerät zusammenbauen oder reparieren und er ist hinreichend naiv, unambitioniert, gleichgültig, um nicht allzu viele Fragen zu stellen, Dinge mit sich machen zu lassen, zumindest eine Zeit lang. Alle um ihn herum scheinen zu verstehen, für wen er da eigentlich etwas tut, aber vor sich selbst kann Josef seine Rolle nicht definieren. Klammerst sich an die Vorstellung, möglicherweise kein echter, ein „Schein‘-Mitarbeiter gewesen zu sein, er wählt für sich selbst die Rolle des Bauernopfers. Nicht einmal nach dem Krieg, nach einer Inhaftierung, nach einer Internierung, als er seinen Bruder in Neuss besucht, kann er mit der Wahrheit herausrücken, und man weiß gar nicht so genau, warum. Auch da wirkt sein Verhalten passiv, in sich gekehrt, farblos. Er ist nicht einverstanden, wie sein Bruder sich verhält, wie er mit seinen Kindern umgeht, wie er aus seiner Sicht seine und die eigene Rolle im Krieg definiert. Er bleibt ein Schatten, als solcher ist er gekommen, als solcher zieht er weiter. Fast wie ein Automatismus, nächste Station Südamerika, wie so viele Deutsche, die Teil des Systems waren und sich ins Ausland retten wollten. Nur dass er sich ja eigentlich gar nicht als Teil des Systems empfindet.

Letztlich gleicht Josef Kleins Geschichte einer Odyssee. Wird er jemals irgendwo wirklich ankommen, glücklich werden, sich etwas dauerhaftes aufbauen? Der Roman beantwortet diese Frage nicht. So wie Ulla Lenzes Buch ohnehin viel Raum für „das eigene Denken“ lässt. Der Empfänger ist kein Spionage-Thriller, er erzählt die Geschichte eines Mannes. Unaufgeregt, leise – so wie der Mann selbst ist. Er beleuchtet seine Herkunft, prägende Aspekte seiner Kindheit, wie den prügelnden Vater, der dann im Weltkrieg kämpft, den Plan, nach Amerika auszuwandern, alleine, nachdem ein Unfall dem Bruder die Immigration unmöglich macht. Das Leben in einer neuen Welt, in Armut, multi-ethnischen Stadtvierteln, die aber doch von den Gruppierungen der Herkunftsländer bestimmt werden, den Iren, den Deutschen, den Italienern, den Schwarzen, die ihre Straßenzüge prägen und so alte Heimat in der neuen Heimat bieten. Die gemeinsame Sprache, Tradition, vielleicht auch Werte binden aneinander und im Falle von Josef, stärker als er vermutlich je wollte.
Ulla Lenzes Roman liest sich leicht, wieder dieses Attribut: leise, unaufgeregt, aber er ist keine leichte Lektüre. Vieles steckt hier unter der Oberfläche. Die Autorin schafft es Atmosphäre zu schaffen, Schwingungen zwischen Menschen in Worte zu fassen, den Leser in Situationen mit hinein zu ziehen, was man (ich) aber oft gar nicht unmittelbar während des Lesens so bewusst merkt, sondern erst in einer Lesepause vielleicht. Das hat mir sehr gut gefallen und macht mich sehr neugierig auf andere Werke der Autorin.

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Veröffentlicht am 10.02.2020

Gelungener Abschluss einer Trilogie

Durch die kalte Nacht
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Mit „Durch die kalte Nacht“ legt Autor Jürgen Ehlers seinen Abschlussband der Trilogie „Liebe und Verrat in den besetzten Niederlanden“ vor. Nach „Tod von oben“ und „Im dunklen Nebel“ durchlebt der Leser ...

Mit „Durch die kalte Nacht“ legt Autor Jürgen Ehlers seinen Abschlussband der Trilogie „Liebe und Verrat in den besetzten Niederlanden“ vor. Nach „Tod von oben“ und „Im dunklen Nebel“ durchlebt der Leser gemeinsam mit den Protagonisten Sofieke und Gerhard die letzten beiden Kriegsjahre. Ihr Leben ist nach wie vor geprägt von der immerwährenden Gefahr, dass ihre Aktivitäten in Widerstand und für den englischen Geheimdienst aufgedeckt werden. Ihnen droht nicht weniger als der Tod, zumal Sofieke als Jüdin mit falschem Ausweis auf Messers Schneide balanciert. Auch in der letzten Phase des Krieges werden die Kompetenz-Rangeleien der Besatzer zwischen SS und Wehrmacht, Abwehr und SD nicht weniger, doch irgendwann setzen klare Auflösungserscheinungen der bisherigen Strukturen ein, als auch der Einsatz der Wunderwaffen V1 und V2 keine Wende mehr bringen kann. Und doch gibt es wieder die, die immer ihre Finger in allen Vorgängen zu haben scheinen, mindestens ein doppeltes Spiel treiben und sich aus jeder Situation herauslavieren, während andere in den Gestapo-Gefängnissen oder Konzentrationslagern tagtäglich Tod und Terror ins Auge blicken. Die Versorgungslage wird dazu in den Niederlanden immer schlimmer, es kommt für Hunderttausende der Hunger als ständiger Begleiter hinzu und die Alliierten werden sehnlichst erwartet, damit das Grauen endlich ein Ende findet.
Auf „Durch die kalte Nacht“ habe ich mich lange gefreut. Ich habe beide Vorgängerbände bereits gelesen, und so kommt man als Leser auch recht schnell wieder in die Geschichte hinein und weiß in Grundzügen sofort wieder, in welchem Dilemma sich Sofieke und Gerhard befinden, was für ein manipulative Gestalt der Doppelagent Christmann darstellt. Trotzdem ist mir das Register zu beginn des Buches aufgrund der schieren Menge an Personen immer wieder hilfreich gewesen. Vor allem die Protagonisten in SS , Wehrmacht, SD konnte ich nicht immer auf anhieb zuordnen, wenn der Name fiel. Insgesamt fand ich, dass die Handlung erst richtig ab Mitte des Buches einsetzte, vorher kam es mir manchmal vor, wie eine knappe Aneinanderreihung von Ereignissen, mal mit der einen Personengruppe, mal mit der anderen. Es wird kein „erleben“ vom Dingen geschildert, was die Sache irgendwie recht nüchtern macht. Diese kurzen Kapitelchen liest man schnell herunter – aber sie binden den Leser nicht an die Geschichte, soweit mein Eindruck. Umso erfreulicher, dass sich dies tatsächlich nachhaltig ändert, und die zweite Hälfte des Buches hat mir vorbehaltlos sehr gut gefallen und sowohl den Einzelband als auch die gesamte Trilogie zu einem runden, passenden Abschluss gebracht. Hierzu ist noch einmal zu bemerken, dass die absolute Mehrzahl der Personen im Buch auf real existierenden Menschen basiert und natürlich auch die historischen Ereignisse als faktische Basis fungieren, auf der eine fiktionale Geschichte absolut schlüssig aufgebaut wurde. Diese Tatsache bedeutet in meinen Augen einen sehr hohen Rechercheaufwand, der nicht unerwähnt bleiben sollte und dem Buch eine besondere Qualität verleiht. Und ich kann es einfach nun mal nicht unerwähnt lassen: danke für die gute, sinnvolle Karte am Beginn des Buches. Sie bildet ab, was sie abbilden muss, hat den richtigen Zuschnitt und ist per se gut gestaltet, ist leider auch nicht selbstverständlich.

Fazit: letztendlich eine empfehlenswerte, unglaublich informative Trilogie. Die Schilderung des alltäglichen Horrors des Naziregimes in einem besetzten Staat gelingt sehr gut, Angst und Bedrohung sind anhand der Protagonisten gut nachvollziehbar. Das komplizierte Gefüge um Spionage, Kompetenzen der Institutionen und Agenten ist hinreichend verwirrend und daher vermutlich realistisch dargestellt – wer kann da schon behaupten, immer durchzublicken, Heimlichtuerei und Verschleierung liegt in der Natur der Sache. Leider trägt die fiktionale Geschichte den Leser, insbesondere in diesem Band, nicht immer so gut durch das Buch wie die Fakten an sich in allen drei Bänden. Das ist das große Plus, und der Punkt, den ich am meisten herausstellen möchte: Großer Informationsgehalt für den Leser als Ergebnis eines sicher immensen, akribischen Rechercheaufwandes des Autors. Die Trilogie würde ich schon empfehlen als Ganzes zu lesen und nicht nur einzelne Bände, mir persönlich hätte sicher sonst zu vieles an Vorwissen gefehlt.

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Veröffentlicht am 25.11.2019

Überlebenskampf

Draussen
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Ein Mann und zwei Jugendliche leben in einem alten Wohnwagen auf einem Campingplatz. Er ist Survivalexperte, nimmt an Camps und Trainings teil – und schießt so manches mal mit seinem Anspruch an ein realistisches ...

Ein Mann und zwei Jugendliche leben in einem alten Wohnwagen auf einem Campingplatz. Er ist Survivalexperte, nimmt an Camps und Trainings teil – und schießt so manches mal mit seinem Anspruch an ein realistisches Training über das Ziel hinaus und riskiert den Unmut, sowohl der Bürohengste, die mal ein Wochenende Rambo spielen möchten, als auch das der „Prepper“ (Menschen, die sich vorbereiten (=engl. to prepare) für einen wie auch immer gearteten Ernstfall Blackout, Atomkrieg, Zombieapokalypse und in der Wildnis glauben überleben zu müssen.
Der Mann, Stephan, ist ein harter Knochen, trainiert seine jugendlichen Mitbewohner mit militärisch anmutender Präzision, warnt vor der immerwährenden Gefahr, entdeckt zu werden – von wem und warum ist zunächst vollkommen unklar, auch den beiden Kindern, Geschwister, 15 und 17 Jahre alt. Für den jüngeren Joshua ist das alles auch eine Menge Abenteuer, für die siebzehnjährige Cayenne überwiegt in letzter Zeit die Frage nach dem Sinn dieses Lebens – das die beiden aber grundsätzlich nicht in Frage stellen, die drei gehören in irgendeiner Weise zusammen, die zumindest nicht ein gewaltsames Festhalten der Geschwister beinhaltet. Als Cayenne tatsächlich angegriffen und schwer verletzt wird, scheint sich die jahrelange Prophezeiung zu bewahrheiten, jemand ist hinter ihnen her. Gleichzeitig sorgen problematische Wetterverhältnisse dafür, dass tatsächlich die Stunde der Prepper gekommen zu sein scheint…
Soviel und nicht mehr soll zum Inhalt des Thrillers „Draussen“ des Autorenduos gesagt werden, die hier tatsächlich einen wirklich guten Spannungsroman vorlegen, weit weg von jeder Allgäuer Beschaulichkeit. „Draussen“ verbindet geschickt drei Handlungsstränge oder Schauplätze miteinander, und auch wenn der Leser relativ früher um die Natur der Einschübe und Rückblicke ahnt, und auch Personenzuordnungen spätestens ab Mitte des Romans recht klar sein dürften, tut dies dem Spannungsbogen keinen Abbruch. Die Handlung ist durchaus actionreich und stringent logisch erzählt, Längen weist sie keine auf. Interessant fand ich, dass man - also ich zumindest - dadurch, dass es hier nicht um ein Verbrechen oder die Lösung eines Falls geht, es keine „gute Seite“ gibt, sondern, um es dann einmal ganz neutral zu halten „Akteure“ – deshalb habe ich auch mit niemandem mitgefiebert, auf nichts gewartet. Dadurch ist man irgendwie immer sehr nah an den momentanen Ereignissen im Buch dran und nicht auf einen erhofften Ausgang fixiert. Zumindest habe ich das so empfunden.
Fazit: ein guter, solider Thriller, aber eben einer ohne Lösung eines Verbrechens, aber das funktioniert wunderbar. Man ist nah dran an der Handlung, es geht zügig voran und es werden sehr interessante aktuelle und historische Themenkomplexe eingewoben, das habe ich als absoluten Pluspunkt und die größte Stärke des Thrillers empfunden. Sehr gut erdacht und sehr gut gemacht.
Klüpfl und Kobr können auch jenseits von Kluftinger, was für die beiden sicher eine tolle Erfahrung und auch wichtig ist. Es ist ein bisschen so, als gäbe es zu Hause, z.B. jeden Montag, z.B. Kasspatzn. Irgendwann hat man vielleicht das Gefühl und richtig Lust, mal was anderes kochen zu müssen, damit man nicht so festgefahren und langweilig ist und macht ein paar erstklassige hausgemachte Ravioli mit Steinpilzfüllung und Trüffelsoße. Schmeckt auch jedem toll, aber nächsten Montag und die nächsten 51 Montage auch gibt’s bitte wieder Kasspatzn. Man könnte ja ab und zu mal anders, wenn man wollte, dass weiß man ja jetzt. Mit anderen Worten, wenn auf jeden Thriller zwei neue Kluftinger kommen, passt‘s für mich.

Veröffentlicht am 17.10.2019

Spiel mit Licht und Dunkelheit

Die Zeit des Lichts
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Elizabeth „Lee“ Miller wurde im Jahr 1907 im Upstate New York geboren. Sie war Fotomodell, Fotografin und Kriegsberichterstatterin im 2. Weltkrieg. Sie präsentierte Modestrecken in der Vogue, entwickelte ...

Elizabeth „Lee“ Miller wurde im Jahr 1907 im Upstate New York geboren. Sie war Fotomodell, Fotografin und Kriegsberichterstatterin im 2. Weltkrieg. Sie präsentierte Modestrecken in der Vogue, entwickelte neue künstlerische Fototechniken und fotografierte das Grauen in den befreiten Konzentrationslagern. Sie hatte ein bewegtes Leben, das Spuren hinterlassen hat. Mit ihrem Ehemann lebte sie auf einer Farm in Sussex, zunehmend in Traumata, Alkoholprobleme und Neurosen verfallend. Der Roman von Whitney Scharer setzt an diesem Punkt an. Eine gealterte Lee wird von ihrer Verlegerin aufgefordert, einen Artikel zu schreiben, über eine der prägendsten Personen in ihrem Leben, den surrealistischen Künstler Man Ray, mit dem sie Ende der 1920er Jahre in Paris zusammentraf und einige Jahre zusammenlebte. Sie soll von ihm berichten, von seiner Arbeit. Doch damit hat Lee ein Problem: seine Arbeit, seine Geschichte, ist in großen Teilen auch und manchmal auch mehr ihre Arbeit, ihre Geschichte…
Und dann beginnt die eigentliche Erzählstrecke des Romans. In zwei Ebenen berichtet die Autorin von den beiden entscheidenden Entwicklungsphasen in Lee Millers Historie. Der Hauptstrang beschäftigt sich mit ihrer Zeit mit Man Ray in Paris, ihre Emanzipation vom Model zur Assistentin zur Fotografin zur Künstlerin. Er beschreibt ihr Leben in der Pariser Künstlerszene, ihr Zusammentreffen mit anderen bekannten Künstlern des Surrealismus und ihre Arbeit im Fotoatelier, das Flair dieser Gesellschaft in Paris, mit einem Gefühl, das ich nur als Bohème beschreiben kann, Opiumhöhlen, die grüne Fee Absinth, künstlerische Freiheit, Experimente. In kleinen Einschüben wird dazwischen geschildert, wie es dazu kam, dass sie als Kriegsfotografin bekannt wurde, mit ihren Bildern des Grauens, der Leichen in den KZ, ihr selbst in Hitlers Badewanne, die sich den Schmutz ihrer Arbeit vom Leib wäscht.
Whitney Scharer hat um die real existierende Lee Miller einen Roman geschrieben. Orientiert an den Eckpunkten ihrer Biographie, angereichert mit Fiktion, „wie es gewesen sein könnte“ und dies hat mir sehr gut gefallen. Die Autorin zeichnet ein lebendiges Bild einer exzentrischen Kunstszene zu einer spannenden Zeit in Europa, den ausgehenden goldenen Zwanzigern und eine glaubhafte Szenerie einer Liebesbeziehung, nicht wirklich eine Amour fou, aber schon eine große, verzehrende, aber nicht dauerhafte Liebe, die letztlich scheitern muss. Sie charakterisiert – für mein Empfinden – gut, was künstlerische Arbeit und Leben mit einem Künstler ausmacht, wie sie erfüllen, aber auch vernichten kann. Letztlich liegt der Fokus auf dem spannendsten Aspekt, der Entwicklung, der Werdung einer großen Künstlerin, gepackt in eine fesselnde, gut erzählte Story, die in den Details so nie stattgefunden haben mag, aber sich so abgespielt haben könnte und dazu noch lehrreich ist – denn zugegebenermaßen habe ich Surrealismus bisher mit niemandem außer Salvador Dali in Verbindung bringen können und habe hier sowohl über die Kunstrichtung, ihre Spielarten und Vertreter eine Menge erfahren. Lee Miller als Persönlichkeit ist so spannend wie schwierig, ihr späterer „Verfall“ fast tragisch, aber nachempfindbar. Zu viele Traumata, zu viel gesehen, mit einem Auge, das ein besonderes Talent besitzt, das ganz besondere in einem Bild zu erfassen.
Fazit: wirklich interessantes Buch über die Entwicklung einer spannenden Persönlichkeit und einer beachtenswerten Kunstrichtung. Es lohnt sich vor allem auch die erwähnten Kunstwerke und Künstler, die die Autorin in die Geschichte einflicht, einmal selbst zu recherchieren, und zu entdecken!