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Veröffentlicht am 23.03.2024

Zwischen "alt" und "aktuell"

Leute von früher
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Endlich hat Marlene ihr Studium abgeschlossen, doch die Freude darüber will sich noch nicht so recht einstellen – immerhin nähert sie sich rasant der 30 und es wird von ihr erwartet, jetzt Nägel mit Köpfen ...

Endlich hat Marlene ihr Studium abgeschlossen, doch die Freude darüber will sich noch nicht so recht einstellen – immerhin nähert sie sich rasant der 30 und es wird von ihr erwartet, jetzt Nägel mit Köpfen zu machen. Das jedoch kann Marlene sich gerade so gar nicht vorstellen, und so packt sie ihren Koffer, lässt das hektische Treiben Hamburgs hinter sich und besteigt die Fähre in Richtung der kleinen Nordseeinsel Strand. Hier wird sie den Sommer über arbeiten, als Saisonkraft in einem Museumsdorf, das dem späten 19. oder frühen 20. Jahrhundert entrissen scheint.

Gemeinsam mit den anderen Sainsonkräften lebt sie in einer Barackensiedlung und fährt jeden Morgen mit dem Rad zur Arbeit. Die Inselbewohner nehmen die Arbeitskräfte freundlich auf, hier wird jede helfende Hand gebraucht – spätestens, wenn zur Ferienzeit ganze Schiffe voller Besucher auf der kleinen Insel einfallen. Die wichtigsten Regeln sind, pünktlich zur Arbeit zu erscheinen und hinter der Kostümgrenze immer das mehr oder weniger stilechte Kostüm zu tragen. Das Arbeitspensum ist machbar, die Insel überschaubar, schnell fühlt sich Marlene hier wohl. Dann begegnet sie Janne, die auf Strand lebt; eine merkwürdige Faszination geht von ihr aus, und Marlenes Blick schweift immer öfter über die kleine Dorfstraße zur gegenüberliegenden Räucherei, in der Janne arbeitet. Zwischen den beiden entwickelt sich eine zarte Beziehung, fragil und zerbrechlich und zugleich von großer Anziehungskraft geprägt.

Ebenso wie Marlene fühlt man sich auch als Leser*in bald wohl auf Strand, das gar keinen Strand, sondern bloß einen Deich hat. Das kleine Dörfchen, mitunter auch scherzhaft "Deutschland-Park" genannt, will auf Außenstehende antik und authentisch wirken, fühlt sich aber auch bei einem Blick hinter die Kulisse bald angenehm heimelig an – und das, obwohl vermutlich weit über die Hälfte der Menschen gar nicht dauerhaft hier lebt und auch die Kekse in Wahrheit gekauft sind. Die urigen, alten Häuser, die einsamen Inselpfade, das Dünengras, der Deich, Ebbe und Flut – hier wirkt alles stimmig. Schon nach wenigen Kapiteln ist die Umgebung vertraut, die kleine Insel treibt wie aus der Zeit gerissen im Ozean, der sich bis zum Horizont erstreckt. Dass es irgendwo da draußen noch eine Welt geben soll, lässt sich nicht nur dank der Kostüme leicht vergessen, wenn sich das ganze Leben zwischen Barackensiedlung und Räucherei, alter Vogelwarte und Reetdach-Edeka abspielt.
Gleichzeitig hat all das, schaut man noch ein bisschen genauer hin, einen düsteren Beigeschmack: da wäre zum Beispiel der Friedhof der Namenlosen, auf dem seit jeher all jene Unbekannten ihre letzte Ruhe fanden, die das Meer ans Ufer der kleinen Insel gespült hat. Und dann ist da noch Rungholt, der ehemals größte Ort der Insel, der vor langer Zeit während einer Sturmflut vom Meer verschluckt wurde und um den sich zahlreiche Legenden ranken – angeblich kann man noch heute ab und an die Krichenglocken läuten hören. Wie nebenbei werden so die dramatischen Konsequenzen eines ansteigenden Meeresspiegels mit der Handlung des Romans verflochten, sind die Sturmflut und der versunkene Ort doch keinesfalls nur aus dramturgischen Zwecken dazuerfunden: Rungholt hat es tatsächlich gegeben, die Insel Strand existierte in der ursprünglichen Form nur bis 1634 und heute nur noch in Teilen.

"Leute von früher" überzeugt mit einer zarten, von Unsicherheiten geprägten Liebesgeschichte, die sich zwar langsam entwickelt, dabei aber mit großem Einfühlungsvermögen geschrieben ist. Die Inselkulisse, das Dorfleben und die stets im Hintergrund präsente Mystik sorgen für eine atmosphärische Dichte, der man sich kaum entziehen kann; dass es dem Roman gelingt, sowohl Spannung zu erzeugen als auch Urlaubsstimmung aufkommen zu lassen, ist besonders bemerkenswert. Mich hat der Roman so gepackt, dass ich ihn an einem einzigen Tag komplett verschlungen habe – was bleibt da noch zu sagen?

Veröffentlicht am 08.09.2023

Ganz besondere Erzählweise

Weil da war etwas im Wasser
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Wo fängt man an bei einer Geschichte, die eigentlich nicht nur eine einzige Geschichte ist, sondern gleich ein ganzes Geflecht? Die sieben Generationen in der Zeit zurück und tausende Meter tief bis auf ...

Wo fängt man an bei einer Geschichte, die eigentlich nicht nur eine einzige Geschichte ist, sondern gleich ein ganzes Geflecht? Die sieben Generationen in der Zeit zurück und tausende Meter tief bis auf den Grund des Ozeans reicht? Die mit jedem Satz klarer erkennen lässt, wie sehr alles mit allem (und zwar wirklich ALLES mit ALLEM) verbunden ist?

Vielleicht fängt man tatsächlich am besten dort an, wo auch der Text selbst beginnt: bei den acht Armen eines Riesenkalmars. Denn während dieser durch die Weltmeere schwimmt, sind es seine Arme, die ein Eigenleben entwickeln und gemeinsam dieses Geflecht an Geschichten erzählen. Und darin geht es um Sanja, die während eines Praktikums auf einem Frosttrawler nicht nur nach Krill, sondern vor allem auch sich selbst sucht; um Dagmar, die für einen Geheimdienst arbeitet und in der Antarktis stationiert ist; um Minenarbeit, Deutschland zur NS-Zeit, die Entstehung des Weißen Hais, häusliche Gewalt, ja selbst um Jules Vernes. Und dazwischen gibt es immer wieder alle möglichen kulturellen Verweise, es geht um Nachhaltigkeit, Leben in der Tiefsee, Umweltschutz, Beschneidung, transgenerationale Traumata. Sogar um Peter Wohlleben und Omega-3-Fettsäuren.

Ist das viel? Ja.
Ist das manchmal anstrengend? Ja.
Lohnt sich das? Ja!

"Weil da war etwas im Wasser" ist kein Roman zum Einfach-Weglesen. Man muss dranbleiben, man muss mitdenken, vielleicht das ein oder andere googeln. Und doch wird es weder langweilig, noch verlieren sich die zahlreichen Fäden einfach im Nirgendwo. Alles ist verbunden, auch dadurch, dass die unterschiedlichen Handlungsstränge selten am Stück erzählt werden, sondern sich abwechseln, teilweise ineinander eingebettet sind, sich gegenseitig ebenso auslösen wie erklären. Das zeigt auch der ständige, unterhaltsame "Kampf" der Arme darum, wer jetzt eigentlich mit dem Erzählen dran ist.

Fast fühlt man sich ein bisschen wie in einem RPG, wenn in den Fußnoten (ja, es gibt Fußnoten!) mal wieder einer der Arme darauf verweist, dass man doch jetzt bitte endlich seine Geschichte lesen möge, dazu einfach auf Seite XY vorblättern, danke, bis gleich.

Der Roman ist gleichermaßen humorvoll und ernst, hat einen gewissen Sachbuchcharakter und lässt gleichzeitig ganz tief eintauchen (ich musste einfach!) in die Leben seiner Protagonist:innen. Manchmal fragt man sich, worum genau es gerade eigentlich geht, wo die Geschichte gerade ist und wie sie dort hingekommen ist; aber das macht nichts, weil schon bald darauf alles wieder Sinn ergibt und sich die losen Enden verknüpfen. Was am Ende bleibt, ist keine stringente Geschichte, sondern etwas Rundes, ein Stück... ja, was? Zeit? Materie? das zusammenhängt, obwohl es aus vermeintlich vollkommen inhomogenen Bestandteilen zusammengesetzt ist. Das bringt es vermutlich alles nicht wirklich auf den Punkt, aber besser erklären kann ich es nicht. Lest am besten einfach selbst.

Veröffentlicht am 26.07.2023

Das Dorf, das vergessen werden will

Nincshof
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Wer kennt sie nicht, diese Dörfer, deren Namen man liest und sich denkt "noch nie gehört", obwohl sie nur 20km vom eigenen Wohnort entfernt liegen. Orte, die gefühlt kein Mensch kennt, weil es dort einfach ...

Wer kennt sie nicht, diese Dörfer, deren Namen man liest und sich denkt "noch nie gehört", obwohl sie nur 20km vom eigenen Wohnort entfernt liegen. Orte, die gefühlt kein Mensch kennt, weil es dort einfach nichts Spannendes gibt, das je über die Grenzen des Dorfrandes in die Welt hinausschwappt. Was aber, wenn es irgendwo tatsächlich ein Dorf gäbe, in das sich niemand je verirrt, das nie in irgendeiner Zeitung oder Berichterstattung auftaucht, dessen Bewohner Außenstehenden nie vom aktuellen Dorfgeschehen berichten? Das einfach komplett unter den Radar der öffentlichen Aufmerksamkeit fällt?
Nincshof ist so ein Dorf. Oder war es zumindest. Und will es wieder werden. Aber das ist gar nicht so einfach, wenn da plötzlich irgendeine bekannte Schauspielerin (oder, warte, macht sie nicht sogar selber Filme? hoffentlich nicht über Nincshof!) aus der Stadt zuzieht und ihr Mann dann auch noch eine ziemlich hässliche, aber leider auch ziemlich seltene und damit Aufmerksamkeit erregende Ziegenart zu züchten beginnt. Und dann bricht auch noch die Erna von nebenan heimlich nachts irgendwo ein, um da im Pool zu schwimmen, muss das denn sein? Wenn das mal nicht in die Zeitung kommt. Vergessen werden wird Nincshof so jedenfalls nicht, da hilft alles Buchseiten-Rausreißen und Datenbanken-Löschen auch nichts. Klar also, dass man Erna irgendwie dazu bringen muss, sich an dem ganzen Unterfangen zu beteiligen, und was man dann mit den Zugezogenen anfängt, muss man sich halt noch überlegen.

Ich kann ihn absolut verstehen, den Wunsch dieser Dorfbewohner, einfach aus dem Weltgeschehen ausgeklammert zu werden. Einfach seine Ruhe zu haben und das Leben wie bisher weiterzuleben, bei den Nachbarn ein- und auszugehen ohne klingeln zu müssen, mittags hier ein bisschen Kuchen, da ein bisschen aushelfen. "Nincshof" war für mich ein sehr unterhaltsamer und zugleich auch nachdenklicher Roman, dessen Atmosphäre ich geliebt habe - das entspannte Dorfleben, die teils etwas schrägen, aber liebenswürdigen Menschen (das passende Adjekiv wäre wahrscheinlich "schrullig"), das gemeinsame Hinarbeiten auf ein Ziel, die ungewöhnlichen Dorftraditionen wie etwa die Weitergabe des Nachnamens der Frau statt dem des Mannes bei einer Heirat. Die Idee des aktiven Vergessen-Werdens hat mir sehr gefallen, die dahinterstehende eigens gegründete, ebenso wunderliche wie sympahische philosophische Strömung der "Oblivisten" und deren heimliche Treffen und skurrilen Pläne. "Nincshof" ist nicht nur ein wunderbar gelungenes Debüt der österreichischen Autorin, sondern zudem die perfekte Sommerlektüre. Klare Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 17.02.2023

Heimat

Sibir
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Es ist 1945. Die Welt versinkt im Chaos, als Josef Ambacher gemeinsam mit seiner Familie und Hunderttausenden anderen Zivilisten aus Deutschland nach Kasachstan verschleppt wird. Alles, was sie bis dahin ...


Es ist 1945. Die Welt versinkt im Chaos, als Josef Ambacher gemeinsam mit seiner Familie und Hunderttausenden anderen Zivilisten aus Deutschland nach Kasachstan verschleppt wird. Alles, was sie bis dahin kannten, ist fort; sie müssen sich fortan in einem fremden Land, einer fremden Kultur, einer fremden Sprache zurechtfinden und sich an den Gedanken gewöhnen, fortan die Steppe ihr Heim zu nennen.
Jahrzehnte später, Josef hat inzwischen eine eigene Familie gegründet und konnte schon vor einer ganzen Weile nach Deutschland zurückkehren. Jetzt, 1990, findet er sich plötzlich in der Rolle derer wieder, die die Neuankömmlinge willkommen heißen. Denn nicht alle hatten so viel Glück, schon wenige Jahre nach der Verschleppung nachhause zurückkehren zu können; der weitaus größere Teil kommt jetzt erst nach, desorientiert, heimatlos. Josefs Tochter Leila ist noch ein Kind, als dieser ihr so fremde und doch merkwürdig vertraute Teil der Vergangenheit ihrer Familie Einzug in ihr Leben hält.

Beide Zeitebenen fügen sich großartig ineinander ein und vermitteln das Bild einer Suche nach Heimat und Heimkommen, stellen die Frage nach Zugehörigkeit und danach, wie es sich anfühlt, immer nur am Rand zu stehen und "fremd" zu sein. Die Beschreibungen dieser beiden Kindheiten, die vollkommen unterschiedlich verlaufen und doch so viel gemeinsam haben, sind eindrücklich und geprägt von Misstrauen und Angst, aber auch von Freundschaft und Menschlichkeit. Es ist also keinesfalls nur ein düsteres, bedrückendes Bild, das der Roman hier zeichnet; es gibt auch so viel Wärme in diesem Roman, im Leben Josefs und Leilas. Mich hat diese Geschichte jedenfalls sehr schnell in ihren Bann gezogen und ich hätte nach ihrem Ende auch noch eine ganze Weile weiterlesen können.

Veröffentlicht am 27.11.2022

Jede Menge Bücherliebe

Die Bücher, der Junge und die Nacht
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Leipzig, 1933: Buchbinder Jakob Steinfeld verliebt sich in die geheimnisvolle Juli, die hofft, bei ihm ein Manuskript binden lassen zu können. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse, und Juli verschwindet.
Leipzig, ...

Leipzig, 1933: Buchbinder Jakob Steinfeld verliebt sich in die geheimnisvolle Juli, die hofft, bei ihm ein Manuskript binden lassen zu können. Doch dann überstürzen sich die Ereignisse, und Juli verschwindet.
Leipzig, 1943: Der Krieg ist in vollem Gange, als ein mysteriöser Fremder einen kleinen Jungen und ein Buch aus den brennenden Ruinen eines Hauses rettet. Der Junge wird ihn von nun an begleiten, und gemeinsam werden sie Jagd auf viele weitere Bücher machen.
Leipzig, 1970er: Robert Steinfeld, der Sohn Jakobs und ebenfalls ein großer Bücherfreund, begleitet eine Kollegin, die die Bibliothek der alten Verlegerfamilie Pallandt auflösen soll. Dabei finden sie Bücher, die es eigentlich gar nicht geben dürfte.

Die Geschichte um die beiden Familien Steinfeld und Pallandt vereint jede Menge Bibliophilie, den Untergang des Graphischen Viertels während der Bombenangriffe im Dezember 1943 und die großartig erzählte Suche nach den Geheimnissen der Vergangenheit in sich. Wie immer ist es Meyer dabei ganz wunderbar gelungen, die beschriebenen Szenen in all ihren Details vor meinem inneren Auge auferstehen zu lassen. Die drei Zeitebenen ergänzen sich perfekt und erzeugen einen Spannungsbogen, der den ganzen Roman über aufrechterhalten wird. Die Figuren sind sympathisch und erlauben es sehr schnell, mit ihnen mitzufiebern, während im Hintergrund Krieg und Nationansozialismus schwelen. Das Besondere an Meyers Romanen ist für mich, dass sich in ihnen immer ein Hauch Phantastik verbirgt, dass sie bestens ohne großen Kitsch auskommen und nach spannenden Lesestunden, wenn man mühsam wieder aus ihnen auftaucht, zufrieden zurücklassen.

Große Leseempfehlung für alle Meyer-Fans und solche, die es noch werden wollen!