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Veröffentlicht am 11.11.2023

Wenn Familie kein Schutzraum ist

Endstation Malma
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Wo der Schwede Alex Schulman als Autor draufsteht, ist zuverlässig das Thema dysfunktionale Familie drin. Obwohl es sich bei seinem sechsten Roman "Endstation Malma" eindeutig um Fiktion handelt, sind ...

Wo der Schwede Alex Schulman als Autor draufsteht, ist zuverlässig das Thema dysfunktionale Familie drin. Obwohl es sich bei seinem sechsten Roman "Endstation Malma" eindeutig um Fiktion handelt, sind viele Splitter und Spuren aus seinen autobiografischen Werken zu finden. Sie zu entdecken, hat mir beim Lesen Freude gemacht, notwendig zum Verständnis ist dies jedoch nicht.

Alles läuft in Malma zusammen
Drei Generationen nehmen den Zug ins abgelegene, verlassene Örtchen Malma, mehrere Stunden von Stockholm entfernt. Sie reisen nicht gleichzeitig, wie man zunächst glaubt, sondern im Abstand vieler Jahre. Drei Namen stehen abwechselnd über den 28 Kapiteln: Harriet, Oskar und Yana. In den 1970er-Jahren fährt Harriet mit ihrem Vater Bo zu einem Begräbnis dorthin, 2001 ist Harriets Ehe am Ende, trotzdem überredet sie ihren Mann Oskar, sie nach Malma zu begleiten, und etwa fünfzig Jahre nach der ersten Fahrt versucht deren Tochter Yana dort, Antworten auf ihre Fragen zu finden. Mit den Perspektivwechseln verschwimmen – sicher vom Autor beabsichtigt – Generationen und Zeitebenen, alles scheint parallel zu verlaufen und man braucht beim Lesen viel Konzentration. Harriets Ur-Katastrophe, als beide Eltern bei der Scheidung ihre Schwester präferierten, zerstörte sie, ließ sie den falschen, da ebenfalls traumatisierten Partner wählen und setzte sich generationenübergreifend fort. Was wird aus einem verschmähten Kind? Wie stark prägt die Kindheit unser Verhalten? Welchen Folgen hat es, wenn ein Vater seine Liebe nicht zeigen kann? Wann verliert man sein Kind? Und: Welches Geheimnis liegt in Malma begraben?

Düster, aber nicht hoffnungslos
Alex Schulman, Bestsellerautor in Schweden und mittlerweile vielfach übersetzt, Blogger, Podcaster und Regisseur seines eigenen Theaterstücks am Königlichen Dramatischen Theater Stockholm, verhehlt nicht, dass sein Schreiben selbsttherapeutische Motive hat. Harriets Mantra „You are not alone“ vermag hoffentlich Betroffene aus desolaten Familien stützen. Mich als Nicht-Betroffene setzt die Schulmansche Literatur Erfahrungen aus, die ich sonst eher meiden würde, lässt mich in eine dunkle, verstörende Welt blicken und schafft Verständnis für Verhaltensmuster traumatisierter Menschen. Was Alex Schulmans Bücher über andere, nicht weniger düster-dramatische Kindheits-Literatur hinaushebt, ist sein außergewöhnlich scharfer Blick für kindliche Verletzlichkeit und Sensibilität und die lebenslang offenen Wunden durch Nichtbeachtung und Zurückweisung. Weder Harriets Taktik der beständigen Rückschau, noch Oskars Versuch, die Vergangenheit abzuhaken, die Opferrolle abzustreifen und in die Zukunft zu blicken, vermag zu befreien, und so wird das Trauma an die Tochter Yana weitergereicht. Dass bei ihr zuletzt zarte Hoffnung auf Versöhnung aufkeimt, ist der Lichtblick im Roman.

Puzzlestein für Puzzlestein
Man kann "Endstation Malma" die auffällige Konstruktion vorwerfen oder das offensichtliche Bestreben, alle Leserinnen und Leser für das Thema zu gewinnen, auch mit Einsatz von Thriller-Elementen. Nichts davon hat mich gestört. Mir gefallen die Virtuosität, mit der Alex Schulman die Puzzlesteine ineinanderfügt, seine Fähigkeit, schleichendes Unbehagen zu erzeugen und sein eleganter Stil. Vorzüglich gelingt der Übersetzerin Hanna Granz die Übertragung der klaren, wohlklingenden Melodie des schwedischen Originals. Wie gut allerdings, dass den unerträglichen Schockmomenten und verstörenden Grausamkeiten so wunderbare Beobachtungen aus dem Zugfenster wie diese gegenüberstehen:

"Aus dem Lautsprecher eine Durchsage, der Streckenabschnitt vor ihnen sei eingleisig, sie müssten auf einen entgegenkommenden Zug warten. Sie stehen inmitten einer Wiese, die Blumen reichen den Leuten bis zum Kinn. Wenn der Sommer noch ein paar Zentimeter ansteigt, ertrinken sie." (S. 16)

Ein Lese-Highlight!

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Veröffentlicht am 16.10.2023

Kind und Mutter

Die Wahrheiten meiner Mutter
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Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, gehört zu den wichtigsten Gegenwartsautorinnen Norwegens, vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Ihr 2016 erschienener Roman "Arv og miljø", deutsch "Bergljots Familie" ...

Vigdis Hjorth, geboren 1959 in Oslo, gehört zu den wichtigsten Gegenwartsautorinnen Norwegens, vielfach ausgezeichnet und übersetzt. Ihr 2016 erschienener Roman "Arv og miljø", deutsch "Bergljots Familie" (2019), veranlasste ihre Schwester zu einem „Gegenroman“ und wurde in Norwegen ebenso bejubelt wie kontrovers diskutiert. Der literarisch aufbereitete Einblick in die eigene Familie mit dem Vorwurf väterlichen Missbrauchs löste bei mir gleichermaßen Sog und Unbehagen über diese Art der „Virkelighetslitteratur“ aus und beschäftigt mich noch immer.

Obwohl das neue Buch "Die Wahrheiten meiner Mutter" mit dem deutlich drastischeren Originaltitel "Er mor død" (ohne Fragezeichen), wieder hervorragend übersetzt von Gabriele Haefs, nicht autofiktional ist, weist es doch Parallelen auf. Erneut geht es um Uneinigkeit über die gemeinsame Familiengeschichte und die Gründe für einen Bruch. Zugleich greift die Autorin Aspekte der Debatte um Arv og miljø auf: Dürfen private Erfahrungen und Familieninterna in Kunstwerken verhandelt werden und haben alle Kunstwerke einen autobiografischen Kern?

"Das Verhältnis eines Werkes zur Wirklichkeit ist uninteressant, das Verhältnis eines Werkes zur Wahrheit ist entscheidend, der Wahrheitswert eines Werkes liegt nicht in seinem Verhältnis zur Wirklichkeit, sondern in seiner Wirkung auf die, die es betrachten." (S. 312)

Flucht
Die bildende Künstlerin Johanna Hauk verteidigt die Kunstfreiheit im Roman vehement. Sie hat vor 30 Jahren ihren Mann, ihre Eltern, ihre Schwester Ruth und ihr Jurastudium zurückgelassen und ist dem Kunstlehrer Mark, ihrem zweiten Ehemann, nach Utah gefolgt. Inzwischen stellt sie überall auf der Welt erfolgreich ihre Bilder aus. Ihre Eltern wollten Mark und den Enkel John nie kennenlernen. Als Johanna nicht zur Beerdigung des Vaters kam, dann aber bei einer Ausstellung in Oslo ihre Triptychen „Kind und Mutter" gezeigt wurden, die die Familie als Provokation auffasste, brach der spärliche Kontakt völlig ab.


Rückkehr
Nun ist sie, inzwischen verwitwet, erstmals zur Vorbereitung einer Retrospektive in ihre Heimatstadt zurückgekehrt und hofft auf ein Gespräch mit ihrer betagten Mutter. Doch die hebt das Telefon nicht ab, antwortet nicht auf Textnachrichten. Verhindert die Schwester, wie Johanna sich einzureden versucht, die Kontaktaufnahme?

Je mehr Mutter und Schwester sich verweigern, desto obsessiver werden Johannas Bemühungen. Sie beobachtet die mütterliche Wohnung, schleicht ins Treppenhaus, folgt ihr, wenn sie mit Ruth das Haus verlässt, und filzt ihren Müll.

Zugleich kehren Kindheitserinnerungen zurück. Wann übernahm die zuvor zugewandte Mutter die spöttisch-ablehnende Haltung des Vaters zum Zeichentalent der Tochter? Immer verzweifelter sucht Johanna nach Beweisen, dass der Schmerz der Mutter lange vor der Flucht der Tochter begann. Hat sie nicht ihre Qualen durch eine immer größere Anpassung an den dominanten Vater kompensiert, die sie auch ihren Töchtern auferlegte? Doch was ist Erinnerung, was Fantasie?

"Mutters Mysterium ist mein Mysterium und das Rätsel meines Daseins, und ich fühle, dass ich nur in der Annäherung an dieses Mysterium eine Form von existenzieller Erlösung erreichen kann." (S. 360)

Eine Hütte im Wald wird zu Johannas Flucht- und Ruhepunkt.

Ein packender Monolog
In knappen Sequenzen mit manchmal nur einem oder wenigen kurzen Sätzen pro Seite folgen wir der Ich-Erzählerin auf der Suche nach Erlösung. Immer wieder zitiert sie Henrik Ibsen, Søren Kierkegaard, Marguerite Duras oder die Bibel, reflektiert Muttersein und Familiendynamiken. Parallelen zur grandiosen Natur rund um die Hütte drängen sich auf.

Trotz kleinerer Längen im Mittelteil hat mich dieser 400 Seiten umfassende, präzise formulierte, in einem furiosen Finale mündende innere Monolog begeistert. Zu Recht stand der Roman 2023 auf der Longlist zum International Booker Prize.

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Veröffentlicht am 14.09.2023

Mit anderen Augen

Verlogen
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Nach einem Jahr bei der Kripo Akranes hat sich die 33-jährige Ermittlerin Elma überraschend gut in ihrer früheren Heimatstadt eingelebt und die Erinnerung an den Selbstmord ihres langjährigen Partners ...

Nach einem Jahr bei der Kripo Akranes hat sich die 33-jährige Ermittlerin Elma überraschend gut in ihrer früheren Heimatstadt eingelebt und die Erinnerung an den Selbstmord ihres langjährigen Partners Davið stehen nicht mehr im Vordergrund. Dass es auch in dem Hafenstädtchen im Westen Islands nicht nur um Verkehrsunfälle und Einbrüche geht, musste sie bereits kurz nach ihrer Rückkehr erfahren, als im ersten Band der Serie mit dem Titel "Verschwiegen" am älteren der beiden Leuchttürme von Akranes die Leiche einer jungen Mutter gefunden wurde. Auch die Fortsetzung "Verlogen" beginnt mit einem Leichenfund, allerdings gut versteckt in einer Höhle im Lavafeld bei Grábrók und stark verwest. Schnell wird ermittelt, dass es sich dabei um die alleinerziehende Mutter der 15-jährigen Hekla handelt, die 31-jährige Maríanna Þórsdóttir, die seit sieben Monaten verschwunden war. Alles schien damals auf einen Selbstmord der immer wieder mit Depressionen und Suchterkrankungen kämpfenden Frau hinzudeuten, weshalb es nur oberflächliche Ermittlungen gab. Zu Unrecht, wie die Obduktion ergibt, denn Maríanna starb durch Schläge:

"Uns bleibt nichts anderes übrig, als mit den Ermittlungen noch einmal ganz von vorne zu beginnen. Leute zu befragen, Dokumente zu prüfen. Alles noch einmal zu machen, aber mit anderen Augen." (S. 71)

Mehr als nur die Aufklärung eines Kriminalfalls
Wie auch schon bei "Verschwiegen" unterbricht die 1988 in Akranes geborene und aufgewachsene Autorin Eva Björg Ægisdóttir die Chronologie der Ermittlungen Elmas und ihres 36-jährigen Kollegen Sævar, dieses Mal durch Kapitel aus der Ich-Perspektive einer Mutter von der Geburt ihres Kindes bis zum Alter von 13 Jahren. Mit Augenmaß eingeflochten ist Elmas Privatleben, die Rückblicke in ihre Kindheit, die nicht überwundenen Rivalitäten mit ihrer älteren Schwester, die Bewältigung ihrer Trauer sowie ihre zwiespältigen Gefühle sowohl für ihren Kollegen als auch für ihren liebenswerten Nachbarn Jakob.

Mit psychologischer Tiefe
Es passiert gar nicht so oft, dass ich bei Krimireihen am Ball bleibe, aber bei dieser gut geschriebenen Island-Serie wollte ich die Fortsetzung auf keinen Fall verpassen. Nun hat mir "Verlogen" sogar noch etwas besser gefallen als der Vorgängerband, denn das von der dreifachen Mutter Eva Björg Ægisdóttir von allen Seiten beleuchtete Thema „Muttersein“ hebt diesen Krimi aus der Vielzahl der Regionalkrimis heraus. Wieder geht Gründlichkeit bei der Ermittlungsarbeit vor thrillerhafter Rasanz, drängen sich Verdachtsmomente gegen verschiedene Personen auf und wird viel Wert auf Orts- und Charakterzeichnungen gelegt, für die eine Landkarte im Buchdeckel und ein Personenverzeichnis im Anhang hilfreich sind. Die Autorin widmet sich ausführlich verschiedenen Familientragödien und komplizierten Beziehungsgeflechten und wartet im letzten Drittel mit einer für mich umwerfenden Überraschung auf. Auch den Schluss fand ich ausgesprochen gelungen, originell und passend zum Geschehen, auch wenn er vielleicht nicht jedem Krimifan gefällt.

Keine Frage also, dass ich bei Band drei der Serie, "Verborgen", im Februar 2024 wieder dabei bin.

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Veröffentlicht am 10.05.2023

Ein "andersiger" Kinderroman

Wolf
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"Sätze, die meine Mutter mit «übrigens» beginnt, enden nicht gut für mich." (S. 11)

Die Skepsis des Ich-Erzählers Kemi ist berechtigt, denn auf das „Übrigens“ der Mutter zu Beginn des Kinderromans "Wolf" ...

"Sätze, die meine Mutter mit «übrigens» beginnt, enden nicht gut für mich." (S. 11)

Die Skepsis des Ich-Erzählers Kemi ist berechtigt, denn auf das „Übrigens“ der Mutter zu Beginn des Kinderromans "Wolf" von Saša Stanišić folgt eine Horrorankündigung: eine Woche Ferienlager im Wald mit Schulkameraden, alternativ Ferienbetreuung in der Schule. Da letzteres für Kemi ausscheidet und die alleinerziehende Mutter keinerlei Diskussionsbereitschaft signalisiert, gibt es kein Entrinnen, trotz Kemis Aversion gegen Mücken, Zecken, Brennnesseln, Dickicht, Waldromantik, Lagerfeuer und die Natur allgemein. Ehrlich gibt er zu:

"Mütter sind okay. Ist auch echt nicht einfach mit mir." (S. 15)

Zwei Außenseiter
Zusammen mit 40 Gleichaltrigen geht es im Bus nach Brandenburg, Begleitpersonal inklusive. Kemi macht aus seiner Abneigung sogleich kein Geheimnis:

"«Ich freue mich auf nichts», sage ich gleich als Erster. «Ich lehne die Natur ab.»" (S. 28)

Mit dieser Aussage verunsichert Kemi die Betreuerriege und festigt seine Reputation als notorischer Meckerer, der „alles mit Teilnehmerzahl größer eins verweigert“ (S. 107), stattdessen lieber liest und über die Börse diskutiert. Wäre da nicht Jörg mit seinen großen Ohren, dem uncoolen Rucksack und der altmodischen Ausdrucksweise, Kemi wäre das perfekte Mobbingopfer. So aber steht Jörg im Fokus der Schikanen der drei „Idioten in baugleichen Steppwesten“ (S. 17): Marko und die Dreschke-Zwillinge. Messerscharf analysiert der kluge Beobachter die Lage seines Hüttenpartners Jörg:

"Jörg ist wie alle eigen und wie alle anders, er wird aber von den anderen noch mal andersiger gemacht, verstehst du? Sorry, mir fallen nur erfundene Wörter ein". (S. 34)

Eigentlich ist das Verhalten gegenüber dem netten Jörg, der nie aufmuckt und an jeder Aktivität freudig teilnimmt, wie immer, aber nun kann Kemi nicht ausweichen. Das schlechte Gewissen, weil er ihm nicht beisteht, und die Angst, selbst in den Fokus der Dreierbande zu geraten, verfolgt ihn bis in seine Albträume, in denen ihn ein großer, schlanker, grauer Wolf mit gelben Augen heimsucht.

Ein Koch mit Durchblick
Wäre "Wolf" ein normaler Kinderroman, das Happy End wäre absehbar: die Quäler eingenordet, die beiden Außenseiter beste Freunde und integriert. Aber Wolf ist ebenso „andersig“ wie Jörg oder Kemi, was bei dem 2019 mit dem Deutschen Buchpreis ausgezeichneten Saša Stanišić kaum überrascht. Er scheint – wie sein Protagonist – gute und darum realitätsfremde Enden abzulehnen und beschränkt sich stattdessen auf hoffnungsvolle Zeichen und Raum für Fantasie. Niemand kehrt unverändert nach Hause zurück, nicht die Kinder und nicht die Betreuerinnen und Betreuer, die sich ihrer Aufgabe nicht gewachsen zeigen. Wie in der Schule reagiert auch hier ein Nicht-Pädagoge am hilfreichsten: der coole und empathische Koch mit der abgefahrenen Schläfentätowierung und dem Durchblick, meine absolute Lieblingsfigur.

Ein echter Stanišić
"Wolf" ist mehr als ein äußerst origineller, oft witziger Kinder- und Jugendroman ab frühestens elf Jahren, er ist unbedingt auch für pädagogisches Fachpersonal und Eltern empfehlenswert. Der typisch schräge Stanišić-Humor, seine Sprachspielereien und der lakonisch-pessimistische Blick des selbstreflektierten Kemi machen die schweren Themen Mobbing, Feigheit und Mut, Freundschaft, Gruppendynamik und Wut erträglich, genau wie die sehr zahlreichen atmosphärisch stimmigen, umwerfend gelungenen gelb-schwarzen Illustrationen von Regina Kehn.

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Veröffentlicht am 02.05.2023

Ein kleiner Ort der Hoffnung

Das Café ohne Namen
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Es ist keineswegs Unzufriedenheit mit seinem Leben als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt in der Wiener Leopoldstadt, die den 31-jährigen Robert Simon im Spätsommer 1966 antreibt, vielmehr eine ...

Es ist keineswegs Unzufriedenheit mit seinem Leben als Gelegenheitsarbeiter auf dem Karmelitermarkt in der Wiener Leopoldstadt, die den 31-jährigen Robert Simon im Spätsommer 1966 antreibt, vielmehr eine aufflammende Sehnsucht in einer von Aufbruchsstimmung durchdrungenen Stadt:

"Eine Zeit lang arbeitete er als Abräumer und Fetzenbursch in den Pratergastgärten, und vielleicht war es hier, wo sich in ihm […] zum ersten Mal der Keim einer Sehnsucht regte: etwas zu tun, das seinem Leben eine entscheidende Bekräftigung gab. Einmal hinter der Schank seiner eigenen Wirtschaft zu stehen." (S. 18)

Noch sind Spuren der kompletten Zerstörung des Markts im Zweiten Weltkrieg in diesem ehemals jüdischen Viertel zu sehen, das jetzt zu den schmutzigsten und ärmsten der Hauptstadt gehört, Wohnort kleiner Leute, Arbeiter, Handwerker, Ladenbesitzer, Tagelöhner. Trotz der Angst vor dem Unbekannten und Respekt vor dem unternehmerischen Risiko wagt Robert Simon, moralisch unterstützt von seiner Zimmerwirtin, der alten Kriegerwitwe Martha Pohl, und seinem Freund, dem Metzgermeister Johannes Berg, den Schritt in die Selbstständigkeit und pachtet das düstere, heruntergekommene Marktcafé. 15 Stunden schuftet er an jedem Tag der Woche, immer müde und erschöpft, oft in Sorge um das wirtschaftliche Überleben seines Herzensprojekts, anfangs allein, dann mit seiner Angestellten Mila. Doch erfüllt ihn eine bisher unbekannte Kraft, er liebt seine nie endende Arbeit und den bunten Haufen genügsamer Gäste, die sich bei Heißgetränken, Himbeersoda, Alkoholika, Schmalzbroten und Salzgurken bald regelmäßig bei ihm einfinden mit ihren Geschichten, Sorgen, Nöten, kleinen Freuden und Herzenswünschen:

"Simon musste lächeln, wenn er an all die verlorenen Seelen dachte die sich jeden Tag in seinem Café zusammenfanden." (S. 71)

Heimat der Abgehängten
Der 1966 in Wien geborene Robert Seethaler erzählt in seinem Roman "Das Café ohne Namen" wie so oft von Menschen an den Rändern der Gesellschaft, in diesem Fall von denen, die nicht am großen Aufschwung der Wirtschaftswunderzeit partizipieren und sich mit Fatalismus durchs Leben schlagen:

"Es kommt und geht sowieso alles, wie es will." (S. 162)

Wie ein Hintergrundrauschen ziehen die Veränderungen zwischen 1966 und 1976 durch diese Milieustudie, Politikernamen, Bauprojekte, die Ankunft von Gastarbeitern, die Konkurrenz chinesischer Unternehmen und das Spekulantentum, dem das Café schließlich zum Opfer fällt. Parallel zum Einsturz der Reichsbrücke im Sommer 1976 wird ein rauschendes Abschiedsfest gefeiert. Angst um Robert Simon, der die Schließung wie alles andere hinnimmt, habe ich trotz allem nicht, eher schon um seine Gäste, für die das Café zur zweiten oder gar ersten Heimat geworden ist.

Ein typischer Seethaler
Im typisch melancholischen Seethaler-Sound, verhaftet in der Gegenwart der 1960er- und 1970er-Jahre, unsentimental, ohne Ausschmückungen oder Idealisierungen und mit wertschätzender Anteilnahme, geht es um einen Protagonisten, dem der Autor seinen Vornamen und seine Initialen gegeben hat, und Cafébesucher, die einem trotz Macken und Charaktermängel ans Herz wachsen. Man belauscht Gespräche, verfolgt Lebensläufe, freut sich an gelegentlichem kleinem Glück oder leidet mit bei den weit häufigeren Schicksalsschlägen, fast so, als wäre man selbst unter den Gästen.

Obwohl "Ein ganzes Leben" aus dem Jahr 2014 für mich der unerreicht beste Roman von Robert Seethaler bleibt, gehört "Das Café ohne Namen" zu meinen Lese-Highlights 2023.

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