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Veröffentlicht am 24.08.2022

Ein literarischer Stolperstein für den Urgroßonkel

Isidor
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Einer jüdischen Tradition gemäß stirbt ein Mensch zweimal: wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn sein Name zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird. Genau wie der Künstler Gunter Demnig mit ...

Einer jüdischen Tradition gemäß stirbt ein Mensch zweimal: wenn das Herz aufhört zu schlagen und wenn sein Name zum letzten Mal gesagt, gelesen oder gedacht wird. Genau wie der Künstler Gunter Demnig mit den von ihm erdachten Stolpersteinen oder der norwegische Autor Simon Stranger mit seinem Buch "Vergesst unsere Namen nicht" verschiebt auch Shelly Kupferberg mit ihrem Debüt diesen zweiten Tod ihres Urgroßonkel Dr. Isidor Geller. Nicht nur sein Leben zeichnet sie nach, auch das seiner Eltern, Geschwister, seines Neffen, seiner Geliebten und anderer, Schicksale, die ich teilweise sogar noch interessanter fand. Initialzündung für das Buchprojekt der 1974 in Tel Aviv geborenen, in Westberlin aufgewachsenen und heute in Berlin lebenden freien Journalistin und Moderatorin war ihre Moderatorentätigkeit bei einer internationalen Tagung zu Nazi-Raubkunst und Provenienzforschung in Berlin, die sie an diesen sehr betuchten Vorfahren erinnerte. Ihr detektivischer Spürsinn war geweckt und aus dem Plan zu einem Radiofeature wurde nach überraschend ergiebigen Funden von Fotoalben, Dokumenten und Familienbriefen auf dem großelterlichen Hängeboden in Tel Aviv, in Wiener Archiven und bei der Wiener Israelitischen Kultusgemeinde dieses Buch. Eingeflossen sind außerdem Erinnerungen ihres verstorbenen Großvaters Walter Grab, der vor seiner Flucht als Neunzehnjähriger 1938 von Wien nach Palästina dem legendär reichen und erfolgreichen Onkel in dessen Kanzlei nachfolgen sollte und damit ein „gemachter Mann“ gewesen wäre.

Aufstieg und Fall
Als Sohn eines Talmudgelehrten im armen ostgalizischen Dorf Lokutni geboren, war eine Karriere als Jurist, Kommerzienrat und Wirtschaftsbereiter der österreichischen Staatsregierung dem 1886 als Israel Geller geborenen Urgroßonkel nicht in die Wiege gelegt. Ehrgeiz, Disziplin, Neugier und Aufstiegsdrang führten ihn über Kolomea und Lemberg nach Wien, wo er sich wie seine vier Geschwister gegen den Willen des Vaters niederließ. Schnell stieg er auf, assimilierte sich und erwirtschaftete nicht immer legal während des Ersten Weltkriegs ein großes Vermögen, von dem er fortan ein bequemes Leben in der Beletage eines Palais führte, umgeben von Kunstschätzen und als Liebhaber der Oper. Das größte Hochgefühl empfand der Dandy, kein reiner Sympathieträger, wie Shelly Kupferberg in Ihrem Nachwort schreibt, aber sympathisch in seiner Großzügigkeit, wenn er als „gleichberechtigtes Mitglied der guten Gesellschaft wahrgenommen wurde“ (S. 95). Dass er die Bedrohungen durch den Nationalsozialismus nicht ernstnahm, wurde ihm zum Verhängnis:

"Seinen Glauben an Recht, Ordnung und den eigenen Aufstieg hatte er über alle Warnzeichen gestellt. Der ganze Hass der letzten Jahre und Jahrzehnte habe nichts mit ihm zu tun, dachte er immer." (S. 202)

Geschichte in Form von Einzelschicksalen
Alleine wegen des Themas hätte ich zu diesem Buch wahrscheinlich nicht gegriffen, zu viele ähnliche habe ich in den letzten Jahren gelesen. Allerdings interessierte mich die Autorin Shelly Kupferberg, die ich als hervorragende Moderatorin von Autorenlesungen und –interviews sehr schätze, stets exzellent vorbereitet, klug fragend und angenehm zurückhaltend. Nun steht fest, dass sie auch schreiben kann, fundiert, klar formulierend, nachdenklich, abwägend und mit merklicher Betroffenheit, die berührt. Wer also wissen möchte, was es mit dem Reh auf dem Cover auf sich hat, und wer Geschichte gerne anhand gut erzählter Einzelschicksale liest, für den ist "Isidor" genau die richtige Lektüre.

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Veröffentlicht am 09.07.2022

Ein Leben wie ein Roman

Violeta
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"Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. Dazwischen ist Zeit, sich zu erinnern." (S. 391/392)

Nachdem sie länger gelebt hat, „als die Würde es gebietet“ (S. 387), schreibt Violeta del Valle ...

"Leben hat seine Zeit, und Sterben hat seine Zeit. Dazwischen ist Zeit, sich zu erinnern." (S. 391/392)

Nachdem sie länger gelebt hat, „als die Würde es gebietet“ (S. 387), schreibt Violeta del Valle einen Bericht, um vor ihrem geliebten Enkel Camilo Zeugnis abzulegen:

"Du wirst sehen, mein Leben ist ein Roman." (S. 7)

In den vier ähnlich umfangreichen Teilen „Die Verbannung 1920 – 1940“, „Leidenschaft 1940 – 1960“, „Die Abwesenden 1960 – 1983“ und „Wiedergeburt 1983 – 2020“ verbindet Violeta ihre Biografie mit der Geschichte eines Jahrhunderts in Südamerika, das eine nicht weniger dramatisch als das andere. Zwei Pandemien rahmen ihr Leben ein: die Spanische Grippe und die Corona-Epidemie.

Ein turbulentes Leben in dramatischen Zeiten
Während eines Sturms kommt Violeta 1920 in Chile zur Welt. Ihre wohlhabende Oberschichtfamilie büßt in der Weltwirtschaftskrise ihr Vermögen ein, nach dem tragischen Verlust des Vaters zerfällt die Familie und Violeta erlebt die Verbannung nach Patagonien, wo sie trotz der widrigen Umstände glücklich heranwächst. Leidenschaften und Sexualität prägen sie bis ins hohe Alter, vier grundverschiedene Männer begleiten sie durch ein Leben voller persönlicher und gesellschaftlicher Turbulenzen. Erst spät erkennt Violeta, die wie in ihren Kreisen üblich stets die Konservativen wählte, die Verbrechen der Junta, als sie die Leiche ihres treuen Familienbediensteten Torito anhand eines Kreuzes identifiziert:

"Ich weiß noch, wie ich mit vierundsechzig drauf und dran war, mich dem Altwerden zu überlassen, und wie Toritos Kreuz mich damals zwang, den Kurs zu ändern und ein neues Leben zu beginnen, wie es mir ein Ziel schenkte, eine Möglichkeit, nützlich zu sein, und eine wundervolle Freiheit der Seele." (S. 387)

Die Mutter als Vorbild
Die Inspiration zu Violeta verdankt die 1942 geborene Isabel Allende ihrer kurz vor Ausbruch der Corona-Pandemie verstorbenen Mutter. Wie die Titelfigur des Romans war sie schön, klug, freiheitsliebend und leidenschaftlich, allerdings erreichte sie nie deren wirtschaftliche Unabhängigkeit. Vorbild für Violetas Tochter Nieves, nach der sie im hohen Alter ihre Stiftung für Opfer häuslicher Gewalt benannte, war Allendes drogensüchtige Stieftochter und viele Anekdoten über Violetas rebellischen Sohn Juan Martín und ihren noch aufmüpfigeren Enkel sind von ihrem eigenen Sohn inspiriert.

Eine Vielschreiberin
Keine Autorin und kein Autor nimmt mit seinem Werk so viel Platz in meinem Bücherregal ein wie Isabel Allende, obwohl sie nie wieder die überragende Qualität ihres Debüts "Das Geisterhaus" von 1982 erreichte. Nichtsdestotrotz ist sie nach wie vor die weltweit meistgelesene spanischsprachige Stimme und auch ihre leichteren Romane habe ich immer wieder gern gelesen, egal, ob sie im Plauderton aus ihrem Leben erzählte oder fiktive Stoffe behandelte. Neben leidenschaftlichen Charakteren sind es besonders die politischen Themen, die mich interessieren, die sozialistischen Bewegungen Lateinamerikas, die chilenische Militärdiktatur, der Feminismus und gesellschaftliche Fragen.

Ich bin Violeta gerne durch ihr Leben vom ungezogenen Kind bis zur altersweisen Großmutter gefolgt. Statt magischen Realismus gibt es einen starken Frauencharakter mit einem unsentimentalen, selbstkritischen, teilweise humorvollen Blick auf ein Leben, das tatsächlich mehr als genug Stoff für einen unterhaltsamen, bisweilen allerdings durch die Vielzahl der Themen eher oberflächlichen Roman bietet.

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Veröffentlicht am 26.02.2022

Ende einer Teenagerfreundschaft

Die Gezeiten gehören uns
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35 Jahre und fast 250 Buchseiten trennen die jeweils ersten Sätze der beiden Romanteile von "Die Gezeiten gehören uns" der 1971 geborenen US-amerikanischen Autorin Vendela Vida:

"Wir sind dreizehn, fast ...

35 Jahre und fast 250 Buchseiten trennen die jeweils ersten Sätze der beiden Romanteile von "Die Gezeiten gehören uns" der 1971 geborenen US-amerikanischen Autorin Vendela Vida:

"Wir sind dreizehn, fast vierzehn, und die Straßen von Sea Cliff gehören uns." (S. 11)

"Wir sind fast fünfzig Jahre alt und die Straßen von Sea Cliff gehören nicht mehr uns." (S. 259)

1984 bis 1985
Hinter dem „wir“ im gut 250 Seiten umfassenden Hauptteil des Romans verbirgt sich ein zunächst unzertrennliches Freundinnen-Quartett an der Schwelle zum Erwachsenwerden. Sie besuchen eine exklusive Mädchenschule und wohnen in Sea Cliff, einem Luxusstadtteil San Franciscos am Pazifik mit unverbaubarer Sicht auf die Golden Gate Bridge. Ich-Erzählerin ist Eulabee, Tochter eines ungarnstämmigen Galeristen und einer Krankenschwester aus Schweden, hart arbeitenden Aufsteigern. Zusammen mit der schwerreichen Zuckererbin Maria Fabiola bildet sie den Kern der Clique. Seit Kindertagen sind die beiden beste Freundinnen und beherrschen das gefährliche Klettern auf den Klippen wie niemand sonst. Altersgemäß gilt das Interesse der Clique den Jungs des Viertels, aber nur die zu einer großen Schönheit heranwachsende Maria Fabiola schlägt Erwachsene wie Gleichaltrige beiderlei Geschlechts in ihren Bann.

Maria Fabiola ist nicht nur außergewöhnlich attraktiv, sie ist auch, wie ihr Name es andeutet, eine große Fabuliererin. Als sie eines Morgens auf dem Schulweg behauptet, bei einem Autofahrer unzüchtige Handlungen gesehen zu haben, bleibt Eulabee als einzige bei der Wahrheit und wird zur Geächteten. Trotzdem lässt sie sich auch in der Folgezeit nicht von Maria Fabiolas immer ungeheuerlicheren Lügengeschichten blenden. Während ihre ins Rampenlicht drängende Ex-Freundin eine Lügenlawine lostritt, erkennt Eulabee die Wahrheit so klar wie die Golden Gate Bridge, wenn der Nebel sich lichtet.

2019
Nur etwa 25 Seiten umfasst der sehr starke zweite Teil des Romans, der "Die Gezeiten gehören uns" vom reinen Jugendbuch zum All-Age-Roman macht. Nun wird klar, dass nicht die dreizehnjährige Eulabee erzählt, sondern die knapp fünfzigjährige. Angesichts von eher erwachsen klingendem Sarkasmus und schwarzem Humor erschien mir das, trotz der sonst meist zu einer Jugendlichen passenden Wortwahl, glaubhafter. Sea Cliff ist nicht mehr wiederzuerkennen. CEOs und Firmenchefs aus dem Silicon Valley haben den Stadtteil okkupiert und die ehemaligen Bewohnerinnen und Bewohner verdrängt. Weit weg von San Franzisco treffen Eulabee und Maria Fabiola sich überraschend wieder. Was ist aus ihnen geworden und wie gehen sie heute mit Wahrheit und Lüge um?

Vom Sachbuch zum Roman
Vendela Vida ist verheiratet mit dem Bestseller- und Drehbuchautor Dave Eggers und teilt ihre multikulturelle Abstammung mit ihrer Protagonistin Eulabee. Ihre Karriere als Schriftstellerin begann sie 2000 mit dem Sachbuch "Girls on the Verge" über weibliche Coming-of-Age-Rituale in den USA. "Die Gezeiten gehören" uns ist ein Roman über die Rätsel des Erwachsenwerdens, über Pubertät und erwachende Sexualität, über die Fragilität von Jugendfreundschaften und vor allem über Wahrheit und Lüge. Die mit viel Flair der 1980er-Jahre erzählte Geschichte über zwei sehr unterschiedliche Mädchen, deren Kinder- und Teenagerfreundschaft keinen Bestand hat, ist gute Unterhaltung – nicht mehr, aber auch nicht weniger.

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Veröffentlicht am 19.02.2022

Eine letzte Wette

Ein Grab für zwei
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Zwei Monate vor Beginn der Olympischen Winterspiele 2018 in Pjöngjang steckt der erfolgsverwöhnte norwegische Skilanglaufverband in der Krise. Die weltbeste Langläuferin Hege Chin Morell wurde positiv ...

Zwei Monate vor Beginn der Olympischen Winterspiele 2018 in Pjöngjang steckt der erfolgsverwöhnte norwegische Skilanglaufverband in der Krise. Die weltbeste Langläuferin Hege Chin Morell wurde positiv auf das anabole Steroid Clostebol getestet. Sie beteuert ihre Unschuld, ihr Adoptivvater, der reiche, durchsetzungsfähige Unternehmer Jan Morell, ist fest von Sabotage überzeugt. Selma Falck, seine langjährige Anwältin, ehemals erfolgreiche Spitzen-Handballerin und Noch-Ehefrau eines Abgeordneten, soll Heges Unschuld beweisen. Ihre Ermittlungen sind eine „letzte Wette“, denn Selma ist spielsüchtig und hat sein Geld veruntreut. Er hat sie deshalb gezwungen, die Anteile an ihrer Villa zu verkaufen, was Selma den Kontakt zu Mann und Kindern kostete, ihre Zulassung zurückzugeben, nicht mehr zu spielen und eine Therapie zu beginnen. Dafür will er auf eine Anzeige verzichten. Wenn sie die Wette gewinnt, soll Selma das Geld zurückerhalten.

Ein zweiter Dopingfall
Kaum hat Selma zögernd eingewilligt, kommt ein anderer Spitzen-Langläufer, ihr Patenkind Haakon Holm-Vegge, bei einem mysteriösen Unfall ums Leben. In seinem Blut wird ebenfalls Clostebol nachgewiesen.

Mit der Arbeitshypothese Sabotage macht sich Selma ans Werk. Wer profitiert von Heges Nicht-Nominierung für Olympia? Liegen rassistische Motive gegen die in China geborene Athletin in dieser urnorwegischen Sportart zugrunde? Wem schadet die positive Dopingprobe noch: dem Verband? Ihrem ehrgeizigen Vater Jan Morell? Hängen die Fälle von Hege und Haakon tatsächlich zusammen?

Eingestreut in Selmas Ermittlungen sind mit „Das Drehbuch“ überschriebene Abschnitte über einen Mann, der auf seine Therapeutin zunehmend bedrohlich wirkt, über einen nackten Gefangenen in einer sich stetig verkleinernden Zelle und über Selmas Treffen mit ihrem einzigen Freund und einstigen Mandanten, dem Ex-Polizisten und Obdachlosen Einar.

Eine hervorragende Sprecherin
"Ein Grab für zwei" ist der erste Fall einer neuen Reihe der 1958 geborenen norwegischen Juristin, Ex-Justizministerin und Bestseller-Krimiautorin Anne Holt, die deutsche Krimifans bisher vor allem von ihren Serien um die Ermittlerinnen Hanne Wilhelmsen beziehungsweise Inger Vik kennen.

Ich habe die 806 Minuten dauernde ungekürzte Lesung topaktuell während der Olympischen Winterspielen 2022 in Peking auf meinem Handy gehört, unterteilt in Tracks zu gut drei Minuten, während die Norweger wie gewohnt die Medaillen abräumten und das ein oder andere Dopingvergehen anderer Nationen bekannt wurde. Herausragend ist die Sprecherin Katja Bürkle, die ich bisher nicht kannte, mir aber merken werde. Sie liest mit einer sympathischen, warmen Stimme in angenehmer Tonlage und perfektem Tempo, ohne übertriebene Schauspielerei und bemüht um die korrekte Aussprache des Norwegischen.

Mehr als ein Krimi
Die Sozialdemokratin Anne Holt ist bekannt dafür, in ihren Krimis aktuelle gesellschaftliche Probleme aufzugreifen. Leistungssport, Doping, Korruption in Sportverbänden, Spielsucht, sozialer Abstieg, Rassismus und Medien sind nur einige der Themen, um die es in Selma Falcks erstem Fall geht. Vorbild für die Dopingproblematik war der Fall der norwegischen Spitzen-Langläuferin Therese Johaug, die 2016 nach Verwendung einer Lippensalbe positiv auf Clostebol getestet und gesperrt wurde. Manchmal war mir die Themenfülle etwas zu viel und der Fall geriet aus dem Fokus, aber insgesamt hat mich der Krimi trotzdem gut unterhalten. Die Protagonistin, die nach einer Sportverletzung am Tränenkanal nicht weinen kann, wurde mir zwar nicht besonders sympathisch, hat aber als Serienfigur viel Potential. Ich freue mich daher auf weitere Übersetzungen der in Norwegen bereits erschienenen Folgebände, gerne wieder als Hörbuch mit Katja Bürkle.

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Veröffentlicht am 30.01.2022

Zwischen Realität und Fiktion

Der Erinnerungsfälscher
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Zweimal war Said Al-Wahid seit seiner Flucht in seiner irakischen Heimat: nach dem Sturz der Diktatur, heimlich, während in Deutschland sein Asylverfahren lief und in den Straßen von Bagdad das Chaos amerikanischer ...

Zweimal war Said Al-Wahid seit seiner Flucht in seiner irakischen Heimat: nach dem Sturz der Diktatur, heimlich, während in Deutschland sein Asylverfahren lief und in den Straßen von Bagdad das Chaos amerikanischer Soldaten herrschte, und zwei Jahre später kurz vor dem Ausbruch des Bürgerkriegs. 2014 wird er plötzlich ein drittes Mal nach Hause gerufen: Sein jüngerer Bruder Hakim teilt ihm mit, dass ihre Mutter im Sterben liegt. Said, der gerade auf dem Weg von einer Podiumsdiskussion in Mainz zurück nach Berlin ist, begibt sich umgehend zum Frankfurter Flughafen:

"Said Al-Wahid hat seinen Reisepass überall dabei, egal, wohin er geht. Er hat ihn bei einem Podiumsgespräch in Mainz dabei und auch im Supermarkt um die Ecke." (S. 25)

Auf seiner Reise nach Bagdad begleiten ihn Gedanken an seine vier Jahre dauernde Fluchtodyssee, seine ersten Jahre in Deutschland mit befristeten und unbefristeten Aufenthaltsgenehmigungen, Abschiebungsandrohungen, Widerrufsverfahren, Duldung und schließlich der Einbürgerung, bürokratischen Schikanen bis heute und einem ständigen Gefühl der Unsicherheit:

"In der Fremde gibt es keine Himmelsrichtungen." (S. 8)

Traumata
Dabei ist Saids Integration eine Erfolgsgeschichte: Abitur am Studienkolleg und Studium an der Philosophischen Fakultät in München als einziger arabischer Student, Jobs zur Finanzierung, Ehe mit Monica, einer deutschen Sozialarbeiterin aus einer Mittelschichtsfamilie, der zweijährige Sohn Ilias und erste schriftstellerische Erfolge.

Worüber er mit niemandem sprechen kann, sind die „Minenfelder“ im Gedächtnis, der als Verräter hingerichteten Vater, über den geschwiegen werden musste, die im Bürgerkrieg mit ihrer Familie getötete Schwester und die traurige Mutter, die mit Krisen umgehen kann, nicht jedoch mit glücklichen Momenten. All dies beeinträchtigt sein Erinnerungsvermögen:

"Said scheiterte bei jedem Versuch, einen längeren Text zu verfassen. Es war grauenhaft." (S. 47)

Erst als er beginnt, die Gedächtnislücken mit Fiktion zu füllen, erlebt er einen „Schreibdurchfall“.

"Der Erinnerungsfälscher" des deutsch-irakischen Autors Abbas Khider ist mit gerade einmal 124 Seiten leider ein sehr kurzer Roman. Albtraumhafte Flucht aus einem desolaten Land, Ankommen in Deutschland, das auch den integrationswilligsten Schutzsuchenden immer neue bürokratische Felsbrocken in den Weg rollt, Rassismus und Vorurteile in der neuen sowie schwierige Besuche in der alten Heimat, wo sich auch Jahre nach dem Sturz der Diktatur nichts zum Besseren entwickelt, sind seine Themen.

Mehrwert der Perspektive
Wie bei "Herkunft" von Saša Stanišić oder "Eine Formalie in Kiew" von Dmitrij Kapitelman liegt der besondere Wert von Abbas Khiders Roman für mich in der Perspektive des Migranten, der aus eigener Anschauung schreibt. Zwar betont er in Interviews, dass "Der Erinnerungsfälscher" ein literarisches Werk und keine Biografie sei, sein eigenes Schicksal als 1973 in Bagdad geborener Autor, seine Flucht 1996 nach mehreren Gefängnisaufenthalten und die Ankunft in Deutschland 2000 liefern jedoch erkennbar die Vorlage.

Dass man trotz der traurigen Thematik bei der Lektüre nicht verzweifelt, liegt am gelungenen Wechsel zwischen nüchtern wiedergegebenen Fakten und Poetik, den originellen Sprachbildern, dem Wortwitz und Humor und dem immer durchscheinenden Optimismus. Unfassbar, dass Abbas Khider erst mit 27 Jahren die deutsche Sprache erlernt hat!

Sowohl für die deutsche Literatur als auch für die politische Debatte hierzulande sind Stimmen wie die von Abbas Khider eine große Bereicherung. Höchste Zeit also für mich, auch seine vier früheren, etwas umfangreicheren Romane kennenzulernen.

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