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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.07.2018

Lektüre mit Distanz

Wenn wir wieder leben
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Der Einstieg in den Roman ist durchaus vielversprechend, war es doch eine Zeit in Deutschland, die wir heut nur noch durch den Nebel der Erinnerung heraufbeschwören können. Ja, ja, die Sechziger, als Studenten ...

Der Einstieg in den Roman ist durchaus vielversprechend, war es doch eine Zeit in Deutschland, die wir heut nur noch durch den Nebel der Erinnerung heraufbeschwören können. Ja, ja, die Sechziger, als Studenten sich siezten und der erste Hauch des Aufruhrs durch die Republik wehte. Arbeiterkinder an der Uni waren Exoten, und die Medien sprachen von ‚Heimatvertriebenen und Flüchtlingen‘ - gemeint waren die Zuwanderer aus dem Osten des untergegangenen Nazi-Reichs.
Aber je weiter die Lektüre voranschreitet, desto mehr Distanz baut der Leser insbesondere gegenüber den Protagonisten auf: es sind weitgehend Pappkameraden, die für etwas stehen, was die Autorin sie behaupten lässt, die aber keinesfalls ein Eigenleben entwickeln.
Geht es dann rückwärts mit der historischen Perspektive, entwickelt sich Charlotte Roths Roman zu einem Volkshochschulkurs: vielerlei Kenntnisse über Danzig während der Nazizeit werden ausgebreitet, ohne dass die erzählte Geschichte der Menschen und der historische Hintergrund wirklich zu einer unauflöslichen Einheit verschmelzen.
Schade - denn die deutsch-polnische Vergangenheit ist doch bestimmt noch eine terra incognita für die meisten von uns!

Veröffentlicht am 26.01.2022

Kurzweilig, leichtfüßig, allzu bemüht

Eure Leben, lebt sie alle
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Wieder mal so ein Buch, das wirklich alle Klischees bedient: Frauenbuch, Frauenthemen, Frauenprobleme. Wie am Reißbrett ist der Handlungsaufbau konstruiert. Alle Spielarten weiblicher Charakteranlagen ...

Wieder mal so ein Buch, das wirklich alle Klischees bedient: Frauenbuch, Frauenthemen, Frauenprobleme. Wie am Reißbrett ist der Handlungsaufbau konstruiert. Alle Spielarten weiblicher Charakteranlagen kommen zum Zuge: die Kümmerin, die Narzisstin, das Sensibelchen, das Powerweib - und über allen thront die mütterliche Freundin, an der Oberfläche abgeklärt und weise, aber mit massiven Altersängsten, deren jung verstorbener Sohn die Konstruktion des weiblichen Quintetts zusammenhält. Alle, wirklich alle Probleme von Frauen in der Lebensmitte werden heruntergefiedelt, dargeboten in einem Tonfall, der penetrant um Beifall heischt: bin ich nicht witzig, sind meine Formulierungen nicht originell? Eine flotte Feierabendlektüre, ja - ein ambitioniertes Zeugnis literarischer Gestaltung: ganz gewiss nicht!

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Ja - aber

Der rechte Pfad
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Begabung? Zweifellos! Potenzial? Durchaus! Stringent? Leider nicht! Kaum jemals hab ich so bedauert, nur ein eher durchwachsenes Lob aussprechen zu können.

Das Sujet packt den Leser sofort, wenn er nur ...

Begabung? Zweifellos! Potenzial? Durchaus! Stringent? Leider nicht! Kaum jemals hab ich so bedauert, nur ein eher durchwachsenes Lob aussprechen zu können.

Das Sujet packt den Leser sofort, wenn er nur ein Organ für die aus der Zeit gefallene Religiosität dieser weltabgewandten Brüdergemeinde von Welsum aufbringen kann.

Die Wahl des Protagonisten Benni ist überaus klug, da er der Gemeinschaft nur lose verbunden ist, lebt er in seiner Kindheit und Jugend doch zumeist bei seiner eher weltlich eingestellten Mutter in der Großstadt und verbringt nur seine Ferien bei dem ihm fremd bleibenden Vater, der seinerseits nicht in der Lage ist, ein enges Verhältnis zu seinem Sohn aufzubauen.

Es zeigt sich alsbald, dass innerhalb der Gemeinde ein Bruch verläuft. Während die Angehörigen der älteren Generation ungebrochen sich ihrem Dogma verpflichtet fühlen, lassen sich bei den Jüngeren deutliche Spuren von Erosion verzeichnen. Am offenkundigsten treten diese bei Gideon mit seinen homoerotischen Neigungen und der lebenshungrigen Hanna zutage, während ihre Zwillingsschwester Lea oberflächlich betrachtet dem weiblichen Rollenbild zu entsprechen scheint. Auffällig jedoch, dass sie von ihren fünf Kindern überfordert scheint und auch den Ehemann kaum zu halten vermag. Auch an der Figur der Maria, wiederum der Elterngeneration zugehörig, werden Vereinsamung und Zerbrechen augenfällig demonstriert.

Weitaus wirkungsvoller allerdings wäre dieser Roman ausgefallen, hätte die Autorin sich einer disziplinierten Erzählökonomie befleißigt. Allzu ausufernd die Entfaltung der Handlungselemente, in immer neuen Variationen das vom Leser längst Begriffene wiederholend, so dass die Betroffenheit bald dem Gefühl von Überdruss und Verdrossenheit weicht. Umso bedauerlicher, da die Intensität der sprachlichen Gestaltung, das ambitionierte Überblenden der Zeitebenen die schönsten Anlagen erkennen lassen. Bleibt zu hoffen, dass ein engagierter Lektor diese vielversprechende Autorin zu einem stringenteren Einsatz ihrer sprachlichen Mittel zu leiten vermag!

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Veröffentlicht am 23.12.2023

Vom Hölzchen aufs Stöckchen

Die Verletzlichen
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Zunächst hatte der Leser ja durchaus Veranlassung, vom unorthodoxen Erzähleinstieg verblüfft bis entzückt zu sein: von den unangenehmen Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie über recht beliebige Kindheits- ...

Zunächst hatte der Leser ja durchaus Veranlassung, vom unorthodoxen Erzähleinstieg verblüfft bis entzückt zu sein: von den unangenehmen Begleiterscheinungen der Corona-Pandemie über recht beliebige Kindheits- und Jugenderinnerungen bis hin zu dem emotionalen Gehalt der Bezeichnungen für Blumen, die diese zu geeigneten Mädchennamen machen.

Wenn aber dann doch endlich die tatsächliche Romanhandlung einsetzt, kommt es bei der Lektüre zunehmend zu Abwehrreaktionen. Ein Reigen von Frauengestalten bevölkert die Seiten, deren vorherrschende Merkmale darin bestehen, vorwiegend in Kreativberufen tätig, finanziell mehr als gut gestellt und als Charaktere weitgehend ununterscheidbar zu sein. Ausgestattet mit mehreren Wohnsitzen, kommt eine existentielle Bedrohung kaum zum Tragen. Wenn alles Denken und Trachten einer dieser Frauengestalten sich auf den in New York zurückgebliebenen Papagei richtet, dann ist das angesichts der Hunderttausenden von Toten während dieser Pandemie ein Beispiel für Privilegien, weniger für die im Romantitel angesprochene Vulnerabilität.

Im weiteren mäandert die Handlung zwischen allen Fährnissen dieser mittelalterlichen Frauen aus der Intellektuellenschicht herum: von später Mutterschaft bis zur Distanz zu den erwachsen werdenden Kindern. Zwischendurch schwenkt die Autorin unvermittelt um zu ihren Streifzügen durch literarische Gefilde: ein wildes name dropping, bei dem kaum je mehr als ein paar Zeilen einem Gedankenschnipsel gewidmet werden.

Fazit: eine mit Neugier und Elan begonnene Lektüre, die allzu bald in reine Verärgerung mündete.

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Veröffentlicht am 11.10.2022

Too Much

People Person
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Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu ...

Eine wilde Herzjagd durch Themen, Handlungselemente, Charaktere, Stilebenen erwartet den Leser.

Im Eingangsteil glaubt er noch, es mit einer Familiengeschichte der dysfunktionalen Provenienz zu tun zu haben, mit einer Vaterfigur, die nicht einmal den Mindestanforderungen für diese Rolle genügt.

Dann allerdings schlägt die Handlung nach einem beträchtlichen Zeitsprung jäh um in eine toxische Beziehungsgeschichte der mittleren Tochter, die umgebogen wird zu einer parodistischen Krimistory, burlesk etwa im Stil von der „Ehre der Prizzis“ oder „Blues Brothers“.

Erneut wird ein Haken geschlagen, und es folgen endlose Ausführungen in Küchenpsychologie, in der alle fünf Geschwister mit Knacks den Weg der Läuterung beschreiten, gipfelnd in dem schlichten Happy Ending des Ich-bin-okay-du-bist-okay, abgerundet durch das Abtreten der nunmehr entbehrlichen Generationen.

Wes Geistes Kind die Autorin ist, erweist sich in der 6(!)seitigen Danksagung, die in bemühtem Witz einer ungezählten Anzahl von Unterstützern und Weggefährten ihre Reverenz erweist.

Weniger wäre mehr gewesen: die Entwicklung von Resilienz in allen fünf Geschwistern darzustellen, um den Mangel an Verantwortungsbewusstsein, Interesse und Fürsorge vonseiten ihres Erzeugers zu kompensieren, hätte einen höchst befriedigenden Familienroman ergeben können.

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