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Veröffentlicht am 18.01.2019

„Ich habe gar nicht überlebt. Ich brauche nur länger, um zu sterben.“

In Gesellschaft kleiner Bomben
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Das Attentat von gestern vergessen wir schnell. Vor allem wenn es nur wenige Tote gefordert hat. Wenn nur eine kleine Bombe gezündet wurde. Wenn es einen Landstrich getroffen hat, mit dem wir nichts verbinden. ...

Das Attentat von gestern vergessen wir schnell. Vor allem wenn es nur wenige Tote gefordert hat. Wenn nur eine kleine Bombe gezündet wurde. Wenn es einen Landstrich getroffen hat, mit dem wir nichts verbinden. Wenn es um einen politischen Kampf geht, den die Mehrheit nicht versteht. Diese kleinen Bomben fordern dennoch Jahr für Jahr Opfer, in der Summe auch viele Todesopfer, und darüber hinaus auch viele Versehrte, Verkrüppelte, Verschreckte und Verdorbene.

Mahajans wichtiger Roman bringt uns ganz nah an eine dieser „kleinen Bomben“ heran, lässt uns sogar in starken Passagen zur Bombe werden, die die Augen aufreißt, und führt uns an die Opfer und Täter heran, die mit der Detonation der Bombe schicksalhaft verbunden werden: Täter, Opfer, Angehörige, Nachbarn, Aktivisten und Helfer. Als auf dem Markt Lajpat Nagar die kleine Bombe hochgeht, verlieren die Khuranas ihre beiden Söhne, deren Freund Mansoor aber überlebt. Das Ehepaar Khurana und Mansoor stehen im Mittelpunkt der Handlung - wir begleiten ihre Gefühle, Gedanken und Entwicklung eng und ungefiltert. Die Stärke des Romans ist die unsentimentale Abschaffung der Distanz zum Innenleben der Opfer, und diese Stärke tut weh. Noch mehr schmerzt Mansoors Transformation vom Bombenopfer zum Propagandaopfer, sein Weg aus dem Explosionsschatten hinaus in die Welt der Brandstifter und Verführer: „Ich habe gar nicht überlebt. Ich brauche nur länger, um zu sterben.“ (S. 215) An diese übergibt der Rom an den Staffelstab der Handlung, genauer: an den umgedrehten Pazifisten Ayub, dessen erschreckendem Wandel wir erneut zu nahe kommen, als dass wir uns abwenden könnten.

Was in Opfern und Tätern vorgeht, wie aus Menschen Mörder werden, das es unerheblich ist, wie groß oder klein die Bombe ist - das führt dieser wichtige Roman unmittelbar und ungetrübt vor Augen. Ein wichtiges Buch, das beim Begreifen dessen hilft, was uns die aktuelle Gewalt des Terrors in der Welt für Aufgaben als Menschen stellt.

Veröffentlicht am 18.01.2019

keine leichte Geschichte, sehr gut erzählt

Die Geheimnisse der Welt
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Als ich „Die Geheimnisse der Welt“ von Lisa O’Donnell vom Tisch der Mängelexemplare nahm, ahnte ich noch nicht, was für ein Kleinod dieses Buch ist. Mich hatten das Cover angesprochen - ein Fußball spielender ...

Als ich „Die Geheimnisse der Welt“ von Lisa O’Donnell vom Tisch der Mängelexemplare nahm, ahnte ich noch nicht, was für ein Kleinod dieses Buch ist. Mich hatten das Cover angesprochen - ein Fußball spielender Junge durchs Schlüsselloch im Scherenschnitt - und der Klappentext - auf der kleinen schottischen Insel „kennt jeder jeden“, doch „es gibt auch Geheimnisse“, die der Junge ehrausfinden wird, zum Beispiel über seine Mutter. Ich hatte eine leichte Coming-of-Age-Geschichte erwartet. O’Donnell erzählt auch eine, aber keine leichte …

In der Familie des elfjährigen Michael gibt es einen katastrophalen Wendepunkt: Seine Mutter kommt eins Tages zerschunden, blutig und am Boden zerstört nach Hause. Dem Leser ist klar, dass sie vergewaltigt wurde, dem jungen Erzähler hingegen nicht. Alles, was kommt, wird durch die Augen des Jungen betrachtet, von ihm reflektiert und dem Leser erzählt. Michael versteht nur allmählich, was passiert ist und immer noch geschieht, wie nämlich die häusliche Gemeinschaft der Familie und das Miteinander mit den Nachbarn und der ganzen winzigen Gemeinde von Rothesay Stück für Stück zerbröckelt. In Michaels Schilderung erkennt der Leser das ganze Ausmaß der zersetzenden Kraft, die von Notlügen, Verheimlichung und falscher Scham ausgeht. Am Ende des zweiten Drittels sind die Spannungen in den sozialen Bindungen kaum noch auszuhalten, zumal der Leser fast alles überschaut, obwohl er eigentlich nicht mehr wissen kann, als Michael erzählt. Das ist sehr gut gelungen und entwickelt eine literarische Schärfe, wie man es sich wünscht, wenn Autoren Wesen und Anliegen einer Geschichte herausarbeiten, indem sie sie richtig erzählen.

Auf dem Buchrücken schwärmt die ‚Sunday Times‘ zutreffend von „Michaels Erzählstimme […] - aufmerksam, nachdenklich, witzig und vollkommen glaubwürdig.“ Es ist allerdings ausgerechnet dieser literarische Spiegel, diese Erzählstimme, die mein Lesevergnügen je länger, je mehr ein wenig störte: ich hatte das Gefühl, verstanden zu haben, warum und wie der Elfjährige und die Geschichte funktionieren - ich wollte das nicht immer und immer wieder lesen. Auch schimmerte ein moralischer Impetus bisweilen etwas banal und platt durch die Zeilen. Aber das sind Einschränkungen, die eine Leseempfehlung für dieses Schmuckstück kaum einschränken: eine Lektüre, die sich lohnt!

Veröffentlicht am 18.01.2019

Vom Krieg schreiben, vom Krieg zu zweit

Alabama Song
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Gilles Leroy schreibt einen Roman, eine Romanbiographie, keine Biographie. Zum Glück? Weil man Zelda Fitzgeralds, der Frau des Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, dieses Leben nicht gewünscht hätte?

Zelda ...

Gilles Leroy schreibt einen Roman, eine Romanbiographie, keine Biographie. Zum Glück? Weil man Zelda Fitzgeralds, der Frau des Schriftstellers F. Scott Fitzgerald, dieses Leben nicht gewünscht hätte?

Zelda und Scott Fitzgerald haben einander nicht gut getan. Geheiratet, weil sie berühmt werden wollten, weniger aus Liebe, zusammengeblieben aus Gewohnheit und weil es sich so gehörte, herabgerissen vom Alkohol und dem Leben im Exzess, vereint im „Krieg zu zweit“ (S. 149). Sie starben beide, noch ehe sie 50 wurden, er dem Vergessen entgegentaumelnd als versoffener Versager, sie eingesperrt in ein brennendes Irrenhaus.

Daraus entwickelt Leroy die Lebensbeichte Zeldas, ihren Schrei nach Leben - einem anderen nämlich, als sie es geführt hat. „Welch ein Glück, ein Mann zu sein! Wie traurig, eine Frau zu sein“ (S. 214), vor allem wenn diese Frau so selbstbestimmt ihr Leben als Abenteuer gestalten will und dabei an die Grenzen stößt, die von der Gesellschaft, der Konvention, ihrem Gatten und - hier wird es tragisch - den eigenen Beschränktheiten gesetzt werden. Die Liebe ihre Lebens nennt Zelda den Monat mit dem französischen Flieger Jozan; hier nämlich durfte sie Frau sein, ohne Ehefrau sein zu müssen; Künstlerin, ohne gekünstelt zu sein, exaltiert, ohne eine Publikumserwartung auf den nächsten Skandal erfüllen zu müssen.

Zeldas Wahnsinn ist - in Leroys Roman - ihre Antwort auf das Scheitern ihrer Träume und den Widerstand von außen: Sie zieht sich zurück in eine andere Wirklichkeit und nimmt dorthin mit, was immer sie benötigt. Die Dialoge mit den wechselnden Psychiatern sind brillante Schaufensterblicke in Zeldas Version ihrer Vergangenheit, auch der Vergangenheit ihrer Zukunft.

Man wünscht Zelda, dass ihr Leben besser war als Leroys Interpretation; und man hofft, dass Scott Fitzgerald ein nicht ganz so verkommenes Scheusal gewesen ist, wie Zeldas Anklage ihn dastehen lässt.

Ein gutes Buch, das sich Seite für Seite entblättert.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Tarkowski lässt grüßen

Internat
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Mir hat an diesem Roman gefallen, dass er einen Protagonisten ins Zentrum stellt, der hin- und hergerissen ist zwischen dem, was man tun sollte, was man tun kann und was man tun muss. Ständig hinterfragt ...

Mir hat an diesem Roman gefallen, dass er einen Protagonisten ins Zentrum stellt, der hin- und hergerissen ist zwischen dem, was man tun sollte, was man tun kann und was man tun muss. Ständig hinterfragt Pascha, was er tut - zweifelt an sich und kämpft sich dennoch vorwärts. Warum? Weil er so viel falsch gemacht hat im leben? Weil er seinen Neffen liebt, den er durch den Bürgerkrieg abholen will? Weil er etwas richtig machen will? Weil es ihm niemand zugetraut hat? Letztendlich ist es egal - denn Pascha tut es, während gleichzeitig der Autor Serhej Zhadan über das Gefühl der Zusammengehörigkeit, der Moral und des Alleinseins nachdenken lässt.

Die Handlung spielt in einer postapokalyptischen Landschaft à la Tarkowski, mit der zwar die östliche Ukraine gemeint ist (einmal wird ein Fluss dort beim Namen genannt, ansonsten bleiben alle Orte namenlos), die aber eigentlich überall sein könnte. Tauscht man "Ukrainisch" und "Russisch" gegen Adjektive beliebiger Krieg führender Parteien aus, fehlt dem Roman lediglich die Aktualität, nicht aber die Intensität. Denn Krieg in der Nachbarschaft (und nicht nur dort) ist immer grausam.

Der Stil ist nicht immer schmackhaft und eingängig; dennoch bleibt das Buch hängen und arbeitet hinter der Stirn noch lange weiter. Und das ist gut so für einen Antikriegsroman.

Veröffentlicht am 18.01.2019

Mehr als nur ein Partyspaß ...

Fragebogen
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… aber als ein solcher auch verwendbar: Die vielen klugen Fragen, die Frisch dem Leser aufträgt zu bedenken, lassen sich auch als Anlass nehmen, gemeinsam laut zu denken, sich zu vergleichen und ein wirkliches ...

… aber als ein solcher auch verwendbar: Die vielen klugen Fragen, die Frisch dem Leser aufträgt zu bedenken, lassen sich auch als Anlass nehmen, gemeinsam laut zu denken, sich zu vergleichen und ein wirkliches Gespräch zu führen. Ich habe das Buch zunächst allein gelesen, mir über die Fragen Gedanken gemacht (und über meine Antworten) und mich über die Aktualität der Themen gewundert und gefreut. Und dann haben wir in größerer Runde über einige Fragen diskutiert - das war erhellend und spannend zugleich.

Ich denke, dass man grade als Heranwachsender sich die Fragen Frischs einmal zu Gemüte geführt haben sollte.