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Veröffentlicht am 17.05.2019

Die Stärkung des Einzelnen gegenüber den Vielen

Pause für Wanzka
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Wenn ich heutzutage DDR-Literatur lese, dann habe ich oft das Gefühl, dass die Geschichte wie eine alte Matrizen-Kopie sind: blass, nicht farbecht, provisorisch und zu den Rändern hin altersbraun verfärbt. ...

Wenn ich heutzutage DDR-Literatur lese, dann habe ich oft das Gefühl, dass die Geschichte wie eine alte Matrizen-Kopie sind: blass, nicht farbecht, provisorisch und zu den Rändern hin altersbraun verfärbt. Das trifft in Teilen auch auf Wellms „Pause für Wanzka“ zu, aber dahinter steht eine humane, allgemeingültige Weisheit über die Notwendigkeit, das Individuum vor dem Kollektiv zu verteidigen. Und deshalb habe ich diesen Lehrerroman gerne gelesen.

Die Muffigkeit des DDR-Schulalltags entsteht auch durch die lähmende Ideologie, der sich Sprechen und Handeln des „Lehrerkollektivs“ unterwerfen, das wiederum seine Schüler unter die Kaderanforderungen der sozialistischen Einheitsgesellschaft zwingen will und soll. In diese muffige Provinzschule lässt sich der kurz vor der Pensionierung stehende Kreisschulrat Wanzka versetzen: Er will noch einmal richtig als Lehrer arbeiten, von Lehre zu Schüker, von Mensch zu Mensch. Schon dieser Wunsch erweist Wanzka als Individualisten aus, den sein Bürokratendasein in der Kreisschulbehörde zu einer Art inneren Immigration getrieben hat, aber auch dazu, wieder „konkret“ zu werden. „Konkret“ und „konsequent“ sind Modewörter der DDR-Gesellschaft jener Zeit. Wanzka eckt in der kleinen Schule in Mirenberg aber an, denn zu unkonventionell sind seine Methoden, zu nonkonform seine Ideen.

Der Roman holpert sich durch die unterschiedlichen Szenen von Wanzkas Verwandlung zunächst in den Vorbildlehrer und dann den leisen Lehrerrebellen. Als aber die Konfrontation zwischen dem System und Wanzkas Engagement für das Individuum akut wird, als er nämlich das von ihm entdeckte Mathematiktalent Norbert „Konsequent“ Kniep gegen die rechtwinklige Strenge des Stromlinienlehrers Seiler verteidigt, nimmt auch der Roman Fahrt auf. Die Wendung „gegen die Kollektiverziehung“ (S. 160) bringt Wanzka ins Abseits, wo er nur von seinem halbverrückten Kollegen Bientzek, dem Faktotum Pikors und der Junglehrerin Marlott Unterstützung erfährt.

In Marlott wächst das Verständnis für Wanzkas Anliegen, und in der finalen Konfrontation mit Seiler formuliert sie den Vorwurf: „Der Mensch müsse erst bezwungen werden, auf daß er für uns paßt, auf daß der für den Sozialismus paßt.“ (S. 313) Wellms Roman richtet sich gegen die Gleichmacherei des Kollektivs, das alles Außergewöhnlich wir Unkraut ausjätet, auch und vor allem Talente und Genies.

Ein Nachwort weist auf die Parallelen zwischen Wanzka und Wellm hin, der sich selbst al Kreisschulrat auf eine Lehrerstelle versetzen ließ, und erläutert auch den schwierigen Publikationsprozess des Romans in der DDR.

Die Reihe wiederentdeckter DDR-Romane im Verlag Faber & Faber beschert mit diesem Roman einen nicht immer konzis erzählten, aber lesenswerten Roman mit einem humanistischen Anliegen, dessen Gültigkeit noch immer besteht.

Veröffentlicht am 07.03.2019

Support your local dealer

Lola
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Lola“ ist ein spannender, menschlicher und unterhaltsamer Roman - aber kein unproblematischer. Im Zentrum steht die taffe Lola, die heimliche Anführerin der Gang „The Crenshaw Six“, die ihre Gangmitglieder ...

Lola“ ist ein spannender, menschlicher und unterhaltsamer Roman - aber kein unproblematischer. Im Zentrum steht die taffe Lola, die heimliche Anführerin der Gang „The Crenshaw Six“, die ihre Gangmitglieder mit viel Talent und Empathie aus dem Hintergrund steuert. Sie ist cool: „Da war Lola klar geworden, dass sie keine Vaterfigur brauchte. Sie war die Vaterfigur.“ (S. 200) Als das Kartell und eine neue Konkurrenz auf höherer Ebene auftauchen, muss Lola aus der Deckung kommen und sich entscheiden: Soll die Gang aufsteigen und mehr Macht und Einfluss bekommen oder kommt sie unter die Räder?

Wo ist das Problem? Lola ist nicht nett. Sie ist keine Heldin, die sich für das Gute einsetzt, sondern eine Verbrecherin, die Rauschgift verkauft, Menschen tötet und Gangmitglieder blutig maßregelt. Klar - Lola ist cool. Lola sorgt dafür, dass Drogen nicht an Kinder verkauft werden. Lola hat mit Lucia ein Mädchen, das sie zu ihrem ganz persönlichen Projekt „besseres Leben“ machen kann. Lola ist außerdem heimatverbunden: Ihr Viertel ist ihr gehegter Garten, hier sorgt sie für cleane Drogen, frei nach dem Motto „support your local dealer“. Die Autorin Melissa Shrivner Love hat jede Menge Motive eingebaut, warum man dennoch auf Lola Seite sein kann. Doch auch wenn erzählerisch die Grausamkeiten notwendig sind, um die Figur Lola als Gangleader glaubwürdig zu gestalten - nicht jeder will lesen, wie die Verbrecher erfolgreich sind.

Auf der anderen Seite gewährt die Lektüre durch die „Täterperspektive“ einen ungewohnten Einblick in das Gangmilieu in Los Angeles, auf die Schattenseite des „land of milk and honey“ Kalifornien. Wann schaut man schon einmal dem Boss eines mexikanischen Drogenkartells in die Augen und will seinen Job? Die Figuren dieses Romans sind keine Helden, sie sind gleichzeitig „gut und böse, richtig und falsch, schwarz und weiß“ (S. 367).

Ein runder Roman - spannend, aut

Veröffentlicht am 29.01.2019

Winteranzug in Echtfelloptik mit „High Neck“ und „Schweiflatz“

Papa Wundertsich - Wahrscheinlich gucke ich falsch
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„Papa Wundertsich“ – das sind dreißig witzige, gut beobachtete, ereignisreiche und treffsichere Episoden aus dem Leben eines Pferdepapas. Also eines Vaters mit einer reitbegeisterten Tochter. Das ist überraschend ...

„Papa Wundertsich“ – das sind dreißig witzige, gut beobachtete, ereignisreiche und treffsichere Episoden aus dem Leben eines Pferdepapas. Also eines Vaters mit einer reitbegeisterten Tochter. Das ist überraschend lustig – auch für solche, die keine Pferdenärrinnen zum Kind haben, weil Autorin Anja Nehls ihren Glossen einen ironischen Außenblick nicht nur auf die Welt der Reiter, sondern vor allem auf den Alltag in der Familie und Eltern-Töchter-beziehungen wirft.

Papa Wundertsich ist ein liebevoller Vater, etwas passiv und naiv, aber stets bereit, seine Tochter zu unterstützen und glücklich zu machen – und sei es nur mit dem Portemonnaie.

Auch ohne intime Kenntnis des Pferdes als solchem oder Zotteline im Speziellen erheitern die zuerst in der Zeitschrift „Reiten und Zucht in Berlin und Brandenburg-Anhalt“ erschienen Geschichten, etwa wenn sich Papa Wundertsich Sorgen über die Wintertauglichkeit des Großviehs Sorgen macht und die Lösung gegen das Pferdefrieren vorstellt: ein Winteranzug „in Echtfelloptik“ mit „Winterdesign Sibirischer Tiger“ in verschiedenen Ausführungen und Extras wie „High Neck“, „Kreuzbegurtung“ und „Schweiflatz“. Hier nimmt Nehls augenzwinkernd die Reiterbegleitwirtschaft aufs Korn, die auf vielen anderen Seiten auch fröhliche Urständ in Form von modischen Accessoires feiert, die Heranwachsende chic finden.

Begleitet werden die launigen Glossen von entzückenden Tuschezeichnungen von Christine Berghausen, die jedem Kapitel lebendige Szenenbilder beisteuert. Dass diese detailreichen Zeichnungen ganz offensichtlich nicht mit dem Computer erstellt, sondern noch von der Künstlerin eigener Hand hergestellt wurden, macht ihren besonderen Charme aus.

„Papa Wundersich“ bedient ein „special interest“ – aber nicht nur!

Veröffentlicht am 18.01.2019

Gute Laune im Hauptstadtrhythmus

Kriminalboogie
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Mara und Pia sind nicht nur zwei ungewöhnliche Ermittlerinnen - selbstbewusste Frauen mit zwei Beinen fest auf dem Boden, ein paar schrillen Schrullen und einer flexiblen Einstellung zu den Überraschungen ...

Mara und Pia sind nicht nur zwei ungewöhnliche Ermittlerinnen - selbstbewusste Frauen mit zwei Beinen fest auf dem Boden, ein paar schrillen Schrullen und einer flexiblen Einstellung zu den Überraschungen de Lebens. Sie sind auch Berlinerinnen, und dit is och jut so! Ines Eichelbaum trifft mit den beiden den Ton der Hauptstadt(region), weshalb das Berliner Idiom auch der heimliche Held des ausgesprochen rhythmischen „Kriminalboogies“ ist.

In dem als „humorvollen Berlin/Brandenburg-Krimi“ bezeichneten Roman erbt Mara von ihrer schrecklichen Tante Cäcilie nicht nur eine unbekannte Menge Geldes, sondern auch einen Haufen Ärger, wie ihn nur Wilmersdorfer Witwen - auch außerhalb der Linie 1 - verbreiten. Dass die beiden Ermittlerinnen zwischen einem Notar vom Kaliber Graf Zahls, einem Psychiater mit den Sympathiewerten Rasputins auch auf versoffene Brandenburger Bullen und eine quicklebendige und „okaye“ Rockabilly-Szene treffen, lässt die Handlung so richtig swingen. Lauter skurrile Figuren und schräge Begegnungen sorgen für eine anhaltend gute Laune bei der Leküre. Ein paar Adjektive könnte man weglassen - dann wäre noch mehr Platz für Mara und Pia, die im Übrigen selbstredend den richtigen Detektivriecher haben und den Fall und seine Nebenfälle aufmischen.

Rhythmus und Ton stimmen!

Veröffentlicht am 18.01.2019

Satire auf ein gutes Steak, blutig oder well done - aber keinesfalls medium!

Der rote Stier
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Nero Wolfe ist schon ein ziemlicher Stoffel - eingebildet, ungeduldig und bis zur Unverschämtheit schroff zu seinen Mitmenschen. Ein Angestellter muss schon hart im nehmen sein - oder ähnlich veranlagt ...

Nero Wolfe ist schon ein ziemlicher Stoffel - eingebildet, ungeduldig und bis zur Unverschämtheit schroff zu seinen Mitmenschen. Ein Angestellter muss schon hart im nehmen sein - oder ähnlich veranlagt -, um sich das jahrelang gefallen zu lassen. Archie Goodwin, der Ich-Erzähler, ist beides. So gesehen sind Wolfe und Goodwin Antihelden - weil sie nichts Heldenhaftes haben und bisweilen sogar ziemlich unsympathisch sind.

Warum macht es trotzdem so viel Spaß, Stouts Krimi zu lesen? Weil Wolfe extrem intelligent ist und hinter die Fassade zu schauen vermag. Er reißt den Halbgescheiten und Bornierten um sich herum die Maske vom Gesicht - das ist unverschämt und übergriffig, aber auch oft notwendig. Rex Stout hat dem „Der rote Stier“ eine Kriminalsatire auf die amerikanische Wettbewerbsgesellschaft und die Kleintierzüchtermentalität der Provinz geschrieben. Nur dass es hier um große Tiere geht - um Guernseyrinder, um genau zu sein. Ironie darf beißen, Satire muss wehtun, sonst wirkt sie nicht.

Wer deren Namen liest, kann die Züchter und Tierschauen nicht mehr ernst nehmen: Thistleleaf Lucifer, Willowdale Zodiac, Hawleys Orinocco, Hickory Buckingham Pell oder Hickory Caesar Grindon. Eben jener Caesar ist die Hauptfigur des Romans: Er ist Opfer und Töter zugleich. Als Zuchtstier mit dem höchsten je erzielten Preis soll er für Werbezwecke eines Fastfood-Restaurantbesitzers gerillt werden - ein Sakrileg! Caesar aber hat selbst Dreck am Stecken (oder Blut an den Hörners): er soll Clyde Osgood aufgespießt haben.

Nero Wolfe ermittelt, um die Unschuld eines Steaks zu ermitteln - auch hier zeigt sich die satirische Grundkonstruktion des Krimis, der nur scheinbar viele Winkelwege geht, denn eigentlich ist die Auflösung so simpel wie „zwingend“, wenn der alles durchschauende Wolfe endlich mit seiner Sicht herausrückt. Bis es soweit ist, blicken wir durch Goodwins Augen und begleitet von seinem sarkastischen Kommentar auf eine spezielle menschliche Kaste und ihre großen und kleinen Fehler. Ob Goodwin eine Knastbrudergewerkschaft gründet, Rinderzüchter Schnappatmung bekommen, weil ein prämierter Bulle gegrillt werden soll, ob ein Gauner aus New York von Wolfe auseinandergenommen wird oder Wolfe angesichts eines Mannes, der auf sein Mittagessen sprachlos bis auf ein Wort wird (“grotesk!“ S. 238) - immer amüsiert der ironische Unterton, selbst wenn es grob wird. Die gegenübergestellten Gegensätze dienen der ironischen, unterhaltsamen Theatralik: Der fette Wolfe ist schließlich selbst ein Teil der überkandidelten Züchtergemeinde, onduliert und manikürt aber die zartesten Orchideen, die mindestens so alberne Namen tragen wie die Provinzstiere.

„Der rote Stier“ ist wahnsinnig gut gelungen, macht Lust auf sommerliches Grillen und kommt überdies in einem schicken Gewand aus Leinen auf samtweichem Papier daher - ein Treffer!