Profilbild von Bibliomarie

Bibliomarie

Lesejury Star
offline

Bibliomarie ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Bibliomarie über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 15.03.2021

Ein dunkles Kapitel in Kanadas Geschichte

Der gefrorene Himmel
0

Richard Wagamese ist ein indigener kanadischer Autor, dessen Buch „Der gefrorene Himmel“ nun auch in deutscher Übersetzung erschien.

Was für ein gewaltiges und wichtiges Buch. Er lässt seinen Protagonisten ...

Richard Wagamese ist ein indigener kanadischer Autor, dessen Buch „Der gefrorene Himmel“ nun auch in deutscher Übersetzung erschien.

Was für ein gewaltiges und wichtiges Buch. Er lässt seinen Protagonisten Saul Indian Horse von seinem Leben berichten. Das geschieht rückblickend, als Saul in einer Suchtklinik in Therapiegesprächen von seiner Vergangenheit berichtet, er will nicht sprechen, er schreibt seine Geschichte auf. So taucht der Leser unmittelbar in sein Leben ein. Die ersten Jahre noch in der Obhut der Großmutter, die das traditionelle Leben der Objiewe aufrechterhalten will. Sauls Eltern sind gebrochene Menschen, beide haben die grausamen kanadischen Residential Schools durchlaufen und nach Großmutters Tod, macht auch Saul seine Erfahrungen mit dieser Institution. Unter dem Deckmantel der Erziehung werden die Kinder den Eltern entrissen, Sprache, Tradition, Kultur – das alles soll ausgemerzt werden. Die Schulen selbst sind Verwahranstalten, ein bisschen Lesen und Rechnen, ansonsten wartet harte Arbeit auf Saul. Er sieht die Kinder an Krankheiten sterben, sieht die Suizide der Mitschüler, die keinen Ausweg mehr sehen, wenn die Übergriffe der Patres zuviel werden. Der kleine, schmächtige Saul findet einen Ausweg im Eishockey, das die Kinder im Winter auf dem gefrorenen Feld spielen. Sein Talent fällt auf, er kommt so einer Pflegefamilie und bald werden auch weiße Talentscouts auf ihn aufmerksam.

Ich konnte dieses Buch nicht aus der Hand legen und musste doch immer wieder Pausen einlegen, sonst hätten mich Grausamkeiten, die Saul er- und überleben muss, überwältigt. Das Buch ist ein Roman, aber wenn man die Lebensgeschichte Richard Wagameses liest, erkennt man durchaus Parallelen. Einen solchen Roman kann man sicher nicht schreiben, wenn man nicht selbst oder aus erster Hand von den Erfahrungen der Indigenen mit den staatlichen Institutionen weiß.
Aber genauso beeindruckend sind die Schilderung der Natur und der arktischen Kälte auf den Natureisflächen, da findet Wagamese wunderschöne, poetische Beschreibungen, die mich durchatmen ließen.

Der Autor klagt nicht an, aber als Leser kann ich nicht umhin, den institutionellen Rassismus zu sehen, den die weiße Bevölkerung sicher noch heute zeigt. Ein bemerkenswertes Nachwort ergänzt den Roman.

Mir fiel auf, dass auch der Gender-Sprache Rechnung getragen wird. So ist der Objiwe Medizinmann ein Medizinmensch, ob das Wagamese im Original so schrieb?

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.03.2021

Unterwegs

Wohin die Reise geht
1

Mit seinen 72 Jahren macht sich Jakob auf den Weg in die Schweiz, sein Sohn drängte ihn 1Million Schwarzgeld zu schmuggeln, da er doch so unverdächtig aussieht. Ohne vom Zweck der Reise und dem Geld zu ...

Mit seinen 72 Jahren macht sich Jakob auf den Weg in die Schweiz, sein Sohn drängte ihn 1Million Schwarzgeld zu schmuggeln, da er doch so unverdächtig aussieht. Ohne vom Zweck der Reise und dem Geld zu wissen, begleitet ihn sein Freund Matthias, ein Kriminalbeamter. Schon bei der ersten Pause an einer Autobahnraststätte, nimmt Jakob mit dem großen Herzen, eine ältere, etwas verwirrte Dame mit und die junge Alex mit. Beide haben angeblich ihre Reisegruppe verloren.

Damit beginnt eine abenteuerliche, auch gefährliche Reise, die für alle Beteiligten eine Menge Überraschungen bereithält und ganz neue Freundschaften reifen lässt.

Tilda weiß nicht, wie sie zur Raststätte gekommen ist, immer öfters bemerkt sie Aussetzer, aber bei Jakob fühlt sie sich gut aufgehoben und in Jakob erwacht ein Beschützerinstinkt. Während Matthias über die ungebetenen Reisebegleiter anfangs nicht sehr erfreut ist, erst recht, als er von Jakobs Grund für die Reise erfährt.

Eine humorvolle Reise nimmt nun ihren Verlauf, die auch viele leise und melancholische Momente hat. Während der Fahrt lernen sich die vier Personen kennen, das erfahren wir immer aus der jeweiligen Perspektive und das lässt auch den Leser immer mehr Vertrautheit spüren.

Marlies Ferber entwickelt ihre Figuren sehr behutsam, man spürt die Herzenswärme mit der sie die Charaktere zeichnet. Das ließ mich fast zum Teil dieser Gemeinschaft werden. Sie hat nicht nur eine spannende Geschichte geschrieben – eine ganze Menge Abenteuer müssen alle Vier bestehen – der Leser macht sich auch Gedanken über die Spannungen zwischen den Generationen, die unterschiedlichen Lebensentwürfe, Hoffnungen und Enttäuschungen.

Alex, mit 18 noch ein Teenager, Matthias in der Mitte seines Lebens und Jakob und Tilda schon im letzten Lebensabschnitt, alle wird dies Reise verändern.

Was für eine liebenswerte und schöne Geschichte, die Autorin hat ihr Können ja schon mehrfach unter Beweis gestellt. Die Mischung aus Heiterkeit und Tiefgang, aus Unterhaltung und

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 09.03.2021

Ein Teil von uns

Klaras Schweigen
0

Nach einem Schlaganfall beginnt Mirjams Großmutter Klara wieder mühsam zu sprechen, zum großen Erstaunen ihrer Enkelin allerdings Französisch. Woher kommen die Sprachkenntnisse, was gab es im Leben ihrer ...

Nach einem Schlaganfall beginnt Mirjams Großmutter Klara wieder mühsam zu sprechen, zum großen Erstaunen ihrer Enkelin allerdings Französisch. Woher kommen die Sprachkenntnisse, was gab es im Leben ihrer Großmutter, die Mirjam so gut zu kennen glaubte. was bisher verborgen blieb. Auch ein Name fällt immer wieder und Mirjam begibt sich auf Spurensuche.
Die Handlung ist auf zwei Zeitebenen angesiedelt, 1949 und die Jahre danach, die Klara in Konstanz und Freiburg verbrachte und der Gegenwart, in der Mirjam durch die Beschäftigung mit dem Leben ihrer Großmutter auch ihre eigene Geschichte ganz neu entdeckt. Sie muss erkennen, dass auch Vergangenes und Verdrängtes ihr Leben beeinflusste und die Suche nach der Vergangenheit ihrer Großmutter auch sie betrifft und sie sich dem stellen muss. So wie es ein Zitat aus dem Klappentext auch formuliert: „Alles bleibt ein Teil von uns“.
Vom Badischen führen die Spuren bis in die Bretagne und damit verbindet die Autorin auch ihre große Affinität zu Frankreich in dieser Geschichte. Der eigene, besondere Stil von Bettina Storks macht für mich ihre Bücher immer zu großen Lese-Highlights. Ich finde ihre Personenzeichnung immer bemerkenswert authentisch. Wie die Krankheit ihre Großmutter verändert, wie sie sich ganz langsam ihrer Enkelin öffnet, überhaupt wie sie tief verborgene Erinnerungen zulässt und sich damit erneut ihrem Schmerz stellt, ist beeindruckend und empathisch dargestellt. Auch Mirjam ist ein lebensechter Charakter, in der Mitte des Lebens angekommen und manchmal an sich zweifelnd, ist sie eine Identifikationsfigur, deren Gedanken nachvollziehbar sind.
Wie immer bewundere ich, wie elegant Bettina Storks ihre genauen Recherchen in eine Geschichte einfließen lassen kann. Ich lese einen spannenden und unterhaltsamen Roman und erfahre dabei viel Neues aus der Zeitgeschichte, über die französische Besatzungszone und den damaligen Nachkriegsverhältnissen.
Bettina Storks hat den Status einer Bestseller-Autorin – und das ganz zu Recht, wie ihr neuer Roman wieder beweist. Ich kann diesen berührenden Roman nur empfehlen.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 01.03.2021

Sittenbild der Belle Epoque

Der Mann im roten Rock
0

Julian Barnes, einer der Großen der englischen Autoren, hat mich mit seinem neuen Buch überrascht.
„Der Mann im roten Rock“ ist Dr. Samuel Pozzi ( 1846-1918 ), einem Pariser Arzt, der nicht nur Modearzt ...

Julian Barnes, einer der Großen der englischen Autoren, hat mich mit seinem neuen Buch überrascht.
„Der Mann im roten Rock“ ist Dr. Samuel Pozzi ( 1846-1918 ), einem Pariser Arzt, der nicht nur Modearzt der eleganten Welt, sondern auch als Gynäkologie wegweisend war. Pozzi wurde von John Singer Sargent gemalt, in eben diesem titelgebenden roten Rock. Auf dem Cover sehen wir nur einen Ausschnitt, aber das Gemälde zeigt einen eleganten Mann in den besten Jahren, gekleidet in einen luxuriösen Hausmantel, dessen kostbaren Stoff Singer Sargent in ineinanderfließenden Rottönen malt. Darunter blitzen Rüschen an Kragen und Manschetten. Der Ausschnitt lenkt den Blick des Betrachters auf die feingliedrigen Hände eines begabten Operateurs.
Aber Barnes wählt nicht die direkte Methode um Pozzi zu charakterisieren, er nimmt sich gleich der ganzen Epoche an. Die Belle Epoque, die vielleicht erst in der Rückschau zur „schönen“ wurde.
Seit einer gemeinsamen London-Reise waren Dr. Pozzi, der Graf Montesquiou, ein Homme de lettre und Prince Edmonde Polignac befreundet. Pozzi, aus bürgerlicher Kreisen stammend, suchte und genoss die illustre Gesellschaft. Die Ehe mit Therese, beziehungsweise deren Mitgift, ermöglichte es ihm auch finanziell mitzuhalten, zumindest zu Beginn seiner Laufbahn.
Erstaunlich fand ich immer wieder, dass Pozzi trotz seiner Prominenz und seiner Patientinnen aus Adel, Geldadel und Gesellschaft, ein Anliegen war, auch das allgemeine Krankenhauswesen zu verbessern. Er sorgte für einen vorbildlichen, nach allen neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen Neubau eines Krankenhauses.
Barnes nähert sich seiner Figur auf vielfach mäandernden Schleifen, dabei fließt viel aus der Politik und der Gesellschaft dieser Epoche ein. Man trifft Sarah Bernhardt, (Pozzi hat wohl eine Affäre mit ihr) die Brüder Goncourt, Alphonse Daudet, Oscar Wilde und viele mehr. Es ist ein großes Vergnügen von Julians Barnes überbordenden Kenntnissen der Zeit zu profitieren. Malerei, Literatur, Musik und Theater, der Autor breitet diese aufregende Epoche vor dem Leser aus.
Immer wieder kommt es zu Vergleichen zwischen Frankreich und Großbritannien, zum Beispiel bei Gerichtsprozessen. Honoriert in Frankreich der Richter Ironie und Schlagfertigkeit des Angeklagten, wird ein Crime passionel generell mit Milde beurteilt, wird Oscar Wilde bei seinem Prozess in London die gegenteilige Erfahrung machen müssen.
Mit seiner eleganten Erzählweise wird die Lektüre immer zu einem unterhaltsamen, wenn auch nicht einfachem Lesevergnügen.
Im Buch finden sich unter anderen Illustrationen auch viele Portraitfotos der Sammlung Potin, so dass die meisten erwähnten Persönlichkeiten auch visuell greifbar werden.
Ganz zum Schluss ergreift Barnes auch noch leidenschaftlich für ein gemeinsames Europa das Wort und verurteilt neu aufkommenden Nationalismus wie Brexit gleichermaßen

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 27.02.2021

Schmerzhafte Erinnerungen

Stay away from Gretchen
0

Das Buch beginnt mit einem Kapitel, das auf gekonnte Weise Tragik und Komik vereint. Greta Monderath, die betagte Mutter des bekannten Kölner Nachrichtensprechers und Anchorman Tom strandet auf der Autobahn ...

Das Buch beginnt mit einem Kapitel, das auf gekonnte Weise Tragik und Komik vereint. Greta Monderath, die betagte Mutter des bekannten Kölner Nachrichtensprechers und Anchorman Tom strandet auf der Autobahn bei Würzburg. Als er sie abholt, merkt er bestürzt die Anzeichen einer Demenz. Aber das wollen weder er noch am wenigsten Greta wahrhaben. Beruflich überlastet und egoistisch gibt sich Tom erleichtert mit ihren Erklärungen zufrieden.

Doch während Greta sich immer mehr verliert, drängen Erinnerungen aus ihrer Kindheit unaufhaltsam an die Oberfläche und Tom muss sich dem Gehörten auseinandersetzen. Damit gerät sein Leben komplett aus den Fugen.

Die Autorin verflechtet zwei Zeitebenen miteinander. Gretas Leben in den Kriegs- und Nachkriegskriegen mit all dem Elend von Flucht, Vertreibung, Hunger und Entwurzelung. Diese Erinnerungen sind prägend, wurden aber konsequent tief vergraben und so erfährt Tom zum ersten Mal davon und muss schmerzhaft erkennen, dass auch die zweite und sogar die dritte Generation davon geprägt werden. Ein Thema, dem erst in der neueren Zeit Aufmerksamkeit gewidmet wurde und das doch so wichtig ist.

Auch habe ich zum ersten Mal von den „Brown Babies“ gehört. Ein dunkles Kapitel in unserer Geschichte, denn diese Kinder wurden von amerikanischer und deutscher Seite gleichermaßen diskriminiert. Die Mütter wurden oft zur Adoptionsfreigabe gezwungen und/oder unter Zwangsvormundschaft gestellt. Auch das ein Thema, über das gern geschwiegen wurde.

Diese Themen verbinden sich dem Roman zu einer anrührenden, höchst emotionalen Familiengeschichte, die mich gefesselt hat. Das war ein Pageturner, wie ich es mir anfangs nicht vorstellen konnte. Es gab Seiten, da reichte mir ein Taschentuch nicht aus. Und das alles ohne rührselig zu werden oder in Kitsch auszuarten. Das fand ich großartig geschrieben.

Die Autorin zieht Parallelen zur Flüchtlingswelle 2015, also 60 Jahre nach der Flüchtlingswelle, in der die Deutschen die Flüchtenden waren und das ist ein eindringlicher Appell.

Diesen Roman werde ich nicht so schnell aus dem Gedächtnis verlieren, eine emotionale Familiengeschichte, die sich so oder so ähnlich sicher häufiger zugetragen hat, wobei mir das Happy End, das Frau Abel ihrem Protagonisten Tom gönnt, unnötig erschien.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere