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Veröffentlicht am 13.03.2021

Ein stilvolles und hochwertiges Nachschlagewerk!

GIN
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„Gin - Das Buch“ von Peter Jauch ist ein gigantisches Nachschlagewerk bzw. ein umfassendes Lexikon, das über 2 kg wiegt, über 400 Seiten umfasst, über 500 Fotos beinhaltet und über 300 Gin-Marken und 50 ...

„Gin - Das Buch“ von Peter Jauch ist ein gigantisches Nachschlagewerk bzw. ein umfassendes Lexikon, das über 2 kg wiegt, über 400 Seiten umfasst, über 500 Fotos beinhaltet und über 300 Gin-Marken und 50 Tonics vorstellt.

Bereits vor dem Aufschlagen und dann beim ersten Durchblättern war ich von den ersten Eindrücken des physischen und inhaltlichen Schwergewichts beeindruckt.

Das gebundene Werk wurde äußerst hochwertig gestaltet.
Der matt-schwarze Einband mit dem tast- und fühlbaren runden Muster um den Buchtitel herum sieht sehr edel aus und sorgt für angenehme Haptik.
Das Cover besticht durch Minimalismus und Kontrast.
Die Aufschrift von Titel und Autor in leuchtend glänzendem Orange peppt das Ganze auf, das dunkelgrüne Lesebändchen ist sehr praktisch und meines Erachtens ein Muss für auserlesene Bücher. An der Papierqualität wurde erfreulicherweise auch nicht gespart.

Bereichert, aufgelockert und belebt wird das Werk mit Hunderten von gestochen scharfen, ansprechenden, edlen und kunstvoll arrangierten Fotos.

Gleich zu Beginn können wir die Kopie eines Kupferstichs mit der Bezeichnung „Gin Lane“, angefertigt 1750 vom englischen Künstler William Hogarth, bewundern.
Der Künstler hielt in seinem Werk die negativen Auswirkungen des Ginkonsums in einem Elendsviertel fest. Das Original hängt übrigens im Städel Museum in Frankfurt.

Der Schmöker ist in drei große Kapitel aufgeteilt.
Das Kapitel „Erzähltes“ beginnt mit der ausführlichen Definition von Gin, einer wacholderhaltigen Spirituose mit einem Mindestalkoholgehalt von 37,5% vol.
Dann erfahren wir etwas über die verschiedenen Ginarten, wie z. B. London Dry Gin, Plymouth Gin, Navy Strenght Gin..., wobei Herr Jauch zu jeder Art Beispiele anführt.
Dass die Bezeichnung London Dry Gin nichts mit der Stadt London zu tun hat und dass der Navy Strength Gin mindestens 57,1 % vol. hat und sich bestens für klassische Cocktails eignet, ist äußerst interessant.
Die Ausführungen zur Historie und Herstellung, sowie zu den Botanikals gefielen mir besonders gut.
Hier wandern wir durch die Geschichte des Gins, lernen die acht Gin-Gesetzte zur Eindämmung der Droge (!) kennen und erfahren wir Wissenswertes über die Destillation und die Bestandteile neben Wacholder.
Es ist schon erstaunlich, dass in heutigen Rezepturen zwei bis zweiundachzig Botanicals verarbeitet werden!
Orientieren kann man sich an den Leitbotanicals, um nicht den Überblick zu verlieren.

Beeindruckend und schön anzusehen sind hier die appetitlichen Nahaufnahmen und Vergrößerungen von den einzelnen Komponenten.

Dass Eis nicht gleich Eis ist sollte man nicht glauben und spielt für den Otto-Normalverbraucher meines Erachtens auch keine Rolle, wohingegen ich den Ausführungen zum Tonic, einer chininhaltigen Bitter-Limonade, von der es unzählige Varianten gibt, wieder gern gefolgt bin.
1825 gaben englische Offiziere erstmals Sodawasser in ihren Gin, um ihre Anti-Malaria-Medizin darin aufzulösen. Sie haben eine Zitronenschale dazugegeben und der Gin Tonic war geboren.
Jauchs Anmerkung, dass Tonic nicht gleich Tonic ist und nicht jeder Tonic zu jedem Gin passt, werden viele aus ihrer Erfahrung heraus bestätigen können.

In „Erlebtes“ erzählt Peter Jauch von seinen Gin-Reisen und Besuchen in den unterschiedlichen Destillerien in Großbritannien, Deutschland, Österreich und der Schweiz. Auch hier untermalen aussagekräftige schöne Fotos seine Touren.

Dann stellt er uns verschiede Cocktails vor, indem er sie geschmackvoll in Szene setzt.
Jedes dieser professionellen Fotos ist eine Inspiration und macht Lust darauf, den Shaker aus dem Regal zu holen.
Ein bisschen bedauerlich finde ich, dass keine Rezepte angegeben sind. Aber das Recherchieren ist ein Leichtes, weil der Name des Cocktails unter der Abbildung steht.

Anschließend gibt der Autor interessante Gespräche mit vielen verschiedenen Barkeepern wieder. Überwältigende Fotos von deren Bars machen große Lust darauf, hinzugehen.

Im Abschnitt „Zu Tisch“ stellt Peter Jauch uns einige Restaurants vor und zeigt, welcher Gin zu welchem Essen passt.
Das Wasser läuft einem im Mund zusammen, wenn man sich Monkey Tonic zu einem leckeren Salade Niçoise oder Gin Tonic zum Steak mit Pommes oder zum Dessert vorstellt.

Im Abschnitt „Getrunkenes“ werden uns ausführlich und mit erstklassigen Fotos über 300 Ginsorten und 50 Tonics vorgestellt.
Jeder einzelne Gin wird stilvoll in Szene gesetzt sowie mit interessanten Hintergrundinformationen wie Herkunft und Herstellung vorgestellt. Wir erfahren neben Alkoholgehalt, Botanicals und Geschmack auch welche Leitbotanicals den Gin charakterisieren.
Seine Empfehlungen, zu welchem Drink oder Cocktail sich ein bestimmter Gin besonders eignet, sind dabei sehr hilfreich.
Die Tonics werden im Abschnitt Filler aufgeführt.
Neben Zuckergehalt, Geschmack und Anwendung gibt er auch hier wieder Infos zu Herkunft und Herstellung.
Seinen motivierender Hinweis „Ihr Gaumen ist einzigartig. Entdecken Sie Ihre eigenen Vorlieben, indem Sie unterschiedliche Tonics verkosten - viel Spaß dabei!“ (S. 394-395) werde ich gern beherzigen.

Das Werk „Gin - Das Buch“ von Peter Jauch ist informativ, hochinteressant, detailliert, umfassend und äußerst stilvoll. Es ist zwar teuer, aber jeden Cent wert und sollte meines Erachtens im Regal eines Gin-Liebhabers nicht fehlen.

Ich habe nicht selten gestaunt und mich immer gefreut, wenn ich einen der erwähnten Gins in meiner Bar entdeckt habe.

Das Buch erhielt zurecht Silber beim «Deutschen Kochbuchpreis» und wurde nachvollziehbarerweise beim «Best in the World 2021 Gourmand Award Trinkkultur» nominiert.

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Veröffentlicht am 11.03.2021

Mehr als eine Liebeserklärung...

Frau in Rot auf grauem Grund
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Vom Leben und Sterben der geliebten und bewunderten Ehefrau...

Der nur 144-seitige Roman, der sich wie ein ausführlicher Brief eines Vaters an seine Tochter liest, spielt Mitte der 1970-er Jahre in einem ...

Vom Leben und Sterben der geliebten und bewunderten Ehefrau...

Der nur 144-seitige Roman, der sich wie ein ausführlicher Brief eines Vaters an seine Tochter liest, spielt Mitte der 1970-er Jahre in einem spanischen Dorf.

Der Ich-Erzähler Nicolás, ein dem Alkohol und Valium nicht abgeneigter Maler, sitzt wie jeden Morgen am Giebelfenster seines 200 Jahre alten, restaurierten Landhauses, beobachtet das Dorfleben und lässt seinen Erinnerungen freien Lauf.
Er hatte gerade Besuch von seiner Tochter Ana, die kürzlich aus einer monatelangen Haft entlassen worden ist.

Nachdem sie ihn verlassen hat, wendet er sich in Gedanken nochmals an sie und erzählt ihr detailliert von seiner Frau (auch Ana), ihrer Mutter, die er mit 16 Jahren kennengelernt hat.

Er verliert sich in Lobpreisungen. Er idealisiert und vergöttert seine Frau Ana.
Zwischen den Zeilen wird aber schnell klar, dass es weit mehr als eine uneingeschränkte Liebeserklärung ist.
Melancholie und Bedrohlichkeit durchziehen den Text und es wird mit der Zeit deutlich, dass Nicolás sich durch die vermeintliche Vollkommenheit seiner Frau erniedrigt und abhängig fühlt und dass ihre unbändige Lebensfreude und Souveränität seine Selbstzweifel und Ängste verstärkt haben.

Nicolás geht in seinen gedanklichen Ausführungen auch auf seine Ehe und den Alltag der kinderreichen Familie ein.
Wir erfahren von Schaffenskrisen des Malers, von seiner Eifersucht auf ein Bildnis seiner Frau, von der Zeit, in der sie sich um ihr erstes Enkelkind kümmern mussten, von einem Auslandssemester in Washington und schließlich auch vom Leidensweg seiner Frau, die mit erst 48 Jahren schwer erkrankte.

Im Verlauf der Lektüre entsteht das Portrait einer religiösen, aber nicht bigotten, beherzten, anpackenden, couragierten und entschlossenen Frau mit Takt- und Feingefühl, gutem Geschmack und Sinn für Schönheit, Durchsetzungsvermögen, Diplomatie und Originalität.

Seine Frau Ana hat mit ihrer phantasievollen, aufgeweckten und unbeschwerten Art sein Leben bereichert und seinen Horizont erweitert.

Sie war eine Frau, die die Fäden in der Hand halten wollte und die Hosen anhatte.
Sie war diszipliniert, liebte das Lesen und „hatte einen Heißhunger auf den gedruckten Buchstaben.“ (S. 19)

Ana war eine starke und menschenliebende Frau, die Gebrechlichen half und ihren Mann bei seiner Karriere unterstützte.
Sie strotzte vor Lebensfreude und übte auf ihr Umfeld eine unwiderstehliche Anziehungskraft aus...aber sie war, das lässt sich unschwer aus den Worten des Malers heraushören, auch sehr eigensinnig, äußerst anspruchsvoll, bisweilen auch sehr kontrollierend und grenzüberschreitend.
Kurzum: ziemlich anstrengend!

Der Autor schreibt unaufgeregt, nüchtern, offen und gnadenlos ehrlich. Es ist eine schöne, wohlformulierte und poetische Sprache.
Manche Sätze „musste“ ich mehrmals lesen, weil sie wie Zucker auf der Zunge zergingen.
Ein Beispiel:
„Die Unmöglichkeit, sich die Vergangenheit noch einmal vorzunehmen und sie zurechtzurücken, ist eine der grausamsten Schranken des menschlichen Daseins. Das Leben wäre leichter zu erdulden, wenn wir eine zweite Gelegenheit bekommen könnten.“ (S. 50)

„Frau in Rot auf grauem Grund“ ist ein Roman voller Bewunderung, Liebe, Sehnsucht, Vermissen und Schmerz, in dem eine Frau zwar zum Ideal stilisiert wird, aber gleichzeitig aufgrund ihrer Schwächen, die der Leser erkennt, der Maler jedoch in ihrer Tragweite verleugnet, immer Mensch bleibt.
Der Maler selbst hat (noch) nicht die nötige Distanz, um sie zu ent-idealisieren, was unumgänglich für sein seelisches Wohlbefinden und sein inneres Gleichgewicht ist.

Miguel Delibes schreibt gleichzeitig poetisch und anschaulich sowie nüchtern, reflektiert und differenziert über hochemotionale Geschehnisse.
Er wird niemals auch nur annähernd gefühlsduselig, kitschig, schwülstig oder sentimental.
Kein Wort ist zu viel, keines zu wenig.
Durch diese Schreibweise wird der Text eindringlich und löst Miguel Delibes gerade gegen Ende des Buches ein Feuerwerk an Emotionen aus.

In diesem Roman gibt es keine äußere Handlung, aber trotzdem passiert so viel. Es wurde mir keine Minute langweilig.

Wie in einem Puzzle fügt sich Szene um Szene aus der Erinnerung des Malers zu einem Gemälde, das das lebendige und vielschichtige Bild von Nicolás und Ana, ihrer Ehe und ihrer Familie abbildet.

Mit „Frau in Rot auf grauem Grund“ hat Miguel Delibes (1920-2010) eine ganz besondere literarische Perle erschaffen, die schon rein äußerlich mehr als ansprechend daherkommt.
Das Buch, das mit einem roten Leineneinband versehen ist und auf dessen Cover sich das Foto einer rittlings auf einem Stuhl sitzenden sinnlichen Frau mit entblößten Schultern befindet, ist eine Augenweide, die man gerne in Händen hält.
Der spanische Schriftsteller, der mit dem Cervantes-Preis 1993 den begehrtesten Literaturpreis der spanischsprachigen Welt erhielt, komponierte dieses Meisterstück 1991 als Hommage an seine eigene Ehefrau Ángeles de Castro, die 1974 verstarb.






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Veröffentlicht am 10.03.2021

Ein literarisches Highlight!

Das Lied der Arktis
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Bérengère Cournut entführt uns mit ihrem Werk in eine gleichermaßen unwirtliche wie beeindruckende Gegend, in der es nicht um Konsum und Oberflächliches, sondern um Überleben und das Ursprüngliche geht. ...

Bérengère Cournut entführt uns mit ihrem Werk in eine gleichermaßen unwirtliche wie beeindruckende Gegend, in der es nicht um Konsum und Oberflächliches, sondern um Überleben und das Ursprüngliche geht.

Wir begeben uns in die eisige Kälte, Unberechenbarkeit und Schönheit der arktischen Vegetationszone der Tundra.
Hier treffen wir Uqsuralik, ein Mädchen, das von ihrem Vater zur Jägerin ausgebildet wurde.
Nachdem sie von ihrer Familie durch das Auseinanderdriften von Eisschollen getrennt wird, muss sie sich, bewaffnet mit Bärenfell, Schutzamulett, einigen Brocken Fleisch und einer halblebigen Harpune, in der weiten Einöde zwischen all dem Eis einem unerbittlichen Überlebenskampf stellen.
Gefährliche Tiere, trügerisches Packeis, lebensbedrohliche Kälte, nahender Hunger - das sind die Herausforderungen, mit denen Uqsuralik während ihrer Wanderschaft umgehen muss.
Die junge Frau entwickelt sich während sie all diesen Gefahren trotzt. Sie gewinnt an Reife, Stärke und Klugheit... Eigenschaften, die sie dringend brauchen wird, wenn sie wieder in einer Gemeinschaft leben wird.

Nach objektiv wenigen, aber gefühlt endlos vielen Tagen trifft sie auf andere Inuit. Sie bleibt bei ihnen, lebt mit ihnen in deren Iglu, und unterstützt sie als geschickte Harpunistin bei der Robbenjagd.

Wegen dem selbstsüchtigen alten Clanvorsteher zieht sie schließlich weiter und endlich trifft sie auf die Familie ihres Onkels, die sie bereitwillig in ihrer Mitte aufnimmt.
Jetzt ist Uqsuralik zwar Teil einer großen und liebevollen Familie, aber das Leben bliebt hart.

Das Buch, in dem uns die fremde, raue, harte und archaische Lebenswelt der Inuit nahegebracht wird ist eine Wucht!
Wir erfahren von Mythen und Legenden, Traditionen und Bräuchen und lernen völlig fremdartige Lebensbedingungen kennen.

Wir stoßen auf eine Welt, eine Kultur und ein Leben, die gleichzeitig anziehend und reizvoll sowie abschreckend und abstoßend wirken.

Maximale Einsamkeit und Unberechenbarkeit der Natur treffen auf unübertreffliche Schönheit, Einheit, Einklang und Ruhe.

„Das Lied der Arktis“ ist gleichermaßen eindringlich, berührend, poetisch, faszinierend und magisch, wie erschreckend, unerbittlich und grausam.

Die Geschichte wird von der 1979 in Paris geborenen Autorin feinfühlig, zart und gleichzeitig nüchtern, kraftvoll und eindringlich erzählt und regt zum Mit- und Nachdenken an.
Sie kann und sollte meines Erachtens metaphorisch gelesen werden.
Ist die Welt der Inuit tatsächlich eine rückständige Welt oder findet man hier nicht vielmehr das Basale, das in unserer ach so fortschrittlichen Welt oft fehlt?
Gemeinschaft, Verlässlichkeit, Zusammenhalt, Einfachheit und Langsamkeit...?
Einsam und auf sich gestellt kann man auch in einer geschäftigen Großstadt, umgeben von Hektik und Trubel sein... da muss man nicht erst in die Unendlichkeit der Arktis reisen.
Der sogenannte moderne Mensch wird weniger häufig mit äußeren Gefahren konfrontiert.
Die wilden Tiere sind im Zoo, wenn uns kalt ist, drehen wir die Heizung auf und wenn wir Nahrungsmittel brauchen, gehen wir ins Lebensmittelgeschäft.
Er muss aber andere Herausforderungen und innere Gefahren bewältigen.
Und selbst unter diesen sogenannten modernen Menschen gibt es genug, die täglich um Brot und Wärme kämpfen müssen!

Für mich war die Lektüre ein Highlight!
Tiefgründig und nachhallend!

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Veröffentlicht am 09.03.2021

Literarisch ansprechend, berührend, unterhaltsam und informativ...

Der gefrorene Himmel
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Nachdem ich letztes Jahr voller Begeisterung „Das weite Herz des Landes“ gelesen habe, freute ich mich mich schon auf diesen weiteren Roman von Richard Wagamese, einem kanadischen Autor, der 2017 mit erst ...

Nachdem ich letztes Jahr voller Begeisterung „Das weite Herz des Landes“ gelesen habe, freute ich mich mich schon auf diesen weiteren Roman von Richard Wagamese, einem kanadischen Autor, der 2017 mit erst 62 Jahren verstorben ist.

Ich kann an dieser Stelle nicht umhin, mich zu wiederholen:
Der 1955 geborene Richard Wagamese sah sich innerhalb seines Volkes, dem Stamm der Ojibwe, als Geschichtenerzähler und nach der Lektüre dieses Romans weiß man auch warum.
Er ist sogar ein begnadeter Geschichtenerzähler, dem man gebannt lauscht und in dessen Geschichte man sich gern fallen lässt.

Aber nun erst einmal zum Inhalt:

Der ehemalige Hockeystar Saul ist wegen seiner Alkoholerkrankung in einer Entzugsklinik und dort wird ihm geraten, über sein Leben zu sprechen, um all das Erlebte zu verdauen, sich zu befreien und gesund zu werden.
Der eher wortkarge Saul entscheidet sich stattdessen dafür, seine Geschichte aufrichtig und in all ihrer Brutalität niederzuschreiben.

Richard Wagamese erzählt in „Der gefrorene Himmel“ feinfühlig und mitreißend von der schwierigen Gratwanderung zwischen der indigenen Kultur der Ureinwohner Kanadas und dem vom weißen Mann verordneten Katholizismus einschließlich der fremdartigen neuen Lebensweise. Er konfrontiert uns in seinem Werk in aller Offenheit mit Rassismus, Ungerechtigkeit und Grausamkeit.

Es ist auch eine Zerreißprobe für den heranwachsenden Saul.
Einerseits erlebt er innige und liebevolle Momente mit seiner Großmutter, die Geschichten aus der Vergangenheit erzählt und ihm alte Bräuche und Traditionen nahebringt.
Andererseits leidet er unter den Umständen, fühlt er sich im Stich gelassen und muss er letztlich den Tod seiner geliebten Großmutter verkraften.
Als wäre das nicht genug, wird er von der kanadischen Regierung in ein katholisches Heim gesteckt.
Dort wächst er, wie so viele Kinder indigenen Herkunft, in strenger und frostiger Atmosphäre bei disziplinierenden, demütigenden und oft grausamen Nonnen und Priestern auf.
Lichtblicke und Glücksmomente empfindet er beim Eishockey, einem Spiel auf Schlittschuhen, für das er ein herausragendes Talent mitbringt, was eine gewisse Befreiung aus dem tristen Dasein bedeutet.

Die schöne bildhafte Sprache und der ansprechende Schreibstil des Autors haben mich erneut überzeugt und trugen neben der fesselnden Handlung und den kurzen Kapiteln dazu bei, dass ich regelrecht durch die Seiten flog.

Richard Wagamese unterhält prächtig und niveauvoll, regt zum Mit- und Nachdenken an, schreibt flüssig und erweiterte mit seinem Text meinen Horizont.

Wer sich für Kanadas Geschichte mit seinen indigenen Ureinwohnern interessiert und gleichzeitig eine tiefgründige, berührende, fesselnde und literarisch ansprechende Geschichte lesen möchte, der greife zu dem ganz hervorragenden Werk „Der gefrorene Himmel“.

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Veröffentlicht am 07.03.2021

Außergewöhnlich, schlüssig und spannend - Lesen lohnt sich!

Die letzte Analyse
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New York in den 1960-er Jahren.

Captain Stern von der Kriminalpolizei sucht die Literaturprofessorin und Doktorin der Philosophie Kate Fansler in ihrem Büro in der Universität auf.

Er will von Kate, ...

New York in den 1960-er Jahren.

Captain Stern von der Kriminalpolizei sucht die Literaturprofessorin und Doktorin der Philosophie Kate Fansler in ihrem Büro in der Universität auf.

Er will von Kate, die in ihrer Freizeit mit großer Leidenschaft Kriminalromane liest und sich gern als Hobbydetektivin betätigt, wissen, wie sie den gestrigen Vormittag verbracht hat.
Außerdem teilt er ihr mit, dass ihre ehemalige Studentin Janet Harrison ermordet wurde.

Captain Stern erzählt Kate, dass Janet auf der Behandlungscouch in der Praxis des Psychoanalytikers Dr. Bauer mit einem seiner Küchenmesser ermordet worden ist.

Kate kann nicht umhin, sich detailliert für den Fall zu interessieren.
Sie möchte ihrem Freund Dr. Emanuel Bauer, einem früheren Liebhaber, dem sie nie und nimmer einen Mord zutraut, helfen und die Psychoanalyse davor bewahren, in schlechten Ruf zu geraten.
Außerdem betätigt sie sich ohnehin gerne als Amateurdetektivin und vor allem fühlt sie sich verantwortlich und schuldig.
Immerhin hat sie die junge Frau zu Emanuel geschickt!

Die 30-jährige Janet hatte Kate nämlich vor einigen Monaten gefragt, ob sie ihr einen Psychoanalytiker empfehlen könnte und Kate hat ihr daraufhin die Kontaktdaten von Dr. Emanuel Bauer genannt.

Kate besucht die Bauers, beide inzwischen gute Freunde, und befragt erst Nicki, die Ehefrau von Emanuel ausführlich zu den Geschehnissen und dann Emanuel selbst.
Sie rekonstruiert so den Tag, an dem der Mord auf der Couch geschah.
Mit Hilfe von Reed, einem befreundeten stellvertretenden Bezirksstaatsanwalt, der ihr noch einen Gefallen schuldet und mit Hilfe ihres künftigen Neffen Jerry, der plant, die Law School zu besuchen, macht sie sich an die Arbeit, um ihren Freund Emanuel zu entlasten und den währen Täter zu finden. Sie scheut dabei weder Zeit- noch Geldaufwand und vernachlässigt zeitweise sogar ihre Aufgaben an der Universität.

Dieser thematisch ganz besondere Kriminalroman, der im New York der 1960-er Jahre spielt und in dessen Mittelpunkt eine Analysecouch steht, hat mich äußerst gut unterhalten.

Ich war von Anfang an neugierig und gespannt und gegen Ende nahm die Geschichte nochmal deutlich an Fahrt auf.
Zwischendurch war ich ratlos, hatte ich Ideen und wurde ich auf falsche Fährten gelockt.

Die 1926 in New Jersey geborene Amanda Cross, eigentlich Carolyn Gold Heilbrun, hat ausgesprochen gut recherchiert und erwähnt Details, die den Rahmen der Geschichte glaubhaft machen.

Bereits auf den ersten Seiten erwähnt sie die strengen Regularien psychoanalytischer Institute und geht en passant auf Behandlungskriterien und Indikationen für psychoanalytische Sitzungen ein.
Sie wendet Fachbegriffe wie „Übertragung“ korrekt an und kennt viele Regeln und Gepflogenheiten der Psychoanalyse, z. B., dass die „Patienten nicht das geringste über das persönliche Leben ihres Analytikers wissen sollten“ (S. 31) und dass eine Sitzung 50 Minuten dauert (S. 40).

Sie weiß auch um die Notwendigkeit eines Schallschutzes und wie man prüft, ob er wirkt. An dieser Stelle musste ich schmunzeln, weil ich, ebenfalls Psychoanalytikerin, das in meiner Praxis ganz genauso gemacht habe

Dass sie ganz nebenbei auf Seite 37 f. erklärt, was eine Angststtacke ist und einige Seiten später kurz über die Bedeutung des Ausfallshonorars schreibt, macht den Text, wie all das andere, das ich erwähnt habe, authentisch und glaubhaft.

Für Leser, die im Bereich der Psychoanalyse nicht so versiert sind, ist es interessant und informativ, zu erfahren, dass in Amerika die Psychoanalyse ganz klar der Psychatrie zugeordnet wird, dass jeder Psychoanalytiker dort Psychiater ist und dass in Amerika eine Psychoanalyse selbst bezahlt werden muss (wohingegen in Deutschland auch Psychologen und Ärzte anderer Fachrichtungen Psychoanalytiker werden können, die Psychoanalyse kein Teil der Psychiatrie ist und eine psychoanalytische Therapie in Deutschland Kassenleistung ist).

Auf Seite 19 schreibt sie: „Ich habe Leute davon reden hören, wenn auch nur halb im Scherz, dass Eltern heute für die Analyse ihrer Kinder sparen wie früher für deren College-Erziehung.“ - Das ist hier in Deutschland glücklicherweise nicht nötig!

Amanda Cross bietet dem Laien neben einem spannenden, nicht brutalen und unblutigen Plot einen guten, interessanten und informativen Einblick in die Welt der Psychoanalyse und macht ihn ein wenig mit ihrem Urvater Sigmund Freud bekannt.
All diese Informationen streut sie unaufdringlich und unterhaltsam ein.

Die Autorin hat einen originellen, fantasiereichen, aber stimmigen und schlüssigen Kriminalroman um die leidenschaftlich engagierte, kreative, fantasievolle, schlagfertige, belesene und scharfsinnige Hobbydetektivin Kate Fansler komponiert.
Die Gespräche zwischen den Protagonisten sind spritzig und strotzen vor Lebendigkeit, Ironie, Witz und Humor.

„Die letzte Analyse“ ist sicherlich kein literarisches Highlight, aber ein äußerst unterhaltsamer, informativer, spannender, raffinierter und außergewöhnlicher Kriminalroman mit nachvollziehbaren und logischen Schlüssen!

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