Profilbild von Buchbesprechung

Buchbesprechung

Lesejury Star
offline

Buchbesprechung ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Buchbesprechung über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 27.01.2022

Historisch hervorragend, Spannung lässt nach

1795
0

REZENSION – Man riecht förmlich den Schweiß der Bettler und Obdachlosen in ihren verrußten Absteigen und kaut mit ihnen am steinharten Brotkanten, atmet den Staub auf den von der Sommerhitze ausgedörrten ...

REZENSION – Man riecht förmlich den Schweiß der Bettler und Obdachlosen in ihren verrußten Absteigen und kaut mit ihnen am steinharten Brotkanten, atmet den Staub auf den von der Sommerhitze ausgedörrten Wegen und spürt nach heftigem Herbstregen den Unrat auf verschlammten Straßen dieser „Stadt zwischen den Brücken“, der einem beim Gehen bis an die Waden spritzt. Wie schon in den beiden ersten Bänden „1793“ und „1794“ seines historischen, insgesamt fast 1 600 Seiten umfassenden dreibändigen Thrillers um die beiden im Dienst der Stockholmer Polizeikammer ermittelnden Brüder Cecil und Emil Winge sowie ihrem Helfer, dem einarmigen Kriegsveteran und Stadtknecht Jean Michael Cardell, schafft es der schwedische Schriftsteller Niklas Natt och Dag (42) auch in seinem dritten Band „1795“, im Januar im Piper Verlag erschienen, die Atmosphäre des ausgehenden 18. Jahrhunderts im historischen Stockholm faszinierend und wortgewaltig wiederzugeben. Großen Anteil am Erfolg der deutschen Ausgabe hat zweifellos Übersetzerin Leena Flegler (45), die sich in teils antiquiert erscheinender Wortwahl und im Stil der bildgewaltigen Sprache des Originals beeindruckend anzupassen vermag.
Schweden und vor allem die Hauptstadt des Königreichs befindet sich im spürbaren Umbruch zwischen Absolutismus und Aufklärung, zwischen mittelalterlichen Werten und aus Frankreich überschwappenden revolutionären Gedanken. Die Rechtsprechung liegt noch bei den jeweiligen Machtinhabern, während der Einzelne kaum Rechte hat. In „1795“ findet die Suche der Ermittler nach Gerechtigkeit im eher rechtlosen Stockholm ihren Abschluss: Emil Winge und Cardell sind noch immer auf der Jagd nach dem blutdürstigen Triebtäter Tycho Cetan, einer Charakter-Mischung aus Genie und Wahnsinn, der in den engen Gassen der Stadt untergetaucht ist. Verborgen bleibt auch die junge Mutter Anna Stina Knapp, die beim Brand des Kinderheims ihre beiden Kinder verlor und seitdem traumatisiert ist. Winge und Cardell müssen sie finden, um sie beschützen zu können. Denn die Knapp besitzt eine Namensliste von Gustavianern, jenen Anhängern des 1792 ermordeten Königs Gustav III., die sich gegen den machtbesessenen Regenten Reuterholm verschworen haben. Der skrupellose Vormund des noch unmündigen Kronprinzen Gustav IV. Adolf will vor dessen Volljährigkeit mit aller Gewalt in den Besitz dieser Liste kommen, um seine Gegner ausschalten zu können.
Vielleicht liegt es an der heute leider verbreiteten Mode, einen Roman von vornherein auf mehrere Bände aufzuteilen, dass auch bei dieser Trilogie die eigentliche Kriminalhandlung von Band zu Band immer stärker in den Hintergrund des Geschehens rückt, deshalb nur der erste Band „1793“ völlig zu Recht neben anderen Preisen mit dem Schwedischen Krimipreis für das beste Spannungsdebüt ausgezeichnet wurde. Denn im dritten Band wirkt die Handlung gestreckt und büßt deutlich an Dramatik ein, was echte Thriller-Leser enttäuschen dürfte und manche sogar schon beim zweiten Band bemängelt haben.
Andererseits dürfte auch „1795“ bei historisch interessierten Leser wieder einen überaus positiven und sicher nachhaltigen Eindruck hinterlassen. Es ist faszinierend, wie es dem Autor in seinen auf intensivem Quellenstudium beruhenden und gelegentlich in kleinste Einzelheiten gehenden Schilderungen gelingt, beim Leser das alte Stockholm des ausgehenden 18. Jahrhunderts so realistisch, manchmal auch schockierend lebendig werden zu lassen: Wir steigen mit den Protagonisten in die Tiefen der Unterbühne des Theaters und tanzen im prächtig ausgestatteten Opernhaus, beschmutzen uns in den Aborten der Stadt und versinken tief in der städtischen Latrine. Irritierend mögen für deutsche Leser ohne Kenntnis Stockholms die vielen Straßen-, Gebäude- und Quartiersnamen sein. Doch wer will, kann beim Lesen die charakterlich beeindruckend getroffenen Romanfiguren mit dem Finger auf dem Stadtplan begleiten.
Während sich Niklas Natt och Dag nach eigener Aussage beim Schreiben von Umberto Ecos Roman „Der Name der Rose“ inspirieren ließ, erinnerte mich seine Trilogie stark an die Romanreihe des französischen Historikers Jean-François Parot (1946–2018), der seinen Commissaire Nicolas Le Floch in den 1760er Jahren zur Anfangszeit der Kriminalistik in Paris ermitteln lässt. Manche Situationsbeschreibungen gleichen sich verblüffend im konkreten Detail und auch atmosphärisch. Wer also ein Freund historischer (Kriminal-)Romane ist, sollte die Trilogie von Niklas Natt och Dag unbedingt lesen.

Veröffentlicht am 04.01.2022

Für Ortheil-Fans unverzichtbar!

Ein Kosmos der Schrift
0

REZENSION - Mehr als 70 Werke hat der deutsche Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil seit 1979 schon veröffentlicht – historische und autobiografische Romane, Erzählungen, Essay-Bände, Gedichte, Biografien, ...

REZENSION - Mehr als 70 Werke hat der deutsche Schriftsteller Hanns-Josef Ortheil seit 1979 schon veröffentlicht – historische und autobiografische Romane, Erzählungen, Essay-Bände, Gedichte, Biografien, Sachbücher und sogar Libretti. Nichts von alledem ist das im Oktober beim btb-Verlag aus Anlass seines 70. Geburtstags erschienene Buch „Ein Kosmos der Schrift“: Im ersten Teil ist es die Niederschrift eines dreitägigen Gesprächs mit seinem Luchterhand-Lektor Klaus Siblewski. Darin erläutert Ortheil sehr detailliert die wichtigsten biografischen Hintergründe seines literarischen Werdeganges und analysiert die verschiedenen Entwicklungsstufen seines Schreibens von den Anfängen in der Kindheit bis heute. Im zweiten Teil geben 36 Weggefährten mit ihren Antworten auf 20 Fragen zu Ortheils „Treiben und Schreiben“ Einblick in ihr persönliches Verhältnis zum vielfach ausgezeichneten Bestseller-Autor, dessen so verschiedenartige Werke in über 20 Sprachen übersetzt wurden, und zum Professor für Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus an der Universität Hildesheim.
„Ich hielt [mein Schreiben] immer für sehr individuell, es war schließlich aus sehr eigenen Voraussetzungen entstanden“, sagt Ortheil in diesem auf 240 Seiten festgehaltenen Gespräch. Damit meint er die ungewöhnliche Tatsache, dass seine Bücher fast ausnahmslos konkrete autobiografische Momente enthalten oder seine Charaktere seiner eigenen Persönlichkeit ähneln – wie „Im Licht der Lagune“ (1999), damals noch ohne sich selbst zu erkennen zu geben: „Im Zentrum steht ein stummer junger Mann … Er besitzt eine besondere Gabe, denn er ist ein exzellenter Beobachter.“ Auch der 1951 in Köln geborene Ortheil lebte anfangs tagsüber als stummes Kind allein mit seiner nach vier verlorenen Söhnen sprachlos gewordenen Mutter. Er steht still am Erkerfenster der Etagenwohnung und schaut hinab auf Straße und Spielplatz. Das Kind beobachtet die Szenerie und hält schon bald seine Eindrücke in kurzen Notizen fest, denn schon bevor er später dank der Hilfe seines als Geodät bei der Bahn beschäftigten Vaters endlich zu sprechen lernt, konnte er bereits schreiben. Es war die einzige Möglichkeit der Kommunikation mit der stummen Mutter.
Mit ersten Schreibversuchen wurde schon in Kinder- und Jugendjahren die Basis für ein späteres Schriftsteller-Leben gelegt. Diese gewiss nicht leichten, aber für Ortheil keineswegs bedrückenden Kinder- und Jugendjahre beschreibt er erst viele Jahre nach dem Tod beider Eltern in seinem 2009 erschienenen Bestseller „Die Erfindung des Lebens“. Warum erst 40 Jahre nach seinem ersten Romandebüt „Fermer“? Ortheil erklärt sich diese Verspätung so: „Ich muss keine Rücksicht nehmen. Meine Mutter und mein Vater greifen in mein Schreiben nicht mehr ein. Ich bin frei, meine eigene Geschichte zu erzählen.“ Diese eigene Geschichte setzte er dann in „Der Stift und das Papier“ (2015) sowie „Wie ich Klavierspielen lernte“ (2019) fort.
Auch seine in Jugendjahren verfassten Erzählungen, die Ortheil „nur für mich“ oder zum Vorlesen im engen Familienkreis geschrieben hatte, konnte oder wollte er aus demselben Grund erst jetzt einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. So erschienen ab 2010 seine schon in Jugendzeiten entstandenen Reisetexte „Die Moselreise“ (2010), „Die Berlinreise“ (2014) und „Die Mittelmeerreise“ (2018). Auch in diesen Büchern über gemeinsame Reisen mit dem verständnisvollen Vater zeigt sich Ortheil als der genaue Beobachter, der aus kleinsten, fast unbedeutend erscheinenden Szenen interessante Geschichten schreiben kann. Eben darin erweist sich Ortheil zweifellos als Meister seines Fachs.
Zugegeben, ich bin seit seinem Roman „Die Erfindung des Lebens“, den ich allen als Einstieg in die Lektüre Ortheil'scher Bücher empfehle, ein überzeugter Ortheil-Fan und habe seitdem fast alle späteren, auch wenige ältere seiner Bücher immer mit Freude gelesen. Unbestritten gibt es Bücherfreunde, die sich mit Ortheils Art zu schreiben nicht anfreunden können. Gerade solchen Kritikern und auch allen, die noch kein Ortheil-Buch kennen, empfehle ich „Ein Kosmos der Schrift“, erfährt man darin doch viel Hintergründiges zum besseren Verständnis seiner Texte. Vielleicht mag mancher Kritiker dann Umdenken. Für eingefleischte Ortheil-Fans ist „Ein Kosmos der Schrift“ ohnehin unverzichtbar!

Veröffentlicht am 11.12.2021

Historisch sehr gut, Spannung verbesserungswürdig

Des Kummers Nacht
0

REZENSION – Aufbau und Entwicklung der preußischen Kriminalpolizei vor dem Hintergrund des politischen und gesellschaftlichen Umfelds zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist Kern des historischen Kriminalromans ...

REZENSION – Aufbau und Entwicklung der preußischen Kriminalpolizei vor dem Hintergrund des politischen und gesellschaftlichen Umfelds zur Mitte des 19. Jahrhunderts ist Kern des historischen Kriminalromans „Des Kummers Nacht“, des im August vom Lübbe Verlag veröffentlichten Romandebüts von Ralph Knobelsdorf (54). Es ist ein unterhaltsamer, historisch gut recherchierter und informativer Roman um den ersten Fall des vom Berliner Polizeidirektor für die kürzlich gegründete Kriminalpolizei angeworbenen Jura-Absolventen und Gutsbesitzerssohn Wilhelm von der Heyden in Berlin.
Wilhelm von der Heyden steht 1855 kurz vor dem juristischen Examen. Von seiner Berliner Studentenbude aus wird er Zeuge einer Explosion im Haus gegenüber. Eine junge österreichische Gräfin mit familiären Verbindungen in die Bukowina, dem Grenzgebiet zu Russland, wie sich später herausstellt, kommt dabei zu Tode. Bei der anschließenden Zeugenvernehmung ist Herford, Chef der Kriminalpolizei, von Wilhelms Beobachtungsgabe begeistert, der zuvor die Wohnung der Gräfin auf der Suche nach weiteren Opfern durchsucht hatte, und stellt ihn als polizeiliche Hilfskraft ein, da talentierte Mitarbeiter bei der Kripo dringend benötigt werden. Sein Talent wird umso wichtiger, entwickelt sich doch der Mordfall unerwartet zum Politikum, dessen Spuren in die höchsten Kreise bis an den Hof des preußischen Königs Friedrich Wilhelm IV. Führen. Der kränkliche König kann kaum noch die Regierungsgeschäfte wahrnehmen, weshalb einflussreiche Kreise insgeheim schon seine Nachfolge vorbereiten. Zudem erschweren politische Interessen Preußens die Ermittlungsarbeit mitten im Krimkrieg zwischen Russland und dem Osmanischen Reich.
„Fakt oder Fiktion? … Der historische Kriminalroman bewegt sich immer in einem Spannungsverhältnis von Dichtung und Wahrheit“, hat sich der Autor die Frage selbst im Nachwort beantwortet und damit das Problem seines Debütromans angesprochen. Knobelsdorf hat mit seinem Erstlingswerk einen ausgezeichneten historischen Roman vorgelegt, der die politische und gesellschaftliche Situation zur Mitte des 19. Jahrhunderts aus mehreren Blickrichtungen treffend und wirklich interessant schildert, so dass sich die Lektüre schon deshalb lohnt. Doch obwohl ein Kriminalfall als Handlungsfaden die verschiedenen historischen Fakten zu einer verständlichen Einheit verknüpft, fehlt es an Spannung, um ihn als Krimi durchgehen zu lassen. Allzu bald kommt man dem Täter auf die Spur, und auch der Abschluss des Falles ist etwas lieblos runtergeschrieben.
Doch lässt man diesen in folgenden Bänden auszumerzenden Kritikpunkt unberücksichtigt, ist „Des Kummers Nacht“ ein rundum empfehlenswerter historischer Roman. Knobelsdorf gelingt es hervorragend, mit fiktiven und im jeweiligen Charakter treffend skizzierten realen Personen wie dem preußischen Gesandten Otto v. Bismarck und dem russischen Botschafter v. Budberg, den Schriftstellerinnen Fanny Lewald und Gisela v. Arnim, den Hof-Günstlingen und Lobbyisten-Brüdern v. Gerlach oder auch dem ehrgeizigen Leiter der politischen Polizei Wilhelm Stieber eine überzeugend stimmige Szenerie zu schildern, wozu der wohlklingende Sprachstil des Autors mit der zu den historischen Persönlichkeiten passenden Dialog-Wortwahl beiträgt. Auch die Berliner Örtlichkeiten (Stadtvogtei, Charité mit Leichenschauhaus), die politischen Umstände (Krimkrieg, Bukowina, Königshof) und die auch nach der Revolution von 1848 noch herrschende Drei-Klassen-Gesellschaft (Adel, Bürgertum, Arbeiterschaft) lassen die Mitte des 19. Jahrhunderts in Berlin vor dem lesenden Auge lebendig werden.
Abschließend stellt Wilhelm von der Heyden fest, dass „sein erster Fall nicht zu seiner Zufriedenheit gelöst“ ist. Dieser Meinung kann man sich als Leser anschließen: So gut der historische Aspekt gelungen ist, muss an der für eine Krimireihe erforderlichen Spannung in den Folgebänden etwas nachgebessert werden. „Das Spiel ist noch lange nicht vorbei, Wilhelm. Es hat gerade erst so richtig begonnen“, heißt es am Schluss. Lassen wir uns also gern überraschen und auf den zweiten Band „Ein Fremder hier zu Lande“ freuen, der für Juli 2022 angekündigt ist.

Veröffentlicht am 14.11.2021

mystisch - spannend - gut

Die Leuchtturmwärter
0

REZENSION – Eigentlich geschieht nicht viel im Roman „Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex (38), der im August beim S. Fischer-Verlag erschien. Dennoch gelingt es der britischen Autorin schnell, uns Leser ...

REZENSION – Eigentlich geschieht nicht viel im Roman „Die Leuchtturmwärter“ von Emma Stonex (38), der im August beim S. Fischer-Verlag erschien. Dennoch gelingt es der britischen Autorin schnell, uns Leser mit ihrem Debütroman von den ersten Seiten an in den Bann zu ziehen. Es ist eine packende Geschichte, mystisch anmutend und aufwühlend wie das wild tobende Meer rund um den Leuchtturm. Inspiriert vom niemals aufgeklärten Verschwinden dreier Leuchtturmwärter am 15. Dezember 1900 von der Insel Eilean Mòr an der Westküste Schottlands, erzählt Stonex eine eigene Geschichte von Oberwärter Arthur Black, Wärter William „Bill“ Walker und Hilfswärter Vincent „Vince“ Bourne, die alle drei in der Nacht vor Silvester 1972 spurlos vom Leuchtturm Maidens Rock verschwanden, auf einer winzigen Felsklippe etwa 15 Seemeilen vor der Küste Cornwalls aus dem Meer ragend.
Noch zwei Jahrzehnte später kursieren Gerüchte und Deutungsversuche im Küstenstädtchen Mortehaven, wo Arthur mit Ehefrau Helen, Bill mit seiner Jenny und Vince mit Freundin Michelle wohnten. Die drei Frauen und andere Beteiligte wie die Leuchtturmbehörde und der Leuchtturmbetreiber Trident House werden 1992 mehrmals von einem Schriftsteller über das Verschwinden der drei Männer befragt, um darüber einen Roman zu schreiben.
In ihren Interviews mit dem Schriftsteller offenbaren die Frauen, die seit 20 Jahren mit dem ungeklärten Verschwinden ihrer Männer leben und seelisch kämpfen müssen, ihre Gefühle, ihre Ängste und Geheimnisse. Es geht um den unerwarteten Verlust des Partners, um die Fähigkeit, auch 20 Jahre später noch trauern zu können. Es geht um anhaltende Hoffnung auf Rückkehr und verschiedene Arten von Liebe. Der Autorin gelingt es beeindruckend, sich in die Gefühlswelt dieser drei charakterlich und vom Alter her so unterschiedlichen Frauen hineinzuversetzen und ihr heutiges, von Fall zu Fall auch damaliges Handeln zu begründen.
Parallel dazu erfahren wir die 20 Jahre zurückliegende Vorgeschichte auf dem Leuchtturm, „diesem Ort auf halbem Weg zwischen Himmel und Hölle …. der keine Familien kennt“, die letztlich zum Verschwinden der drei Wärter geführt haben mag. „Drei Männer und eine Menge Wasser. Nicht jeder hält es gut aus, eingesperrt zu sein. Einsamkeit, Isolation, Eintönigkeit. Kilometerweit nichts als Meer und Meer und Meer.“ Am Silvestertag findet der alarmierte Suchtrupp nur den leeren Leuchtturm, keine Toten. Beide Wanduhren sind um Viertel vor Neun stehengeblieben, am Esstisch ist für zwei Personen eingedeckt, nicht für drei. Die Türen sind von innen verschlossen. „Nichts deutet auf einen überstürzten Aufbruch hin, eine Flucht, nichts lässt vermuten, dass die Wärter diesen Ort verlassen haben.“ Eine Vermutung lässt die Behörden allerdings die Akten bald schließen: „[Vincent] war der Kriminelle, also muss er es getan haben. Was genau er getan haben soll, können sie nicht sagen, aber wen kümmern schon Einzelheiten, wenn man einen Schuldigen hat“ und die anderen beiden offensichtlich „ohne Fehl und Tadel“ waren.
Emma Stonex geht es in ihrem Roman nicht um Aufklärung eines Geheimnisses, auch wenn sie ihren Lesern am Ende eine Möglichkeit anbietet, wobei gerade dies eher ein Makel ihres empfehlenswerten Romans ist. Was ihren Roman so eindrucksvoll macht, ist dessen mystische Atmosphäre, die Schilderung des bedrückenden Arbeitsalltags der einsamen Männer im Leuchtturm, die Beschreibung der rücksichtslosen Naturgewalt des umgebenden Meeres sowie der Gefühlswelt der drei Frauen, die nicht allein durch ihr gemeinsames Schicksal auch nach 20 Jahren noch miteinander verbunden sind.

Veröffentlicht am 27.10.2021

Gibt es eine zweite Chance im Leben?

Vom Versuch einen silbernen Aal zu fangen
0

REZENSION - „Früher war alles besser“, ist der von Jüngeren ungeliebte Satz vieler älterer Menschen. Nichts im Leben ist unveränderlich. Die Welt dreht sich, Zeiten ändern sich, denen man sich anpassen ...

REZENSION - „Früher war alles besser“, ist der von Jüngeren ungeliebte Satz vieler älterer Menschen. Nichts im Leben ist unveränderlich. Die Welt dreht sich, Zeiten ändern sich, denen man sich anpassen muss. Doch nicht allen gelingt dies oder nicht in ausreichendem Maß. Von dieser Hoffnung auf Wiederkehr der „guten, alten Zeit“, von Hindernissen und Mühen, sich auf seinem Lebensweg umzustellen oder gar Neues zu wagen, von der Angst zu versagen, aber auch von der Vorfreude auf eine neue Chance, sei sie auch noch so unrealistisch, also „vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen“, handelt der gleichnamige Debütroman der Schriftstellerin Janine Adomeit (38), im Juli beim dtv Verlag erschienen.
Gefühle der Verbitterung, der Existenzangst, aber auch der Hoffnung auf die ersehnte zweite Chance erleben wir bei den Einwohnern des einst florierenden rheinischen Kurorts Villrath. Vor 17 Jahren versiegte plötzlich die heilbringende und einkommenssichernde Marienquelle. Viele Jahre lang wollte man es die Villrather nicht wahrhaben: „Als einen vorübergehenden Schluckauf der Natur hatten es auch die Villrather abgetan. … Jeder hatte daran geglaubt, dass alles schon wieder gut würde. Woran sonst?“ Doch die Katastrophe blieb unabwendbar: „Danach war nichts mehr wie zuvor. Kein Weinfest. Keine ausgebuchten Fremdenzimmer mehr. Keine Reisebusse aus Holland und Belgien. Auch die Pläne für die Therme und die Rehaklinik verworfen. Die Jüngeren, Gesunden hatten Anstellungen in der Zucker- oder Brikettfabrik gefunden. Die anderen nichts.“
Für die Zurückgebliebenen scheint seitdem das Leben stillzustehen. Änderung zum Besseren ist nicht in Sicht. Doch völlig unerwartet beginnt nach Bauarbeiten an der einstigen Quelle wieder etwas Wasser zu rieseln. Ist es die alte Heilquelle? Bekommt Villrath eine zweite Chance? Die von der Autorin etwas schrullig charakterisierten, aber vielleicht gerade deshalb so liebenswerten Einwohner wittern eine neue Einnahmequelle, neuen Wohlstand, eine Rückkehr in längst ergangene Zeit. Vera, die als letzte Trägerin der Nixenkrone wegen des Versiegens der Quelle damals nicht mehr zum Einsatz kam, inzwischen Wirtin einer unrentablen Gastwirtschaft mit Stammgästen ohne Lebensperspektiven ist, will nicht nur ihr Recht wahrnehmen, nun endlich als Nixe auftreten zu dürfen, sondern beschließt mit allen Mitteln, nach all den verlorenen Jahren ihren alten Jugendtraum umzusetzen. Der vom Leben frustrierte Kamps kämpft mit Klappstuhl und Gewehr im Garten gegen die neue Zeit. Während manche Erwachsenen am Zeitenwandel verzweifeln, andere auf ihre zweite Chance warten, versucht der heranwachsende Johannes seine erste Chance zu nutzen und sich aus der kleinbürgerlichen Enge zu befreien. Doch geblendet von euphorischer Hoffnung, verlieren alle die Realität aus den Augen. „So etwas wie eine zweite Chance gibt es nicht. Man kann nichts wiederholen. Man kann nur andere, neue Fragen stellen und andere, neue Antworten finden“, meint die Autorin folgerichtig in einem Interview.
In ihrem lesenswerten, auch sprachlich ausgezeichneten Romandebüt über die Zerbrechlichkeit von Lebensträumen beschreibt Janine Adomeit ihre charakterlich so verschiedenen, aber in ihrer gemeinsamen Hoffnung auf ein besseres Leben so einige Protagonisten auf sehr berührende, mitfühlende und psychologisch tiefgründige Weise. Und doch lässt die Tragikomik ihrer Geschichte über den verzweifelten Aktionismus der Romanfiguren uns Leser auch leicht schmunzelnd, vielleicht sogar etwas nachdenklich zurück. „Vom Versuch, einen silbernen Aal zu fangen“ ist ein viel versprechendes Erstlingswerk, das auf weitere Romane dieser Autorin hoffen lässt.