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Veröffentlicht am 17.09.2024

Beeindruckende und beklemmende Dystopie

Das Lied des Propheten
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REZENSION – Bereits im vergangenen Jahr wurde der dystopische Roman „Prophet Song“ des irischen Schriftstellers Paul Lynch (47) mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet und stand auf der Shortlist ...

REZENSION – Bereits im vergangenen Jahr wurde der dystopische Roman „Prophet Song“ des irischen Schriftstellers Paul Lynch (47) mit dem britischen Booker Prize ausgezeichnet und stand auf der Shortlist des Irish Book Award. Auch die im Juli als „Das Lied des Propheten“ beim Verlag Klett-Cotta veröffentlichte deutsche Fassung hätte einen Preis verdient. Wer dieses Buch gelesen hat, wird wohl nicht sofort mit dem nächsten beginnen können. Man braucht etwas Zeit, um diese aufwühlende Handlung über das schrittweise Erstarken des Rechtsextremismus und seine ungeahnten Folgen, die der Londoner „Telegraph“ in Anspielung an George Orwells Klassiker zu Recht „Irlands 1984“ nennt, verarbeiten zu können. Denn obwohl dieser Roman rein fiktiv und in der Republik Irland angesiedelt ist, muss er gerade auf uns deutsche Leser angesichts aktueller Wahlergebnisse in Ostdeutschland und ergänzt um das Wissen über das einstige Erstarken der Nazis und dessen Folgen, beängstigend wirken.
Lynch hat seinen Roman über die allzu leichte Zerbrechlichkeit westlicher Demokratien in seiner Heimat angesiedelt, wo ebenfalls rechtsextreme Parteien und Gruppen wachsen. In seiner Erzählung ist es die National Alliance Party (NAP), die schon zwei Jahre zuvor an die Macht gekommen ist und nun – die Parallele zur Machtergreifung der Nazis ist offensichtlich – durch ständig neue Notverordnungen sowie Einsatz der Gardaí-Polizei und des neuen GNSB-Staatssicherheitsdienstes das Land unter ihre Kontrolle bringt.
Eines Abends stehen zwei GNSB-Beamte vor der Haustür der Dubliner Wissenschaftlerin Eilish Stark. Sie wollen ihren Ehemann Larry sprechen, einen bekannten Funktionär der Lehrer-Gewerkschaft, die gerade eine Großdemonstration vorbereitet. Noch vertrauen die Eheleute auf den Rechtsstaat und die Verfassung des Landes. „Das ist ein eklatanter Bruch internationalen Rechts. Warum dürfen die machen, was sie wollen, warum hat niemand Stopp geschrien?“ - „Das geht alles vorbei, Eilish, früher oder später wird die NAP nachgeben müssen, in ganz Europa herrscht Empörung.“
Doch Larry wird verhaftet und bleibt für Eilish unauffindbar. Sie versucht, ihren Kindern Mark (17), Molly (15) und Bailey (12) sowie Nachzügler Ben (1) die „heile Welt“ zu bewahren. Doch die Ereignisse spitzen sich zu. Nicht nur das Wohnhaus der Familie Stark, die inzwischen als Regime-Gegner bekannt ist, wird von Schlägern beschädigt. „Windschutzscheiben mit Rohren und Baseballschlägern [werden] zertrümmert, Schaufenster eingeschlagen und Hausfassaden demoliert. Es gehen Gerüchte, einige der Männer seien Angehörige der Sicherheitskräfte, einige gehörten den Gardaí an.“
Das Regime hat inzwischen Justiz und Wirtschaft unter seine Kontrolle gebracht, in Unternehmen werden Regime-Kritiker gegen Anhänger ausgetauscht. „Jeden Tag schließt wieder ein internationales Unternehmen unter Ausflüchten die Tore.“ Irlands Nachbarländer schweigen. Es formiert sich eine Rebellen-Armee, der sich auch der 17-jährige Mark anschließt. Wie wird es weitergehen? Was kann Eilish tun, um sich und ihre Familie zu retten? Muss sie weiter ausharren, um auf die Rückkehr von Ehemann und Sohn zu warten? Es bleibt eine Hoffnung: „Früher oder später wird der Schmerz zu groß für Furcht, und wenn die Menschen die Furcht verloren haben, wird das Regime weichen müssen.“ Wird es das?
Paul Lynch erzählt das Schicksal einer bürgerlichen Durchschnittsfamilie in einem einst demokratischen Rechtsstaat, die durch politische Umwälzungen unschuldig und unerwartet in Gefahr für Leib und Leben gerät. Er schildert auf beklemmende Weise, wie sich der Totalitarismus im Land festigt. Doch die Dramatik der Handlung entsteht nicht durch die Zuspitzung der Geschehnisse allein, sondern auch durch Lynchs ungewöhnlichen Schreibstil: Wörtliche Rede wird nicht durch Anführungsstriche kenntlich gemacht, sondern Prosa und Dialoge verschmelzen ineinander zu langen Sätzen, die durch das Auslassen von Pausen schon beim Lesen fast den Atem nehmen.
„Das Lied des Propheten“ ist ein Roman, der uns alle angeht – gerade in heutiger Zeit. Was Paul Lynch in seinem Buch beschreibt, ist noch fiktive Dystopie. Doch sie kann schneller als gedacht Wirklichkeit werden. Brauchen wir wirklich erst einen irischen Schriftsteller als Warner vor rechtem Extremismus, da „der Prophet im eigenen Land“ bekanntlich nichts gilt?

Veröffentlicht am 14.09.2024

Beeindruckende Biografie einer beeindruckenden Frau

Der Pelikan - Das Leben der Lina Richter
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REZENSION - „In der Familienchronik dominieren die berühmten Männer, .... Für die Geschichte der Frauen war da wenig Platz“, bemängelt Autorin Angela Hartwig im Vorwort ihres Buches „Der Pelikan. Das Leben ...

REZENSION - „In der Familienchronik dominieren die berühmten Männer, .... Für die Geschichte der Frauen war da wenig Platz“, bemängelt Autorin Angela Hartwig im Vorwort ihres Buches „Der Pelikan. Das Leben der Lina Richter“. So ist ihre im Juli beim Vergangenheitsverlag veröffentlichte Biografie die erste umfassende Beschreibung der beeindruckenden Lebensleistung der Lina Richter (1872 bis 1960), die als Tochter des Berliner Bankiers Benoit Oppenheim in wohlhabenden bildungsbürgerlichen Kreisen aufwuchs und deren Leben nach der Hochzeit mit dem Philosophie-Professor und Nietzsche-Forscher Raoul Richter (1871 bis 1912), Sohn des Malers Gustav Richter und Enkel des Komponisten Giacomo Meyerbeer, sich nach damaliger gesellschaftlicher Vorstellung auf die Pflichten als Ehefrau und Mutter beschränken sollte.
Schon mit der Heirat des jungen, noch brotlosen Philosophen hatte sich die hochgebildete und selbstbewusste Lina Oppenheim, die Ururgroßmutter der Autorin, gegen den Widerstand des Vaters durchsetzen können, der sich seine Tochter lieber an der Seite eines vermögenden Bankiers gewünscht hatte. Selbstbewusstsein, Selbstvertrauen und Bildung waren es auch, die der 40-jährigen Witwe den weiteren Weg ebneten. „Selbstständig darf sie nicht über die Zukunft der Familie entscheiden. Ihr und den Kindern wird Raouls Bruder Reinhold als Vormund bestimmt. Die Gesetze der Kaiserzeit bestimmen die entwürdigende … Erniedrigung von Witwen.“ Doch „ein Dasein nur als Hausfrau und Mutter behagt ihr gar nicht, sie fühlt sich einsam und wertlos“, heißt es im Buch. So veröffentlichte die alleinerziehende Mutter von fünf Kindern – von ihnen wird sie „Pelikan“ genannt, da diesem Vogel „die Tugenden der Nächstenliebe, Hilfsbereitschaft und des Familiensinns zugeschrieben“ werden – zunächst den Nachlass ihres Mannes, dem sie schon zu Lebzeiten als gleichrangige Beraterin zur Seite gestanden hatte, engagierte sich in der Deutschen Vereinigung für Frauenstimmrecht und avancierte sogar zur politischen Beraterin des Prinzen Max von Baden, des letzten kaiserlichen Kanzlers. Nach dem Krieg gründete sie mit ihrem ehemaligen Vorgesetzten im Außenministerium, dem Pädagogen Kurt Hahn (1886 bis 1974), den Lina schon Jahre zuvor im Berliner Salon seiner Mutter kennengelernt hatte, das reformpädagogische Internat Salem am Bodensee und arbeitete dort – wie schon vor ihrer Ehe – wieder als Lehrerin. Wegen ihrer jüdischen Abstammung verlor sie 1934 ihre Lehrerlaubnis. Daraufhin folgte sie Kurt Hahn nach Schottland, wo dieser gerade in Moray die British Salem School (heute Gordonstoun) aufbaute. Erst 1953 kehrte Lina Richter nach Deutschland zurück, wo sie 1960 in Kiel starb. Es war der Tod des britischen Prinzgemahls (2021), der Angela Hartwig den Anstoß gab, die Biografie ihrer Ururgroßmutter zu verfassen, war diese doch des Prinzen Lehrerin sowohl in Salem als auch später in Gordonstoun gewesen.
„Dieses Buch erhebt nicht den Anspruch, wissenschaftlich-akademische Studie zu sein. Vielmehr möchte ich über die zitierten Briefe die Akteurinnen und Akteure in Dialog miteinander treten lassen.“ Und weiter heißt es im Vorwort: „Doch Gespräche in der Familie, ihre Gewohnheiten und Traditionen werden in der Regel nur mündlich von Generation zu Generation weitergegeben. Gerade dieses mündlich Tradierte … birgt Atmosphärisches und Emotionales.“ So verarbeitete die Autorin in ihrem „erzählenden Sachbuch“ vor allem Auszüge aus den 800 erst vor wenigen Jahren aufgefundenen und nun im Berlin-Brandenburgischen Wirtschaftsarchiv archivierten Familienbriefen sowie im Familienkreis Gehörtes.
Auf diese sehr familiäre und persönliche Weise bringt uns die Autorin, die heute als pädagogische Mitarbeiterin einer Grundschule gewissermaßen das reformpädagogische Erbe ihrer Ururgroßmutter erfüllt, nicht nur den ungewöhnlichen Werdegang der Lina Richter, sondern zugleich auch das über fünf Generationen reichende gesellschaftliche Leben und Wirken ihrer teils großbürgerlich jüdischen, teils preußisch adligen Familie aus der Kaiserzeit bis zur Zeit der Nationalsozialisten empathisch wesentlich näher als jede geschichtswissenschaftlich-nüchterne Arbeit. „Ich schätze mich glücklich und stolz, eine Nachfahrin Lina Richters zu sein. Sie war eine bemerkenswerte Frau mit einem bewegten Leben. Ihr Name gehört in die Geschichtsbücher“, schrieb Angela Hartwig kürzlich dem Rezensenten. Es ist gerade dieses Familiäre, das ihre Biografie „Der Pelikan“ lebendiger, deshalb interessanter und umso lesenswerter macht.

Veröffentlicht am 01.08.2024

Die zwei Seiten des Ephraim Kishon

Ephraim Kishon
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REZENSION - „Ich bedaure nur, dass ich meiner eigenen Beerdigung nicht lauschen kann. Man wird so schöne Sachen über mich sagen, .... Schade, dass ich das verpasse“, meinte einst der 1924 in Budapest als ...

REZENSION - „Ich bedaure nur, dass ich meiner eigenen Beerdigung nicht lauschen kann. Man wird so schöne Sachen über mich sagen, .... Schade, dass ich das verpasse“, meinte einst der 1924 in Budapest als ungarisch-jüdischer Bankdirektoren-Sohn Ferenc Hoffmann geborene und seit 1949 israelische Schriftsteller, Theater-Autor und Regisseur Ephraim Kishon (1924-2005). Doch während die Beisetzung des seit Anfang der 1980er Jahre in der Schweiz lebenden Satirikers im Jahr 2005 in Tel Aviv kaum Beachtung fand, bringt uns Autorin Silja Behre, die als promovierte Historikerin an der dortigen Universität arbeitet, den inzwischen in Deutschland fast vergessenen Bestseller-Autor anlässlich seines 100. Geburtstags in ihrer lesenswerten Biografie „Ephraim Kishon. Ein Leben für den Humor“, im Juli beim Verlag Langen-Müller erschienen, nicht nur wieder in Erinnerung, sondern lässt uns bislang unbekannte Seiten seiner Persönlichkeit erfahren.
Auf über 400 Seiten mit 46 Seiten Anmerkungen, zehn Seiten Quellen- und Literaturvereichnis und einem siebenseitigen Personen- und Sachregister lernen wir Ephraim Kishon nicht nur als unterhaltsamen Satiriker, sondern vor allem als politisch engagierten israelischen Staatsbürger kennen. Die Autorin zeigt uns den Zwiespalt zwischen dem „deutschen“ und dem „israelischen“, dem „satirischen“ und dem „politischen“ Kishon. Denn neben dem in der Bundesrepublik der 1960er und 1970er Jahre gefeierten Star-Autor, was nicht zuletzt seinem Übersetzer Friedrich Torberg zu verdanken ist, gab es auch den in Israel durchaus umstrittenen „politischen“ Kishon.
Etwa 35 Millionen der weltweit 40 Millionen Bücher Kishons wurden allein auf Deutsch verkauft. „Für die literarische Satire und Humoreske fehlte im Westdeutschland der Nachkriegszeit das Personal“, schreibt Behre. Hier leisteten Kishons Sartiren nach Meinung der Autorin „Entwicklungshilfe in Sachen Humor“. Ausgerechnet der einst von den Nazis verfolgte Autor, dessen Familie im KZ Auschwitz umgekommen war, schrieb „der Deutschen liebste Bücher“ wie „Drehn Sie sich um Frau Lot!“ (1961), „Arche Noah Touristenklasse“ (1963) oder die amüsanten Familiengeschichten mit "der besten Ehefrau von allen". Dabei brachte sich Kishon oft selbst als „Marketing-Manager in eigener Sache“ ein, wie die Autorin in einem besonders interessanten Abschnitt an Beispielen nachweist, und damals die „Bestselleritis“ auf dem deutschen Buchmarkt mitbegründete: „Er avancierte als eine Art literarische Ich-AG zum Verteidiger seiner finanziellen und publizistischen Interessen, intervenierte in die Werbemaßnahmen des Verlags und knüpfte den Erfolg seiner Werke an seine Person, so dass er selbst zum Werbeträger wurde. ... Er war kein zurückgezogen lebender Schriftsteller, sondern … ein auf Öffentlichkeit und PR bedachter Selbstvermarkter.“ Für Kishon war dies selbstverständlich: „Um Millionen von Büchern zu verkaufen, muss ich arbeiten.“ Doch trotz seines Erfolgs in der Bundesrepublik war Kishon mit seinem Image nicht zufrieden: Er sei das „Opfer einer bestimmten Optik“, die seine Rolle als „einer der schärften Regimekritiker“ in Israel ausblende und nicht übersetze, weil sein Verleger fürchte, dass er durch die Veröffentlichung eines „Un-Kishon“ sein Publikum verliere, wird Kishon zitiert.
Interessant in Behres Biografie ist auch die uns Deutschen eher unbekannte Seite Kishons: Denn während der „deutsche“ Kishon ein auf Humor reduzierter Autor war, der nach Meinung bundesdeutscher Literaturkritiker nur „humoristische Massenware ohne literarische Qualität“ lieferte, galt der „israelische“ Kishon als umstrittener politischer Analyst – vor allem durch seine seit 1952 in der Zeitung „Maariv“ erscheinende Kolumne „Chad Gadya“ über das politische und alltägliche Leben im Land.
Die Jahrzehnte, als man den „deutschen“ Kishon in jeder Buchhandlung fand, sind längst vorbei. Heute findet man seine Bücher massenweise – gleich neben Simmel und Konsalik – in Antiquariaten und öffentlichen Bücherschränken. Kommt Behres Kishon-Biografie also Jahrzehnte zu spät? Gewiss nicht! Denn liest man die Kapitel über den in Jugendjahren von Nazi-Terror und -Arbeitslager, Flucht und sowjetischem Gulag geprägten „israelischen“ und „politischen“ Kishon, teilen gerade heute aus aktuellem Anlass wieder viele Israelis seine Meinung: Kishon forderte für arabische Terroristen und Geiselnehmer die Todesstrafe und duldete die gezielte Tötung durch den israelischen Geheimdienst Mossad. Jener Kishon, der in der Bundesrepublik einst für fröhliche Stimmung sorgte, bedauerte gleichzeitig: „Die Welt sieht Israel und die Juden am liebsten als Opfer, nicht als sich selbst verteidigende Militärmacht.“ Vielleicht sollte man unter diesem Aspekt gerade heute die alten Kishon-Satiren noch einmal aufmerksamer lesen? Denn dank Silja Behre und ihrer ausgezeichneten, auf unzählige Quellen stützenden, umfassenden Biografie wird deutlich: Ephraim Kishon war weit mehr als ein unterhaltsamer Satiriker, der nur für ein „Auflachen mit Halbbildung“ sorgte, wie es ein Kritiker mal formulierte.

Veröffentlicht am 31.07.2024

Ein dramatisches Meisterwerk

In den Farben des Dunkels
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REZENSION – Mit seinen Romanen „Von hier bis zum Anfang“ (2021) und „Was auf das Ende folgt“ (2022) wurde der bereits mehrfach ausgezeichnete britische Schriftsteller Chris Whitaker auch in Deutschland ...

REZENSION – Mit seinen Romanen „Von hier bis zum Anfang“ (2021) und „Was auf das Ende folgt“ (2022) wurde der bereits mehrfach ausgezeichnete britische Schriftsteller Chris Whitaker auch in Deutschland zum Bestseller-Autor. Im Juni erschien nun sein neuer Roman „In den Farben des Dunkels“ im Piper Verlag, ein knapp 600 Seiten fassendes, emotional berührendes episches Meisterwerk, wie man es heute nur noch selten zu lesen bekommt, woran der Autor nach eigener Aussage vier Jahre lang gearbeitet hat.
In seinem in einem amerikanischen Provinzstädtchen angesiedelten Roman, der trotz seines Umfangs sprachlich leicht lesbar ist, schildert der Autor in zehn über die Jahre 1975 bis 2001 verteilten Kapiteln den ungewöhnlichen Lebensweg des anfangs 13-jährigen Patch, wegen seiner Augenklappe nur „Pirat“ genannt, und dessen bester Freundin, der „Bienenzüchterin“ Saint. Eines Tages – zuvor waren in der Gegend vereinzelt Mädchen verschwunden – wird Patch entführt und in einem stockdunklen Verließ gefangen gehalten. Hin und wieder besucht ihn dort das Mädchen Grace und erlöst ihn aus dem Dunkel, indem sie ihm in ihren liebevollen Gesprächen die Welt draußen in bunten Farben „malt“.
Trotz intensiver Arbeit der Polizei ist es schließlich nur der Unnachgiebigkeit der jungen Saint zu verdanken, dass Patch dann doch gefunden wird. Sie hatte seit seinem Verschwinden ihr eigenes Leben der Suche nach dem Freund untergeordnet. Doch statt ihr für die Befreiung dankbar zu sein und sein Leben als Jugendlicher an ihrer Seite fortzusetzen, verprellt Patch sie und alle anderen. Sein einziger Lebenszweck ist fortan, Grace wiederzufinden. „Kennst du das, wenn plötzlich alles einen Sinn hat? Einen Sinn und einen Zweck?“ – „Wie Farben im Dunkeln.“ – „Nichts ist wirklich dunkel, wenn Farben in der Welt sind.“
Doch niemand glaubt ihm, dass es diese Grace wirklich gibt. Man ist stattdessen der Meinung, Grace sei nur eine Halluzination als Folge seiner Gefangenschaft in absoluter Dunkelheit. Einzig Patch ist von der Existenz des Mädchens überzeugt und versucht – gelegentlich auch außerhalb der Legalität – im Laufe der nächsten Jahre und Jahrzehnte, das geheimnisvolle Mädchen aufzuspüren. Zwar sucht auch seine Freundin Saint den Entführer, aber dies auf ihre ganz eigene Weise – selbst auf die Gefahr hin, dass sie Patch als Freund verlieren könnte.
„In den Farben des Dunkels“ ist ein beeindruckender, in der Charakterisierung seiner Hauptfiguren psychologisch tiefgehender Roman um bedingungslose Liebe, der in seiner atmosphärischen Dichte und Spannung einem Thriller gleichkommt. Wir Leser begleiten nicht nur Patch, der bald als Maler durch seine Porträts der vermissten und in Einzelfällen tot aufgefundenen Mädchen berühmt wird, auf seiner Suche quer durch die Vereinigten Staaten, sondern auch Saint, die statt zu studieren als Polizistin auf der Suche nach dem Entführer und Serienmörder Karriere macht. Wir lernen auch Patch's Mutter und Saints Großmutter kennen, ebenso wie den verschlossenen Ortspolizisten Nix, den Kunsthändler Sammy und den allen vertrauten Hausarzt Marty Tooms, also das Leben in einer fast idyllischen Kleinstadt, wo jeder jeden kennt – und es am Ende doch tief verborgene Geheimnisse gibt.
Sicher hätte man den Roman stellenweise kürzen können. Doch gelingt es Chris Whitaker tatsächlich, die Dramatik des Geschehens wohldosiert und mittels überraschender Wendungen auf allen knapp 600 Seiten auf hohem Niveau zu halten. Er schildert – neben atmosphärischer Beschreibung der wechselnden Schauplätze in ihrer landschaftlichen Umgebung – das Zusammenwirken und die Entwicklung seiner Figuren auf ihrem vom unausweichlichen Schicksal vorgezeichneten Weg so eindrücklich und offenbart deren jeweilige innere Zerrissenheit so ergreifend, dass man Seite für Seite mit ihnen leiden, sich ängstigen und hoffen muss. „In den Farben des Dunkels“ ist nicht nur ein unbedingt lesenswerter, sondern auch preiswürdiger Roman.

Veröffentlicht am 18.06.2024

Atmosphärisch dicht und empathisch

Der Friedhofswärter
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REZENSION – In seiner Heimat USA ist der bereits vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ron Rash (70) durch seine seit 25 Jahren veröffentlichten Romane und Erzählungen längst als erfolgreicher Autor bekannt. ...

REZENSION – In seiner Heimat USA ist der bereits vielfach ausgezeichnete Schriftsteller Ron Rash (70) durch seine seit 25 Jahren veröffentlichten Romane und Erzählungen längst als erfolgreicher Autor bekannt. Zweimal war er schon Finalist für den höchst angesehenen PEN/Faulkner Award, zu dessen Preisträgern weltbekannte Autoren wie T. C. Boyle, Philip Roth, Richard Ford und John Updike gehören. Doch im deutschsprachigen Raum kennt man ihn noch nicht. Dies wird sich dank seines neuen Romans „Der Friedhofswärter“ jetzt hoffentlich ändern, der in deutscher Übersetzung im Mai beim Verlag ars videndi erschien. Darin geht es um wahre und falsch verstandene Liebe, um Verrat, um Angst vor Gesichtsverlust und um Machtmissbrauch in dichter Kleinstadt-Atmosphäre.
Daniel und Cora Hampton sind zu Beginn der 1950er Jahre als Eigentümer des örtlichen Sägewerks und Ladengeschäfts die wichtigsten Arbeitgeber in Blowing Rock, einem Provinznest in den Apalachen. Nach dem Weltkrieg haben sie vielen Männern Arbeit gegeben und ihnen mit Krediten ausgeholfen. Heute gehören sie zu den Honoratioren des Ortes. Viele Bewohner sind von ihnen finanziell oder moralisch abhängig.
Nach dem frühen Tod ihrer beiden Töchter wurde ihnen unerwartet doch noch Sohn Jacob geboren, auf den sich nun die Liebe der Eltern übermächtig konzentriert. Sie tun alles für ihn, sie planen sein Leben und hatten sogar schon eine Braut für ihn ausgesucht. Doch Jacob hatte andere Pläne: Er heiratete kürzlich die erst 16-jährige Naomi, ein Zimmermädchen aus einfachsten Verhältnissen, und ist mit ihr durchgebrannt, woraufhin die Eltern ihn enterbten. Ausgerechnet als Naomi ihr Kind erwartet, wird Jacob nun als Soldat in den Korea-Krieg einberufen und wenige Wochen später schwer verwundet. Ein entsprechendes Telegramm wird nicht an Naomi weitergeleitet, sondern an Jacobs Eltern. Die Mutter ersinnt gemeinsam mit ihrem Mann einen hinterhältigen Plan, um ihren „verlorenen“ Sohn wieder an sich binden zu können. Jacobs junger Freund Blackburn Gant, der seit der Kindheit durch eine Poliokrankheit entstellt ist, hat sich als Friedhofswärter an den Ortsrand zurückgezogen. Ihn hatte Jacob gebeten, für Naomi während der Schwangerschaft zu sorgen, während er selbst in Korea ist. Blackburn steht nun zwischen seinen Freunden und Jacobs Eltern, die den Unwissenden für ihren perfiden Plan unbemerkt missbrauchen.
Doch so perfekt der Plan der Hampton-Eltern auch ausgedacht sein mag: „So viele Lügen, so viele Stolpersteine, jederzeit droht ihr egozentrischer Plan aufzufliegen.“ Immer wieder entschuldigt Mutter Cora sich selbst und ihren Ehemann für ihrer beider selbstsüchtiges Handeln, das Jacobs frei gewähltes Leben mit Naomi zu zerstören droht: „Die Welt ist uns etwas schuldig.“ Doch dann kommt es, wie es kommen muss. „Die Wetterfahne [auf dem Kirchturm] drehte sich“, heißt es im Roman. Es geschieht etwas, was auch Cora Hampton nicht voraussehen konnte. „Jetzt hatte die Mauer Risse, durch die die Wahrheit hindurchsickern konnte.“
„Der Friedhofswärter“ ist trotz seiner Dramatik ein recht leiser, überaus gefühlvoller Roman, der dennoch nicht Gefahr läuft, ins Kitschige abzugleiten. Zwar baut sich die Spannung nur sehr langsam auf, doch die Lektüre wird nie langweilig. Wir lernen die einzelnen Charaktere ih ihrer jeweiligen Gefühls- und Gedankenwelt kennen. Der Autor urteilt nicht und unterteilt nicht in gute und schlechte Menschen. Jeder hat oder empfindet für sein individuelles Handeln gute Gründe. Die in ihrer Verzweiflung missverstandene Liebe der Eltern zu ihrem über alle Maßen geliebten Sohn wird ebenso verständlich und nachvollziehbar wie die wahre Liebe des jungen Paares zueinander. Doch der eigentliche Held dieser tragischen Geschichte ist der trotz seines Schicksals und erlittener Kränkungen gutherzige Blackburn Gant, den wir durch den Roman begleiten, in seiner unermesslichen Freundschaft zu Jacob.
Autor Ron Rash zeigt in seinen Protagonisten die unterschiedlichen Varianten von Liebe, die missbräuchlich in Verrat ausarten kann. Sein neues Buch ist zwar ein sprachlich leicht lesbarer, in seiner psychologischen Tiefe aber umso nachhaltigerer Roman, der zu weiterem Nachdenken anregt. Jetzt ist zu hoffen, dass „Der Friedhofswärter“ nicht das einzige Buch des amerikanischen Schriftstellers in deutscher Übersetzung bleibt.