Profilbild von Buchbesprechung

Buchbesprechung

Lesejury Star
offline

Buchbesprechung ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Buchbesprechung über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.12.2020

Humorvoller Krimi in bester britischer Manier

Mord in Highgate
0

REZENSION – Mit seinen eigenwilligen Krimis um den unsympathischen, aber als Privatdetektiv unschlagbaren Daniel Hawthorne hat der britische Schriftsteller Anthony Horowitz (64) eine Romanreihe geschaffen, ...

REZENSION – Mit seinen eigenwilligen Krimis um den unsympathischen, aber als Privatdetektiv unschlagbaren Daniel Hawthorne hat der britische Schriftsteller Anthony Horowitz (64) eine Romanreihe geschaffen, die mit ihrer geschickten Verbindung von Realität und Fiktion unvergleichlich ist. Nach „Ein perfider Plan“ (2019) fühlt man sich auch beim zweiten Band, „Mord in Highgate“, als Leser gedrängt, immer wieder im Internet zu prüfen, was oder wer nun echt oder nur erdacht ist.
Mitten in die Außenaufnahmen zur siebten Staffel der tatsächlich von Horowitz geschriebenen TV-Serie „Foyle's War“ platzt sein fiktiver Detektiv Hawthorne, um den Autor zur Aufklärung eines zweiten Mordfalles mitzunehmen. Horowitz hat eigentlich keine Lust, zumal er den oft überheblichen Hawthorne nicht leiden kann. Doch er hat – und dies ist Fakt – mit dem britischen Penguin-Verlag einen Vertrag über drei Bücher abgeschlossen, in denen er über die Arbeit seines Detektivs berichten soll.
Das Mordopfer ist der der Promi-Anwalt Richard Price, der in seinem Haus mit einer wertvollen Flasche Château Lafite Rothschild erschlagen wurde. Verdächtigt wird die feministische Schriftstellerin Akira Anno, die ihm wenige Tage zuvor in einem Restaurant ein Glas Rotwein ins Gesicht geschüttet und gedroht hatte, beim nächsten Mal eine ganze Flasche zu nehmen. Doch dann gibt es einen zweiten Toten. Beide Opfer verbindet ein Jahre zurückliegender Todesfall. Ist Rache das Motiv des Täters?
Der Reiz auch dieses zweiten Bandes um Daniel Hawthorne besteht in dem schnellen Wechsel von Fakten und Fiktion. Da ist Anthony Horowitz, in Deutschland vor allem durch seine verfilmte Jugendbuchreihe „Alex Rider“ bekannt, aber auch durch seine Sherlock-Holmes-Reihe, auf die in „Mord in Highgate“ häufig Bezug genommen wird. In diesem Krimi wird der Autor nun selbst zur Figur in einer fiktiven Handlung, in der er dem Privatermittler bei dessen Arbeit assistiert. Ähnlich wie bei Holmes und Watson bleibt dem berühmten Romancier aber zum eigenen Leidwesen nur die nachrangige Rolle des Protokollanten, der, ohne als Autor Einfluss nehmen zu können, ausnahmslos das Geschehen seinem fiktiven Protagonisten überlassen muss. Zwar versucht auch Horowitz, den Täter zu ermitteln, doch Hawthorne ist ihm und Scotland Yard immer einen Schritt voraus, weshalb der Autor eingesteht: „Das war mir jetzt peinlich. Ich war der Literat, ich hätte den Hintergrund dieser Geschichte erkennen sollen, nicht Hawthorne.“
Der Kriminalfall ist spannend, wenn auch dessen Auflösung geübte Leser britischer Krimi-Klassiker nicht überraschen mag. Wichtiger ist ohnehin die Rahmenhandlung: Da wechseln Fiktion und Realität in einem Tempo, dass beides kaum noch zu unterscheiden ist. Ganz verrückt wird es, wenn der fiktive Detektiv schließlich dem Autor empfiehlt: „Sie brauchen mich doch gar nicht. Sie können mich doch einfach erfinden.“ So wirkt es fast selbstverständlich, wenn Horowitz seine Danksagung beginnt: „Eine der Merkwürdigkeiten [….] besteht darin, dass ich am Ende Leuten zu danken habe, die selbst als Figuren im Buch auftreten.“ Und wieder wechseln dann reale mit fiktiven Personen. „Vielleicht war es ja doch keine so schlechte Idee“, meint der Autor im letzten Satz. Dem stimme ich zu: Die Romanreihe um Detektiv Daniel Hawthorne war eine gute Idee von Anthony Horowitz. Das eigenwillige Spiel in der engen Verbindung von Fakten und Fiktion ist ihm auch in „Mord in Highgate“ wieder ausgezeichnet gelungen, und der Krimi ist nach bester britischer Manier voller Ironie und Sarkasmus geschrieben. Wer sich gut unterhalten lassen will und auch bei Krimis gern schmunzelt, wird sicher seine Freude haben.

Veröffentlicht am 07.11.2020

Ein geheimnisvoller Cold Case, literarisch gut erzählt

Das Verschwinden des Dr. Mühe
0

REZENSION – Die Wiederaufnahme ungelöster, wenn auch nur fiktiver Kriminalfälle stehen erst seit wenigen Jahren im Mittelpunkt der Kriminalliteratur und wurden als spezielles Genre vor allem durch die ...

REZENSION – Die Wiederaufnahme ungelöster, wenn auch nur fiktiver Kriminalfälle stehen erst seit wenigen Jahren im Mittelpunkt der Kriminalliteratur und wurden als spezielles Genre vor allem durch die Bestseller des Dänen Jussi Adler-Olsen oder der Schottin Val McDermid, in Deutschland auch durch Inge Löhnig beliebt. Im August erschien nun im Penguin-Verlag mit dem Roman „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ des Historikers Oliver Hilmes (49) die literarische Bearbeitung eines echten „Cold Case“. Darin verbindet der Berliner Autor auf elegante Weise Fakten und Fiktion eines ungelösten Falles aus dem Jahr 1932 und macht den geheimnisvollen Fall vor historischer Kulisse zur lesenswerten Lektüre.
Im Juni 1932 bleibt der 34-jährige Berliner Hausarzt Dr. Erich Mühe nach einem nächtlichen Ausflug spurlos verschwunden. Sein Auto steht mit offenen Türen am Ufer des Sacrower Sees in Potsdam, der Schlüssel steckt. Zunächst vermutet auch Kommissar Ernst Keller einen Badeunfall, doch es findet sich keine Leiche. Bei seinen Befragungen von Mühes Ehefrau Charlotte und weiteren Zeugen stößt der in vielen Dienstjahren erfahrene Kommissar hinter der gepflegten Fassade eines gutbürgerlichen Haushalts auf Ungereimtheiten und Widersprüche. Woher kam das viele Bargeld, über das Mühe wohl verfügte? War er ein Engelmacher, der illegal Abtreibungen vornahm? Führte der Vermisste also ein Doppelleben? Warum löste er kurz vor dem Verschwinden sein Konto auf? Ging es um einen Versicherungsbetrug? Hat sich der Arzt, wie Zeugen andeuten, nach Barcelona abgesetzt, um ein neues Leben zu beginnen? Der Fall bleibt ungelöst. Als Keller drei Jahre später nach dem Tod von Charlotte Mühe diesen „Cold Case“ wieder aufnehmen will, wird er vom neuen Polizeipräsidenten, dem NS-Obergruppenführer Wolf-Heinrich Graf von Helldorff (1896-1944), gezwungen, die Akte zu schließen.
Autor Oliver Hilmes schildert den Kriminalfall anhand der im Berliner Landesarchiv archivierten Akten. Kapitelweise baut er auf Grundlage der alten Vernehmungsprotokolle eine spannende Geschichte auf, in deren Verlauf er nicht nur die damaligen Zeugen wieder lebendig werden lässt, sondern er lässt uns zugleich in seiner fiktiven Rahmenhandlung durch nur wenige, fast beiläufig in die Kapitel eingestreute Beispielen die politische und gesellschaftliche Umwälzung im Übergang der ausgehenden Weimarer Republik zur Nazi-Diktatur miterleben. So bestellte Kommissar Keller noch 1932 den damaligen Gesangslehrer und möglichen Liebhaber von Mühes Ehefrau Charlotte, den Komponisten Hugo Rasch (1873–1947), zur Vernehmung ins Polizeipräsidium, wogegen er bei Wiederaufnahme des Falles im Jahr 1935 seinen Zeugen um einen Gesprächstermin in dessen Büro bitten muss, da SA-Mitglied Rasch inzwischen zum Präsidialrat der Reichsmusikkammer aufgestiegen ist. Rasch ist es auch, der mit seiner Beschwerde beim Polizeipräsidenten für die Einstellung der Ermittlungen sorgt.
Autor Hilmes lässt in seiner Kriminalgeschichte erst 1946 die Schwester Mühes ihren Bruder allein weitersuchen. In diesem nun rein fiktiven Abschlusskapitel erlaubt sich der Autor die Andeutung einer möglichen Auflösung des Geheimnisses, womit er uns Lesern die Tür zu weiteren Gedankenspielen öffnet. So bleibt der Roman „Das Verschwinden des Dr. Mühe“ bis zur letzten Seite spannend, ohne allerdings stilistisch in reißerische Thriller-Manier abzugleiten. Im Gegenteil: Die ruhig gehaltene Erzählung bleibt trotz einiger geschickt platzierter Spannungselemente eine sachliche und deshalb glaubwürdige Darstellung mühsamer, wenn auch ergebnisloser kriminalistischer Ermittlungsarbeit. Gerade dies macht Oliver Hilmes' Buch so lesenswert.

Veröffentlicht am 03.11.2020

Spannender und unterhaltsamer Nachkriegskrimi

Der Petticoat-Mörder (Lemke-von Stain-Serie 1)
0

REZENSION – Historische Krimis, die in jüngerer Vergangenheit spielen, scheinen bei Verlagen und Lesern gerade hoch im Kurs zu sein. Hier noch eine Lücke für die eigene Krimireihe zu finden, scheint schwierig, ...

REZENSION – Historische Krimis, die in jüngerer Vergangenheit spielen, scheinen bei Verlagen und Lesern gerade hoch im Kurs zu sein. Hier noch eine Lücke für die eigene Krimireihe zu finden, scheint schwierig, ist aber dem unter Pseudonym Leonard Bell schreibenden deutschen Autor mit seinem spannenden, zugleich unterhaltsamen Auftaktroman „Der Petticoat-Mörder“ bestens gelungen. Der 2. Weltkrieg liegt schon einige Jahre zurück. Die Schrecken des Nazi-Regimes hat man verdrängt oder will sie vergessen machen – Schwamm drüber! In West-Berlin herrscht Ende der Fünfziger Jahre eine euphorische Aufbruchstimmung.
In dieser Zeit kommt der 23-jährige Fred Lemke als unerfahrener Quereinsteiger mit dem „zweitschlechtesten Zeugnis seines Jahrgangs“ als Kriminalassistent zur Berliner Kripo und wird gleich an seinem ersten Arbeitstag mit einem Mordfall betraut. An einem See- Ufer wurde eine männliche Leiche gefunden. Während sein wesentlich älterer und Fred ständig mit lateinischen Zitaten nervender Vorgesetzter, Kommissar Auweiler, schnell von einem Raubmord ausgeht und den Fall zügig erledigt sehen will, glaubt Fred nach Gesprächen mit der Ehefrau des Opfers, dessen Haushälterin und der Geliebten, einer wegen Erpressung vorbestraften Varieté-Tänzerin, mehr dahinter zu entdecken. Gemeinsam mit seiner nur wenige Jahre älteren Kollegin, der unnahbaren Sonderermittlerin Ellen von Stain, die mit ihm am selben Tag neu im Morddezernat begonnen hat, versucht er hinter die Geheimnisse der im Fall verstrickten Personen zu kommen, wobei er – zum Ärger seiner beamteten Vorgesetzten allzu oft seinem Bauchgefühl folgt und die Ermittlungen nach deren Meinung unnötig in die Länge zieht. Es versteht sich natürlich von selbst, dass letztlich nur Fred Lemke auf der richtigen Spur ist und – erneut zum Ärger seiner Vorgesetzten – den wahren Täter findet.
Autor Leonard Bell setzt sich mit seinem „Petticoat-Mörder“ wohltuend von anderen „Nachkriegskrimis“ ab. Zwar beschreibt auch er die politische und gesellschaftliche Situation des gesellschaftlichen Neuanfangs in den späten Fünfzigern, in der Nazi-Verbrechen allzu leichtfertig als Befehlsausführung verharmlost wurden, NS-Beamte mit scheinbar weißer Weste wieder in den Beamtenstatus übernommen sind und unbelehrbare Alt-Nazis sich in Kameradschaften zusammenschlossen. Doch Leonard Bell verzichtet auf die gängige Schwarz-Weiß-Malerei und bedient sich nicht des Klischees, zwingend unter ihnen seine Mörder zu suchen. Mit Fred Lemke tritt bei Bell die junge, die unbelastete Generation an, für ein besseres Deutschland zu arbeiten. Doch auch Fred muss sich vor alten NS-Seilschaften hüten – nicht zuletzt in der eigenen Behörde.
Mit seinem Fred Lemke hat der Autor eine Figur geschaffen, deren Charakterisierung als noch unerfahrener Kripo-Quereinsteiger mit wachsendem Selbstbewusstsein ausreichend Raum für folgende Romane lässt. Auch das Geheimnis um die ominöse Sonderermittlerin Ellen von Stain, die sich in der Dienststelle anscheinend alles erlauben darf, hat Fred Lemke noch nicht lüften können. Sie scheint allerdings die einzige im Morddezernat zu sein, die Freds Qualifikation als Ermittler erkannt hat und ihn unmerklich unterstützt. Wir dürfen also gespannt sein, wie sich die Karriere des jungen Kriminalassistenten Fred Lemke in Leonard Bells gut gemachter, als Feierabend-Lektüre bestens geeigneter Krimireihe weiter entwickeln wird.

Veröffentlicht am 31.10.2020

Über die Sinnlosigkeit des Krieges

Caribou
0

REZENSION – Kriegsromane über den 2. Weltkrieg sind schon längst nicht mehr zeitgemäß, dienten diese doch meist auf „Heldensagen“ einstiger Soldaten basierenden Erzählungen in den Nachkriegsjahren zumeist ...

REZENSION – Kriegsromane über den 2. Weltkrieg sind schon längst nicht mehr zeitgemäß, dienten diese doch meist auf „Heldensagen“ einstiger Soldaten basierenden Erzählungen in den Nachkriegsjahren zumeist der Geschichtsklitterung und Beruhigung des deutschen Gewissens. Doch der jetzt auf Deutsch veröffentlichte Roman „Caribou“ des kanadischen Schriftstellers Kevin Major (71) ist ein Kriegsroman, den man in der Zeitlosigkeit seiner Botschaft als rühmenswerte Ausnahme dieses literarischen Genres sehen muss. Der Roman hält sich an historische Fakten der Atlantikschlacht im Winter 1942/1943, doch im Vordergrund stehen vor allem die Menschen - Soldaten und Zivilisten sowohl auf deutscher wie auch auf alliierter Seite - mit ihren Gefühlen und Hoffnungen.
Die „Caribou“ war eine zwischen der kanadischen Küstenprovinz Nova Scotia und Neufundland pendelnde Fähre mit Kapitän Benjamin Taverner (1880-1942). Am 14. Oktober 1942 wurde das Schiff auf der Überfahrt vom deutschen U-Boot U69 unter dem Kommando von Kapitänleutnant Ulrich Gräf (1915-1943) torpediert und versenkt. An Bord der Fähre waren damals 237 Menschen. 137 Menschen verloren ihr Leben, nur 34 Leichen wurden geborgen.
Torpedierung und Untergang der „Caribou“ machen nicht die Handlung des Romans aus, sondern sind nur der Ausgangspunkt für die weitere Entwicklung menschlicher Tragödien, die der Autor in seinem Roman überaus eindrucksvoll und berührend schildert. Unmittelbar nach dem Untergang der Fähre stellt sich die Frage nach dem Sinn des Krieges und nach Gott: „Wo war denn Gott, als der Torpedo einschlug? … Was ist mit dem Mann, der den Torpedo abschoss? Was geht bloß in seinem Kopf vor?“, fragt eine Überlebende. Es ist derselbe Gott, auf den die Deutschen schon im 1. Weltkrieg bei der Schlacht um Verdun setzten und auf dessen Hilfe nun die Engländer hoffen, die gerade Bomben über Deutschland abwerfen. Auch Kommandant Gräf fragt sich: „Macht das wirklich noch alles Sinn für dich? Ich bin der Mann, der den Torpedo abfeuern ließ – und ich habe den Glauben an einen Sinn längst verloren.“ Gräf ist kein Nazi, aber als Offizier der Kriegsmarine führt er Befehle aus. Doch „ein Kommandant, der seines Dienstgrades würdig ist, empfindet keine Genugtuung im Angesicht menschlicher Opfer“.
Der Roman „Caribou“ ist entschieden anders als herkömmliche Kriegsromane mit einseitiger Freund-Feind-Aufstellung und klarer Grenzziehung. Darauf verweist auch Germanist Christian Adam in seinem fachkundigen Nachwort ausdrücklich. Mit Adam als „Caribou“-Übersetzer ist dem Pendragon-Verlag ein cleverer Coup gelungen, ist dieser Literaturwissenschaftler mit Spezialgebiet „Literatur des Dritten Reiches und Nachkriegsdeutschlands“ doch ein ausgewiesener Experte gerade dieses Genres. Adam hebt als Besonderheit hervor, dass Kevin Major in seinem Roman durch den ständigen Wechsel zwischen den kämpfenden Seiten dem Leser einen wichtigen Perspektivwechsel ermöglicht. Der Autor gibt den vielen „namenlosen Opfern literarisch ein Gesicht“ und schildert zudem das Denken und Handeln seiner Protagonisten beider Seiten mit großer Empathie. Bei Kevin Major gibt es auf beiden Seiten keine Helden, nur Menschen im emotionalen Gefälle zwischen Glück und Leid, Hoffnungen und Ängsten – auch der Angst vor dem eigenen unsinnigen Tod, dem letztlich auch Ulrich Gräf nicht entkommt. Sein Boot U69 wurde nur wenige Monate nach der Torpedierung der „Caribou“ im Februar 1943 von einem britischen Schiff gerammt und mit 50 Männern an Bord versenkt.

Veröffentlicht am 25.10.2020

Ein faszinierendes Gedankenspiel

Das Buch Ana
0

REZENSION - „Mein Name ist Ana. Ich war die Frau von Jesus aus Nazareth.“ Mit diesem provokanten, streng bibelgläubige Menschen vielleicht erschreckenden Zitat beginnt „Das Buch Ana“, der faszinierende ...

REZENSION - „Mein Name ist Ana. Ich war die Frau von Jesus aus Nazareth.“ Mit diesem provokanten, streng bibelgläubige Menschen vielleicht erschreckenden Zitat beginnt „Das Buch Ana“, der faszinierende Roman der amerikanischen Schriftstellerin Sue Monk Kidd (72), bekannt geworden durch ihren Bestseller „Die Bienenhüterin“. Mit ihrem fiktiven „Buch Ana“ stellt sie den Büchern der Evangelisten Matthäus, Markus, Lukas und Johannes ein aus weiblicher Sicht verfasstes Buch gegenüber und erlaubt sich damit ein äußerst interessantes Gedankenspiel.
Es beginnt im Jahr 16 im römisch besetzten Galiläa. Die 14-jährige Ana, in wohlhabenden Verhältnissen aufgewachsen, ist ein intelligentes Mädchen mit rebellischem Geist. Mit Erlaubnis ihres Vaters, des obersten Schriftgelehrten und Beraters von Herodes Antipas, hat sie Lesen und Schreiben gelernt. Ihr Vater will sie an einen alten Witwer verheiraten. Bei der ersten Zusammenkunft, bei dem Ana entsetzt reagiert und stürzt, hilft ihr ein junger Mann auf. Als Ana einige Zeit später – nach dem plötzlichen Tod des Witwers – Herodes als Konkubine überlassen werden soll, flieht sie mit ihrer Tante Yaltha ins nahe Dorf Nazareth. Hier trifft sie den jungen Mann wieder – Jesus von Nazareth. Er lebt mit zwei Brüdern und seiner Schwester, Schwägerin und seiner Mutter Maria in ärmlichen Verhältnissen und arbeitet wie sein verstorbener Vater als Zimmermann und Steinmetz.
Im Roman ist Jesus von Nazareth nicht der biblische Sohn Gottes, sondern der auch von Historikern anerkannte einfache jüdische Handwerker, Mitte Zwanzig, unter der römischen Besatzung leidend und hart arbeitend, um der Großfamilie die Existenz zu sichern. So unglaublich ein verheirateter Jesus für Bibelgläubige sein mag, so wahrscheinlich ist dessen Ehe für die Autorin, die sich auf die Historie beruft: Zu Jesu Lebzeiten sei es für einen jungen Mann gesellschaftlich, familiär und sogar religiös eine Pflicht gewesen zu heiraten, heißt es in ihrem Nachwort. Anderenfalls hätte er seine Familie beschämt. „Wäre die westliche Welt eine andere, wenn Jesus verheiratet gewesen wäre und seine Frau Teil der Geschichte geworden wäre? Vielleicht wäre das Verhältnis zwischen Sexualität und Glauben weniger gebrochen. Möglicherweise gäbe es auch den Zölibat nicht“, setzt die Autorin ihren Gedankengang fort.
Deshalb ist auch nicht Jesus, dessen Weg von seiner Begegnung mit dem Täufer Johannes bis zur Kreuzigung wir mitverfolgen, sondern eben Ana die Hauptfigur dieses Romans. Die junge Frau schreibt die Geschichten der vergessenen Frauen der Heiligen Schrift für die Nachwelt auf. Der „kleine Donner“, so der Spitzname der jungen Rebellin, will mit ihren Schriften den unterdrückten Frauen eine Stimme geben. „Wenn Jesus wirklich eine Frau hatte“, folgert die Autorin im Nachwort, „dann wäre Ana die Frau, die am deutlichsten zum Schweigen gebracht wurde und am dringensten eine Stimme brauchte.“ Diese Stimme wollte ihr Sue Monk Kidd mit diesem Roman geben.
Und doch ist „Das Buch Ana“ kein emanzipatorischer Frauenroman, sondern fesselt seine Leser auf andere Art: Zum Einen wird man gezwungen, über Leben, Wirken und die Person Jesu nachzudenken, ob nun aus christlicher oder historischer Sicht. Andererseits wird man durch die authentische Schilderung des alltäglichen Lebens zu Jesu Zeit – vor allem jenes der Frauen – in den Bann gezogen. Bis ins Kleinste beschreibt die Autorin den Alltag sowohl der wohlhabenden, meist opportunistisch der römischen Besatzungsmacht angepassten als auch der armen Bevölkerungsschicht, und dies nicht nur in Palästina, sondern auch in Ägypten. „Das Buch Ana“ ist interessant, zugleich spannend und unterhaltsam zu lesen und hinterlässt sicher bei vielen einen nachhaltigen Eindruck.