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Veröffentlicht am 23.02.2022

Bei Schmidt wird Wilhelm Tell lebendig

Tell
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REZENSION – Spätestens seit seinem vielgerühmten vierten Roman „Kalman“ (2020) weiß man, dass der seit 2007 in Island lebende Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt (41) sich in der Charakterisierung ...

REZENSION – Spätestens seit seinem vielgerühmten vierten Roman „Kalman“ (2020) weiß man, dass der seit 2007 in Island lebende Schweizer Schriftsteller Joachim B. Schmidt (41) sich in der Charakterisierung ungewöhnlicher, skurriler Figuren versteht. Äußerst ungewöhnlich ist auch der Protagonist seines neuen Romans „Tell“, im Februar beim Diogenes Verlag erschienen, in dem Schmidt es wagt, den Schweizer Nationalhelden Wilhelm Tell von seinem Sockel zu holen und ihn in einer spannenden Handlung statt eines heldenhaften Widerstandskämpfers gegen den Habsburger Landvogt als einen einfachen, recht eigenbrötlerischen, schon in Kinderjahren vom Schicksal geprägten Bergbauern, Wilderer und Querulanten im Kanton Uri zu schildern. Schmidts Tell ist wahrlich kein legendärer Held, sondern ganz im Gegenteil ein Antiheld, der eigentlich nur seine Ruhe und für sich und die Familie ausreichend zu essen haben will.
Nun weiß man natürlich, dass Wilhelm Tell nur eine fiktive Figur ist, dessen im Jahr 1307 zur Zeit der Schweizer Habsburgerkriege verortete Geschichte vom Apfelschuss erstmals 1472 niedergeschrieben wurde. Das Motiv des Apfelschusses wurde sogar schon hundert Jahre vor Tell zu Beginn des 13. Jahrhunderts in der „Geschichte der Dänen“ von Saxo Grammaticus erwähnt. Dort ist es der prahlerische Schütze Toko, der einen Apfel vom Kopf seines Sohnes schießen muss. Doch Schmidt lässt uns diese Fakten in seinem in 100 kurzen Kapiteln von 20 Personen temporeich erzählten Roman schnell vergessen und schafft es spielend, uns an eine tatsächliche Existenz Tells glauben zu lassen.
Analog zum dänischen Apfelschützen Toko, dessen Name sprachwissenschaftlich als „alberner Mann“ gedeutet wird, folgt Autor Schmidt in der Charakterisierung seines Protagonisten Tell auch dessen sprachwissenschaftlicher Bedeutung als „einfältigen Mann“ und charakterisiert Wilhelm Tell als wortkargen bis mürrischen, sturen und nur unwillig als Bergbauer weit abseits von Altdorf Vierwaldstättersee) am Fuß der Voralpen lebenden Kleinbauern. Dort lebt er in seiner Hütte in eheähnlichem Verhältnis mit der Witwe seines verunglückten jüngeren Bruders Peter, den drei Kindern Walter, Willi und Kleinkind Lotta sowie Mutter und Schwiegermutter. Tell hat sich schon in der Jugend von seinen Mitmenschen abgewandt, lässt jedes Mitgefühl anderen gegenüber, auch seiner eigenen Familie gegenüber, vermissen. Als er aus Gründen der Not eine Kuh auf dem Markt in Altdorf verkaufen will, versäumt er es, den auf dem Marktplatz auf einer Stange aufgestellten Hut des habsburgischen Landvogts Gessler untertänig zu grüßen – nicht etwa aus politischem Widerstand, sondern weil er einfach nicht auf den Hut geachtet und nichts von der Grußpflicht gewusst hatte. Der zufällig mit seinem brutalen Truppführer Harras anwesende Landvogt befiehlt ihm zur Strafe, mit der Armbrust aus weiter Entfernung einen Apfel vom Kopf seines Sohnes Walter zu schießen. Dies gelingt Tell zwar, dennoch wird er gefangen genommen, kann sich aber später selbst befreien und sich rächen.
Es ist nicht nur die episodenhafte, bis in kleinste Einzelheit authentisch wirkende Handlung, die uns von Tells Angehörigen, Nachbarn sowie von seinem Jugendfreund und Pfarrer Tauffer erzählt wird, oder die beeindruckende Charakterisierung jeder einzelnen Figur, die uns an ihrer Welt und ihrem erbärmlichen Leben teilhaben lassen, was uns an eine tatsächliche Existenz des erst durch Schillers Drama (1804) zum Nationalhelden gewordenen Wilhelm Tell glauben lässt. Sondern Schmidt verbindet seine Geschichte im Epilog auch geschickt mit Fakten: So wird Tells Tochter Lotta, inzwischen selbst schon Großmutter, vom Obwaldner Landschreiber Hans Schriber aufgesucht, um mehr über Tell zu erfahren. Tatsächlich ist diesem Landschreiber und Dichter – wenn auch erst 100 Jahre später – die erste, 1472 veröffentlichte Niederschrift der Tell'schen Geschichte zu verdanken. Lotta täuscht zudem in diesem Gespräch mit Schriber vor, nicht auf dem Tell-Hof, sondern auf dem Tschudi-Hof zu leben, da sie die Witwe des Theodor Tschudi sei. Auch dieser Name ist bezeichnend, war es doch der spätere Chronist Aegidius Tschudi, der in seinem um 1550 verfassten Werk „Chronicon Helveticum“ die bis heute gültige Version der Tell-Sage erzählt.
So verleitet Schmidts Roman „Tell“ unwillkürlich zur weiteren Beschäftigung mit dem Schweizer Nationalhelden. Man sollte „Tell“ sogar zur Schullektüre machen: Wer sich bei Schillers Drama langweilt, findet sicher in dieser Erzählung um den Antihelden Wilhelm Tell den nötigen Anreiz, sich literarisch mit dieser Sagengestalt und historisch mit der Geschichte der Schweiz auseinanderzusetzen. Denn auch für junge Leser, die noch nie von Wilhelm Tell gehört haben, liest sich Schmidts Roman überaus spannend.

Veröffentlicht am 11.02.2022

Lesenswerter Debütroman über den Umgang mit Erinnerungen

Morandus
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REZENSION – Mit seinem Roman „Morandus“, bereits 2021 in der Edition Faust erschienen, ist dem Autor Matthias Zimmer (60), der sich als Politikwissenschaftler, Hochschullehrer und langjähriger Bundestagsabgeordneter ...

REZENSION – Mit seinem Roman „Morandus“, bereits 2021 in der Edition Faust erschienen, ist dem Autor Matthias Zimmer (60), der sich als Politikwissenschaftler, Hochschullehrer und langjähriger Bundestagsabgeordneter bislang auf politische Sachbücher beschränkt hatte, ein beeindruckendes erzählerisches Debüt gelungen. Dieses für ihn riskante Wagnis ging er nach eigener Aussage deshalb ein, „dass man manche Dinge erzählen muss, weil sie für eine wissenschaftliche Arbeit zu kompliziert sind“. Das Risiko hat sich gelohnt: Sein Roman, hauptsächlich die Schilderung eines Gesprächs zweier alt gewordener Freunde, gleicht einem ruhigen Kammerspiel. Doch obwohl die Handlung ohne Dramatik auskommt, baut sich in diesem klugen Gespräch und somit im Roman eine Spannung auf, die fasziniert und eine Unterbrechung der Lektüre fast verbietet.
Protagonist des Romans ist der 60-jährige deutsche Bauunternehmer Ernst Fuchs, der wenige Jahre nach Kriegsende aus dem heimatlichen Harz nach Kanada ausgewandert ist, um ein „neues Leben“ anzufangen. Im Rahmen einer wissenschaftlichen Studie seines langjährigen Freundes Landau, der als Jude frühzeitig seine Heimatstadt Wien verlassen musste, erzählt Funk aus seinen Kinder- und Jugendjahren, über seinen vom Nationalsozialismus begeisterten Vater und seine katholische Mutter, seine nach anfänglicher Jungvolk-Begeisterung aufkommenden Zweifel, hervorgerufen durch seinen aus dem Elsass stammenden Priester Birrenbach, der Funk nach dem Heiligen seines Geburtstages „Morandus“ nennt und den Gymnasiasten in die französische Literatur und Sprache einführt. Als der 14-Jährige in den Sommerferien Birrenbachs französische Nichte Michelle kennenlernt und sich zwei Jahre später in sie verliebt, erkennt er den Unsinn der Nazi-Propaganda über den angeblichen Erzfeind Frankreich. Mit diesen Zweifeln wird Funk als 19-jähriger Abiturient zum Kriegsdienst eingezogen und in der Normandie, Michelles Heimat, eingesetzt, wo er sich häufig mit ihr trifft.
„Ob man vor seiner Vergangenheit fliehen kann? Konnte man ein anderer werden, sich neu definieren? Alles beiseite räumen und von vorne anfangen?“ Für Autor Matthias Zimmer ist Funks Auswanderung nach Kanada eine Flucht vor sich selbst, eine Verdrängung des Erlebten: „Es lebt sich einfacher in einer Lüge. Es lebt sich einfacher in Täuschung und Verdrängung.“ So scheint Funks Leben in Jugendjahren recht problemlos verlaufen zu sein, wie wir anfangs aus seinem Bericht hören. Erst später, nach intensiver Beschäftigung mit seinen Erinnerungen, kommt er zur Erkenntnis: „Ich muss mich auch diesem Teil meiner Geschichte stellen, sonst bleibt sie unvollständig.“ Jetzt erzählt Funk endlich, was er verdrängen und vergessen wollte, als könne er es dadurch ungeschehen machen. Auch Funks Freund Landau stellt als Historiker fest: „Ich bin meine Vergangenheit. Ich bestehe in und aus meiner Erinnerung.“ Erst nachdem Funk seine Erinnerungen akzeptiert, seine Vergangenheit im Gespräch mit Landau verarbeitet hat, ist es ihm möglich, noch einmal nach Deutschland und Frankreich zu reisen, um die Orte früheren Geschehens zu besuchen und seine Vergangenheit abzuschließen.
„Morandus“ ist ein lebendig und stilistisch hervorragend geschriebener, in gewisser Weise spannender Roman, der sich leicht lesen lässt. Dennoch behandelt das Buch ein ernstes Thema, das nicht ohne Grund vor allem die Jugend in den 1960er und 1970er Jahren zu teils heftigen Auseinandersetzungen mit Vätern und Großvätern trieb: Wo warst du damals? Hast du dich schuldig gemacht? Viele Väter haben damals geschwiegen – aus Scham, aus Verzweiflung, aus Hilfslosigkeit, um zu verdrängen, zu vergessen.
Autor Matthias Zimmer gelingt es mit seinem lesenswerten Romandebüt, diese nur scheinbar veralteten, doch für jeden Menschen wichtige Frage nach dem Umgang mit der eigenen Vergangenheit im Gespräch zweier alter Freunde auf beeindruckende Weise zeitgemäß und empathisch zu behandeln – mit der stets gültigen Erkenntnis: „Die Vergangenheit vergeht nicht. Sie bleibt des Menschen Wegbegleiter, manchmal auch sein Fluch.“ Aufgelockert wird das ernste Thema des Romans durch die einfühlsame Geschichte einer einst durch Krieg tragisch unvollendeten Liebe, die fast vier Jahrzehnte später auf überraschende Weise doch noch eine romantische und glückliche Wendung erfährt. Erst jetzt ist Ernst Funk mit sich im Reinen und kann wirklich ein neues Leben beginnen.

Veröffentlicht am 10.02.2022

Ein im doppelten Wortsinn fabel-hafter Roman

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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REZENSION – Was ist Wahrheit? Wo beginnt Lüge? Oder gibt es alternative Wahrheiten? Darum geht es im satirischen Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ des in Ost-Berlin geborenen Schriftstellers ...

REZENSION – Was ist Wahrheit? Wo beginnt Lüge? Oder gibt es alternative Wahrheiten? Darum geht es im satirischen Roman „Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ des in Ost-Berlin geborenen Schriftstellers Maxim Leo (52), im Februar beim Verlag Kiepenheuer & Witsch erschienen. Auch die deutsche Wiedervereinigung, Vorurteile und vermeintliche Unterschiede zwischen Ost- und Westdeutschen und nicht zuletzt die Frage, wie historische Fakten interpretiert oder manipuliert werden können, werden angesprochen.
Maxim Leo erzählt vom erfolglosen Berliner Videotheken-Besitzer Michael Hartung, der gegen seinen Willen zum Helden gemacht und bald unverdient als Held deutscher Geschichte gefeiert wird. Im September 2019 besucht ihn der Hamburger Journalist Alexander Landmann in der Ost-Berliner Videothek. Bei Recherchen über eine spektakuläre Massenflucht aus der DDR im Sommer 1983 war Landmann in einer Stasi-Akte auf Hartung gestoßen. Dieser soll damals als Stellwerkmeister der DDR-Reichsbahn am Bahnhof Friedrichstraße eine Weiche so gestellt haben, dass ein S-Bahn-Zug mit 127 Fahrgästen über das Ferngleis nach West-Berlin fahren konnte. Hartung soll laut Akte zudem Kopf einer Fluchthelfer-Organisation gewesen sein, weshalb er ins Gefängnis kam, aber trotz dortiger „Sonderbehandlung“ seine Mittäter nicht verraten hat.
Hartung gibt zwar zu, dass er für die Fehlstellung der Weiche und die daraus folgende Umleitung des Zuges verantwortlich war. Doch allen anderen in der Stasi-Akte erwähnten „Fakten“ widerspricht er. Als Landmann ihm allerdings ein stattliches Honorar für seine Geschichte bietet, wird der finanziell klamme Hartung schwach und bestätigt alles, was der Journalist ihm vorhält oder von ihm hören will. Mit einigen schmückenden „Abweichungen“ macht Landmann in seiner Aufsehen erregenden Titelstory den bislang unbekannten Videotheken-Besitzer zum Helden, was nicht nur diesem, sondern auch ihm selbst als Journalisten Ruhm und Ehre einbringt. Anfangs nur widerwillig beginnt Hartung seinen unerwarteten Ruhm und das leicht verdiente Geld aus Interviews, Werbeverträgen und öffentlichen Auftritten zu genießen. Erst als er sich in Paula ernsthaft verliebt, die damals als Kind in jenem S-Bahnzug saß, will er aus seinem Lügengebilde ausbrechen.
Wie in alten Fabeln stehen sich auch in Leos Roman Gut und Böse gegenüber: Auf der guten Seite lernen wir Menschen wie Bernd, den Ladenbesitzer von gegenüber, und Nachbarin Bertha kennen sowie natürlich Hartung selbst, einen unbeholfenen, lebensuntüchtigen und von der Familie verlassenen Mann. Auf Seite der Bösen stehen Landmann und seine Kollegen der Sensationsmedien, die der Autor – früher selbst viele Jahre in Berlin als Journalist tätig – als „eine Jugendbande, die einem die Brieftasche klauen will“, beschreibt. Ebenfalls zu den Bösen rechnet Leo die Akteure des politischen Systems, die den willkommenen „Fluchthelfer“ ebenfalls für eigene Zwecke nutzen, wissentlich die von Landmann erfundenen „Abweichungen“ übersehen und sich die Wahrheit so zurechtbiegen, wie sie ihnen ins politisch-notwendige Bild passt: „Es gibt die kleine Wahrheit. Und es gibt die große Wahrheit. Die kleine Wahrheit mag … nicht ganz stimmen. Aber die große Wahrheit, die stimmt.“
Leo zitiert den französischen Philosophen Voltaire: „Geschichte ist die Lüge, auf die man sich geeinigt hat.“ Demnach gibt es keine objektive Geschichtsschreibung, sondern nur die von einer Mehrheit aktuell für richtig befundene. Erst spät erkennt Hartung: „Wenn alle ein bisschen mehr zweifeln würden, dann hätten wir viele Probleme gar nicht mehr.“ Mit dieser Erkenntnis wird der unfreiwillige Held erst in einem befreienden Auftritt als Festredner anlässlich des 30. Jahrestages des Mauerfalls tatsächlich zum Helden, der endlich zur Wahrheit und persönlicher Wahrhaftigkeit zurückfindet.
„Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße“ ist eine kurzweilige, amüsante und im doppelten Wortsinn fabel-hafte Geschichte, die bei allem Humor mit ihren Kernaussagen dennoch nachdenklich macht. Es ist die leichte Art, über eine ernste und komplexe Thematik zu schreiben, die Maxim Leos Roman vor allem auszeichnet. Nur einen Fehler hat dieser Roman: Mit nur 300 Seiten ist er leider viel zu kurz. Man wünscht sich, Leos Helden noch ein weiteres Stück seines Lebens zu begleiten.

Veröffentlicht am 27.01.2022

Wer Fallada liebt, muss Töteberg lesen!

Falladas letzte Liebe
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REZENSION – Wer Fallada liebt, muss Töteberg lesen; wer Fallada nicht kennt, erst recht. Auf den knapp 340 Seiten seiner im November im Aufbau Verlag erschienenen Romanbiografie „Falladas letzte Liebe“ ...

REZENSION – Wer Fallada liebt, muss Töteberg lesen; wer Fallada nicht kennt, erst recht. Auf den knapp 340 Seiten seiner im November im Aufbau Verlag erschienenen Romanbiografie „Falladas letzte Liebe“ über die knapp zwei letzten Lebensjahre des vor allem in der Weimarer Republik überaus erfolgreichen Autors fasst Michael Töteberg (71) unter Verwendung umfangreichen Archivmaterials alles zusammen, was Hans Fallada (1893-1947) in seinen Stärken und Schwächen als Mensch und vor allem als Schriftsteller so besonders macht.
Ausgehend von einem als Prolog vorgeschalteten Brief der damals 24-jährigen Literatur-Studentin Christa Wolf (1929-2011) an den langjährigen Präsidenten des Kulturbundes Johannes R. Becher zur Person Falladas, beantwortet nun 70 Jahre später Michael Töteberg in seinem Buch jene Fragen Wolfs, die Becher ihr sechs Jahre nach Falladas Tod verweigerte, „da ich Fallada erst 1945 kennengelernt habe“. Tatsächlich hatte Becher den berühmten Schriftsteller in dessen letzten Monaten sehr genau kennengelernt. Immerhin war er es, der Fallada ab Ende 1945 als Hausnachbar und Geschäftspartner zur Seite gestanden, ihn in seinem Kulturbund als „Aushängeschild“ aufgenommen und ihm die ersten Aufträge nach dem Krieg bis hin zum letzten Roman „Jeder stirbt für sich allein“ vermittelt hatte, dessen Erscheinungstermin sich jetzt zum 75. Mal jährt. Ausschließlich Becher mit seinen breit gestreuten Kontakten zu deutschen Kulturschaffenden im In- und Ausland hatte es Fallada zu verdanken, überhaupt eine Zuzugsgenehmigung nach Berlin und Lebensmittelkarten für sich und seine zweite Ehefrau Ulla zu bekommen. „Becher glaubte an den Autor Fallada. Mehr als dieser an sich selbst.“
Kaum jemand anderer als Michael Töteberg dürfte nach Jahren als Mitarbeiter des Rowohlt Verlags, in dem Falladas Romane vor dem Krieg erschienen waren, sowie nach Jahren intensiver Beschäftigung mit Falladas Gesamtwerk und als Herausgeber des Buches „Hans Fallada. Ewig auf der Rutschbahn. Briefwechsel mit dem Rowohlt Verlag“ besser berufen sein, über diesen an Alkohol und Morphium zugrunde gegangenen Schriftsteller zu schreiben. Als Vorsitzender der Hans-Fallada-Gesellschaft hat Töteberg zudem direkten Zugriff auf Archivmaterial jenseits der Romane Falladas, nämlich auf persönliche Aufzeichnungen und die Privatkorrespondenz des fleißigen Briefschreibers.
„Falladas letzte Liebe“ schildert keineswegs nur dessen letzte Lebensjahre 1945 und 1946 im zerstörten Berlin, wo Fallada mit Bechers Hilfe einen Neustart versucht, der ihm mit der Veröffentlichung neuer Kurzgeschichten in der „Täglichen Rundschau“ auch halbwegs gelingt. „Berlin, das war nach zwölf Jahren Carwitz noch einmal ein neues Leben gewesen. Ein Lebensabschnitt, sein letzter, das spürte Fallada.“ Von der Alkoholsucht befreit, ist der einst gefeierte Schriftsteller zu schwach, dem Morphium zu widerstehen, zumal er an Ehefrau Ulla, die selbst stark morphiumsüchtig ist, keinen Halt findet, wie er ihn früher bei Ehefrau Suse hatte, an die er voller Selbstmitleid und Selbsterkenntnis schreibt: „Ich bin wie ein Lahmer, der bisher geführt wurde, der aber jetzt nicht nur allein gehen muss, sondern auch einen Blinden führen muss.“
Fast wirkt Tötebergs „Falladas letzte Liebe“, als sei das Buch mit seiner umfassenden Sammlung von Rückblenden auf Falladas Leben, Erinnerungen an dessen Werke und vielen Zitaten aus Falladas Briefen ein Zusammenschnitt dessen Lebens, als liefe alles unweigerlich auf diese letzten zwei Jahre zu und fände mit dem frühen Tod des Schriftstellers den unvermeidbar tragischen Abschluss. Wer Fallada bisher nicht kannte, lernt diesen begnadeten Schriftsteller in Tötebergs Buch als tragische, zwiegespaltene Persönlichkeit kennen. „Es gab immer zwei Falladas. Der eine liebte das Familienleben. Der andere wollte allein sein, unbelästigt von aller Realität.“ Fallada erscheint wie eine Figur seiner eigenen Romane. Tatsächlich steckte ja auch in jedem Fallada-Roman ein Stück von ihm selbst, wie Töteberg aufzeigt. Dies und vielmehr erfahren wir aus Tötebergs literaturwissenschaftlich höchst interessanten, trotz aller Fachkunde leicht lesbaren Romanbiografie. „Falladas letzte Liebe“ macht Appetit auf die Neuausgaben der Werke Falladas, die glücklicherweise seit einigen Jahren im Aufbau Verlag erscheinen.

Veröffentlicht am 25.12.2021

Über das vergebliche Streben nach Vollkommenheit

Der perfekte Kreis
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REZENSION - „Solange ich atme, hoffe ich“. Dieses Mantra einer der beiden Hauptfiguren im neuen Roman „Der perfekte Kreis“ des britischen Schriftstellers Benjamin Myers (45), erschienen im September beim ...

REZENSION - „Solange ich atme, hoffe ich“. Dieses Mantra einer der beiden Hauptfiguren im neuen Roman „Der perfekte Kreis“ des britischen Schriftstellers Benjamin Myers (45), erschienen im September beim Dumont Verlag, zeigt in wenigen Worten, dass trotz aller Mühen unser Wirken auf Erden unvollkommen ist. Vollkommenheit bleibt eine unerfüllte und wohl unerfüllbare Hoffnung. Auf diesen Widerspruch zwischen Hoffnung und Wirklichkeit verweist auch der Titel dieser wunderbaren Novelle, kann es doch den perfekten Kreis nicht geben, wie schon das Cover mit der Abbildung des Ensō-Symbols aus der japanischen Kalligraphie deutlich macht. Nur ein vollkommener Mensch könne demnach ein wahres Ensō zeichnen, während die Öffnung Unvollkommenheit symbolisiert.
Unvollkommen sind auch die beiden Freunde in Myers nur 220 Seiten kurzen Roman: Da ist der obdachlose Redbone „mit tiefem Argwohn gegenüber allen Formen von Obrigkeit und Bürokratie“, und sein Freund Calvert, ein aus dem Falkland-Krieg mit halbseitig entstelltem Gesicht heimgekehrter Veteran, der sich „als Schachfigur in den sinnlosen Machtspielen der gewählten Staatschefs dieser Welt“ versteht. Im Roman begleiten wir die beiden Freunde Calvert, „pragmatisch und diszipliniert, geprägt von Jahren militärischen Drills“, und Redbone, ein esoterisch angehauchter Punkmusiker „mit einem Hang zu Visionen, die er irgendwie zu Papier bringen kann“, während der Sommermonate des Jahres 1989 im Süden Englands auf ihren nächtlichen Touren zu einsamen Getreidefeldern, auf denen sie mystisch anmutende, bis zu 170 Meter große Kornkreis-Gebilde stampfen, die Mitmenschen an Außerirdische glauben lassen. „Sie gehen stundenlang, meilenweit, beide ganz konzentriert auf die Aufgabe, auf die Aufgabe, auf das meditative Nichts ihres sich allmählich leerendes Geistes.“ Beider Plan ist es, den „perfekten Kreis“ zu schaffen. Deshalb ist der jeweils nächste Kornkreis „immer ein Leuchtturm, ein Licht der Hoffnung“. Geprägt von Freiheitsdrang und Abneigung gegen die Obrigkeit, verbindet beide der Wunsch, bei ihrer stundenlangen Arbeit die Unvollkommenheit des Alltags hinter sich lassen zu können, und der tief empfundene Respekt für die Vollkommenheit der Natur. Gelingt ihnen der perfekte Kornkreis, wird ihnen auch alles andere gelingen, hoffen sie. „Nähre den Mythos und strebe nach Schönheit“ ist Redbones Arbeitsmotto. Doch nach ersten erfolgreichen Kornkreisen, deren Entwürfe auf der Suche nach Perfektion immer komplizierter werden, scheitern beide dann doch an der „ersten Honigwabe-Doppelhelix der Welt“, Symbol für die menschliche DNA und eine Nebelwolke in unserer Milchstraße.
„Der perfekte Kreis“ von Benjamin Myers ist – wie schon dessen Roman „Offene See“ (2020) ebenfalls von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann sprachlich wunderbar ins Deutsche übertragen – nicht nur eine Hommage an die Schönheit der von Menschenhand und Klimawandel gefährdeten Natur, sondern auch eine Liebeserklärung an alle gutwillig handelnden Menschen. Seine Nation sieht der Brite dagegen kritisch: „Da wir auf einer Insel leben, bilden wir uns ein, wir wären etwas Besonderes. Aber das sind wir nicht. … Wir haben Angst vor der Welt. Und das erzeugt Arroganz, und Ignoranz ist der Tod des Anstands.“ Zudem ist es allein dem lückenhaften und unzuverlässigen öffentlichen Verkehrsnetz Englands geschuldet, dass es Ex-Soldat Calvert, der kein Auto besitzt, nicht schafft, ans Meer zu kommen, um Selbstmord zu begehen.
Diese Lückenhaftigkeit, diese Unvollkommenheit in vielen Bereichen unseres Lebens und Wirkens zieht sich thematisch durch Myers Roman. Sogar der Autor selbst lässt Lücken und schafft so in seinem Werk die Perfektion der Unvollkommenheit. Wir erfahren wenig über das soziale Umfeld und Alltagsleben seiner Protagonisten – wir treffen sie nur bei nächtlichen Kornkreis-Streifzügen – und nicht einmal Calvert kennt den vollständigen Namen seines Freundes Redbone. „Der perfekte Kreis“ ist ein wunderbarer, ein eigenartiger Roman, der trotz seines philosophischen Tiefgangs und Gedankenspiels dank seiner beiden ungewöhnlichen Charaktere und seines angenehmen Schreibstils, gespickt mit mancher Ironie, gut lesbar und unterhaltend ist. „Der perfekte Kreis“ ist ein nachhaltiger Roman, der offen bleibt, zum Nachdenken über das Gelesene drängt und Hoffnung lässt, denn „solange ich atme, hoffe ich“.