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Veröffentlicht am 19.12.2021

Literaturgeschichtlich und historisch interessant

Janowitz
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REZENSION – Zwölf Jahre nach seinem Roman „Marienbrücke“ (2009), gefolgt von mehreren Sachbüchern, hat Schriftsteller Rolf Schneider (89) im August mit „Janowitz“ eine wunderbare Romanbiografie im Osburg ...

REZENSION – Zwölf Jahre nach seinem Roman „Marienbrücke“ (2009), gefolgt von mehreren Sachbüchern, hat Schriftsteller Rolf Schneider (89) im August mit „Janowitz“ eine wunderbare Romanbiografie im Osburg Verlag veröffentlicht, die sowohl literaturgeschichtlich Interessierten als auch Freunden historischer Romane gleichermaßen gefallen dürfte. Vor dem zeitgeschichtlichen Hintergrund des politischen Wandels in Böhmen mit Beginn des Ersten Weltkriegs, dem Zusammenbruch des Habsburger Kaiserreichs, die Jahre der tschechischen Republik, dem Einmarsch deutscher Truppen bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs behandelt der Roman im Kern den Jahre andauernden Konkurrenzkampf zweier Schriftsteller, des Lyrikers und Romanciers Rainer Maria Rilke (1875-1926) und des Journalisten und Literaturkritikers Karl Kraus (1874-1936), von 1899 bis 1936 Herausgeber der satirischen Zeitschrift „Die Fackel“, um die Gunst der um Unabhängigkeit und Emanzipation bemühten böhmischen Adligen und Salonnière Sidonie Freiin Nádherná von Borutín (1885-1950) auf Schloss Janowitz im Süden Prags.
Beide Literaten kennen sich, treffen sich auch bei Besuchen auf Schloss Janowitz, halten aber respektvollen Abstand voneinander im Wissen um ihre Konkurrenz und gegenseitige Missgunst: „Rilke empfand die Anwesenheit des zwei Jahre älteren Kraus als eine lästige Störung, da er selbst es gewohnt war, im gesellschaftlichen Mittelpunkt allein zu stehen. Kraus beanspruchte das Interesse der anderen durch seine bloße Anwesenheit.“ Beide widmen der zehn Jahre jüngeren Sidonie romantische Verse, doch beider Verhältnis zu ihr ist so unterschiedlich wie ihr Charakter: Rilke mit Sympathie für die Aristokratie, begrüßt 1914 den Beginn des Weltkriegs, ist im Grunde aber unpolitisch. Nicht nur in seinen Ansichten, auch literarisch bildet er den Gegenpol zu Nebenbuhler Kraus, der als überzeugter Pazifist Rilke als „uniformtragenden Neurastheniker“ verachtet und als scharfzüngiger Literaturkritiker bei vielen verhasst ist. „Kraus' Prosa war gelenkig, doch fehlte ihr jene Behutsamkeit, die ihm, Rilke, im Übermaß zur Verfügung stand.“ Kraus wiederum „entschloss sich, das aufwendige Wortgeklingel des Dichters endgültig nicht zu mögen.“
Der Romantiker Rilke, voller Verehrung für die junge Baroness, ist für sie nur „ihr erster, ihr wahrer Freund“ und ein bewundernswerter Lyriker. Mit Kraus pflegt sie dagegen eine sexuelle Beziehung, lehnt aber seinen Heiratsantrag ab. Einerseits folgt sie damit dem Selbstverständnis ihrer aristokratischen Herkunft, nur einen Adligen heiraten zu dürfen, andererseits folgt sie auch der Warnung Rilkes vor der Heirat mit einem Juden: „Es ist das Jüdische an Karl Kraus, Sidie, was sein Stil ist und was allein seine Wirkung macht und seinen Erfolg.“ Kraus ist verbittert: „Sie wollte ihn herabstufen zu einem Gesellschafter für ihre kulturellen Bedürfnisse, vergleichbar Rilke oder dem sogar noch nachgeordnet.“
Schneiders Roman „Janowitz“ schildert ein höchst interessantes Kapitel deutscher Literaturgeschichte, sowohl spannend als auch unterhaltend zu lesen. Wer meint, Literaturgeschichte sei nur etwas für wissenschaftlich Interessierte, wird mit dieser empfehlenswerten Romanbiografie eines Besseren belehrt. Auch wer Biografie und Werke beider Literaten nicht kennen sollte, braucht sich vor der Lektüre von „Janowitz“ nicht zu scheuen, lernt er doch beide in ihrem Charakter und ihren wichtigsten Werken in Schneiders Romanbiografie ausreichend kennen – den Lyriker Rainer Maria Rilke mit seinen Versen und den Zyniker Karl Kraus mit seinen satirisch-kritischen Kommentaren. Nicht weniger interessant als Charakter ist beider Freundin Sidonie: Mit ihrem tragischen Lebensverlauf bis hin zur 1948 erfolgten Enteignung des Schlosses Janowitz kann die in jungen Jahren als Salonnière von Künstlern Umschwärmte und als Frau von Männern Verehrte - am Ende eines erfolglosen Kampfes um Selbstständigkeit und Unabhängigkeit schließlich in Armut und Einsamkeit lebend – im Alter als Frau nur bemitleidet und als Symbol für den Untergang der Habsburger Monarchie und des österreichischen Adels gesehen werden.

Veröffentlicht am 12.09.2021

Spannende und unterhaltsame Geschichtsschreibung

Revolution der Träume
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REZENSION – Im ersten Band „Schatten der Welt“ (2020) der historischen Romanreihe „Wege der Zeit“ des deutschen Schriftstellers und Drehbuch-Autors Andreas Izquierdo (53) lernten wir drei Jugendliche kennen, ...

REZENSION – Im ersten Band „Schatten der Welt“ (2020) der historischen Romanreihe „Wege der Zeit“ des deutschen Schriftstellers und Drehbuch-Autors Andreas Izquierdo (53) lernten wir drei Jugendliche kennen, die sich - in ihren doch so unterschiedlichen Charakteren, Temperamenten und Talenten perfekt ergänzend - im westpreußischen Thorn ab 1910 bis in die Wirren des Ersten Weltkrieges hinein zu einem unzertrennlichen Trio verbunden hatten: Der schüchterne Carl Friedländer, Sohn eines jüdischen Schneiders, die emanzipatorische Isi, Tochter eines bürgerlichen Emporkömmlings und populistischen Reichstagsabgeordneten. Artur Burwitz, geschäftstüchtiger Sohn eines Stellmachers, der notfalls auch illegale Wege geht, um seine Träume zu verwirklichen.
Alle drei treffen sich nun im zweiten Band „Revolution der Träume“, im August beim Dumont Buchverlag veröffentlicht, nach verlorenem Krieg mehr oder minder zufällig in Berlin wieder, wo gerade der Kaiser verjagt wurde, die meisten Menschen in bitterer Armut leben und Sozialisten gegen Monarchisten in blutigen Straßenkämpfen bewaffnet gegen einander losgehen. „Hier hatte Preußens Herz zu schlagen aufgehört.“ Wieder ist Carl der Erzähler der Geschichte und schildert seine Ankunft in der Reichshauptstadt: „Ich kam mir wie der verspätete Gast des größten Feuerwerks aller Zeiten vor, der auf nasses Konfetti, leere Flaschen und zerbrochenes Glas schaute, den alkoholschwangeren, schweißigen Muff der verschwundenen Gäste in der Nase.“
Es ist diese bildhafte Sprache, die auch Izquierdos zweiten Band so leicht lesbar und die deutsche Geschichte jener Zeit trotz ihrer Komplexität auch für Nichthistoriker verständlich und nachvollziehbar erlebbar macht. Er beschreibt die berüchtigten Goldenen Jahre Berlins – geprägt durch Widersprüche, politische Verwerfungen und gesellschaftliche Gegensätze – nicht in oberlehrerhafter Art des nachgeborenen Besserwissers, sondern aus damaliger Sicht der kleinen Leute, zu denen zweifellos auch seine drei jungen Freunde gehören, wenn auch durch Kriegserfahrung reifer geworden. „So lag auch kein Schatten über unserem Wiedersehen, es war, als wären wir wieder die, die wir immer gewesen waren, außer dass ein Weltkrieg uns vor der Zeit gezwungen hatte, endgültig erwachsen zu werden.“
Mit ungebrochenem Ehrgeiz, der alle drei schon als Minderjährige in Thorn zu Unternehmern hatte werden lassen, versuchen sie nun den Wandel der Zeit für sich zu nutzen: Artur ist Clubbesitzer und steigt dank seiner Gewitztheit und Unerschrockenheit zum Paten seines Viertels auf. Isi setzt sich immer noch für Frauen in Not ein, versucht aber durch Heirat gesellschaftlich aufzusteigen. Carl wird Kameramann bei der jungen UFA-Filmgesellschaft, hängt aber den alten Werten an. „Unsere Welt ist nicht mehr Thorn“, mahnt ihn Isi deshalb. „Hier ist alles neu, alles dreht sich rasend schnell! Bleib stehen, und du wirst herausgeschleudert. Du musst nicht alles gut finden, Carl, aber finden musst du dich! Sonst bist du verloren.“
Zwar ist „Revolution der Träume“ die chronologische Fortsetzung der Lebensbeschreibung der drei Freunde. Doch durch verlorenen Krieg und Ortswechsel nach Berlin beginnt für alle drei ohnehin ein neues Leben, so dass sich dieser zweite Band gefahrlos ohne Kenntnis des ersten lesen lässt und unbedingt zu lesen lohnt. Denn wieder ist es Izquierdos sanfte, empathische, seine Leser ansprechende Erzählweise, die uns mit seinen Protagonisten mitleiden, mitfühlen, aber auch mitfeiern lässt und uns mittels humorvoller Einschübe zu verstehen gibt, dass das Leben auch in schwierigster Situation immer lebenswert ist.

Veröffentlicht am 06.06.2021

Roman über die Abgründe menschlicher Psyche

Letzte Ehre
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REZENSION – Die psychologischen Hintergründe ihres Handelns und die Untiefen im Leben seiner Charaktere standen beim deutschen Bestseller-Autor Friedrich Ani (62), der sich selbst als Kriminalschriftsteller ...

REZENSION – Die psychologischen Hintergründe ihres Handelns und die Untiefen im Leben seiner Charaktere standen beim deutschen Bestseller-Autor Friedrich Ani (62), der sich selbst als Kriminalschriftsteller bezeichnet, schon immer im Vordergrund seiner Werke. Doch Krimis im herkömmlichen Sinn sind sie alle doch eher nicht. So ist es nur folgerichtig, dass der Suhrkamp-Verlag auch Anis neuestes, im Mai veröffentlichtes Buch „Letzte Ehre“ nicht als Krimi, sondern als Roman ausweist. Es ist ein unwahrscheinlich düsterer, in Teilen vielleicht sogar schockierender Roman. Düster nicht deshalb, weil der Autor die Geschehnisse in brutalen Einzelheiten beschreiben würde, obwohl ihm hier jede Möglichkeit gegeben wäre. Schließlich geht es um Abgründe männlicher Machtfantasien und Gewalt gegen Frauen sowie um Racheakte dadurch physisch und psychisch zerstörter Opfer. Doch das Brutale bleibt bei Ani unausgesprochen, wird nur verklausuliert angedeutet. In scheinbar harmlosen Gesprächen deutet sich das Grauen wie die Spitze eines Eisberges nur an. Es ist also weniger das Geschriebene als vielmehr unser Wissen um solche Verbrechen, unser eigenes Vorstellungsvermögen, unser Weiterdenken beim Lesen, was diesen Roman so faszinierend und fesselnd wirken lässt.
Alles beginnt mit einer klassischen Zeugenvernehmung im Münchner Kommissariat 101 durch Oberkommissarin Fariza Nasri, die bereits in Anis Roman „All die unbewohnten Zimmer (2019) erstmals erschien, im neuen Roman aber als Erzählerin auftritt: Die 17-jährige Finja Madsen bleibt nach einer Party verschwunden. Nasri vernimmt Personen aus dem Umfeld der Vermissten, darunter auch den Freund der Mutter, Stephan Barig. In dessen Haus hatte die Party stattgefunden, während er selbst nachweislich das Wochenende mit zwei Freunden im Wochenendhaus auf dem Land verbracht hatte. Barig, ein unangenehmer Macho, der sich als erfolgreicher „Frauenaufreißer“ sieht, gibt gewissenhaft Auskunft, hat er doch nichts zu verbergen. Oder doch? Nasri ist sich bald sicher, dass er etwas verbirgt.
Eigentlich wollte Friedrich Ani nach eigener Aussage „einen Roman über das Handwerk der Vernehmung im weiteren Sinne schreiben“. So ist zu verstehen, dass es in „Letzte Ehre“ keine in Krimis übliche Action gibt, sondern der Roman sich weitestgehend im Vernehmungszimmer 214 des Münchner Kommissariats 101 abspielt und das Geschehene erst aus den Gesprächen Nasris mit verschiedenen Zeugen erkennbar wird. Wir erfahren von BDSM-Sexspielen, Vergewaltigung, Kindesmissbrauch und sogar Leichenschändung, ohne dass auf irgendeiner der 270 Seiten einer dieser Ausdrücke fällt. Zurück bleibt nach manchem Verhör ein Scherbenhaufen – wie bei Ines Kaltwasser: „Je länger sie sprach …, desto mehr zersplitterte ihre Stimme; am Ende blieben die Scherben eines lebenslangen Schweigens in Zimmer 214 zurück.“
Spuren ihres aufreibenden Lebens als Verhörspezialistin, so manche persönliche Kränkung und Verletzung der schon einmal strafversetzten Oberkommissarin, haben nicht zuletzt bei der 58-jährigen Fariza Nasri, übrigens wie Ani selbst Kind eines syrischen Vaters, tiefe psychische Spuren hinterlassen: „Wir sind alle verbeult, jeder auf seine Weise, und wir kaschieren unsere Beulen, jeder auf seine Weise. …. Geschult in Unerschrockenheit, trugen wir zum Selbstschutz eiserne Masken.“ Doch in Anis neuem Roman kann selbst diese „eiserne Maske“ sie nicht mehr schützen: Nasri, die mit ihrer Arbeit allen Verbrechensopfern eine „Letzte Ehre“ erweisen will, wird psychisch selbst zum Opfer.
Friedrich Ani hat in seinem literarisch hochwertigen, stilistisch wieder faszinierenden und deshalb empfehlenswerten Roman mit Fariza Nasri eine interessante Figur geschaffen, die als neue Serienfigur die Reihe seiner bisherigen Ermittler Polonius Fischer, Tabor Süden und Jakob Franck ausgezeichnet ergänzt. Der eigenartige Schluss des Romans „Letzte Ehre“ lässt auf Fortsetzungen hoffen, zumal Ani im Zeitungsinterview schon verraten hat: „Jetzt gibt es mehr Details über ihr Leben, und natürlich ist sie .… noch lange nicht auserzählt. “

Veröffentlicht am 14.05.2021

Spannend erzähltes Kapitel deutscher Geschichte

44 TAGE - Und Deutschland wird nie mehr sein, wie es war
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REZENSION – Ungemein spannend liest sich der kürzlich im Penguin Verlag erschienene Roman „44 Tage“ des deutschen Autors Stephan R. Meier (63) über eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik ...

REZENSION – Ungemein spannend liest sich der kürzlich im Penguin Verlag erschienene Roman „44 Tage“ des deutschen Autors Stephan R. Meier (63) über eines der dunkelsten Kapitel in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Der Autor schildert in seinem Buch jene hysterischen 44 Tage im September 1977, die mit der Entführung des damaligen Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer (1915-1977) ihren Anfang nahmen und mit seinem Tod ihr bitteres Ende fanden. Mit Schleyers Entführung wollte die RAF-Terroristen der zweiten Generation die Bundesregierung unter Bundeskanzler Helmut Schmidt erpressen, ihre seit fünf Jahren einsitzenden Vorbilder und Anführer um Andreas Baader und Gudrun Ensslin aus der Justizvollzugsanstalt Stammheim zu entlassen. Dieser in Deutschland einmalige und von der älteren Generation unvergessene und den Staat erschütternde Terrorakt bildete den Höhepunkt jahrelanger RAF-Aktivitäten.
„44 Tage“ ist nur ein Roman – dies betont der Autor zu Recht, sind doch reale und fiktive Personen vermischt, manches Geschehen nur erdacht. Allerdings muss man sich dies beim Lesen immer wieder bewusst machen, hält sich doch der Autor sogar in Details ungemein nah an den Fakten, die teilweise erst Jahre später, manche nach der Auflösung der DDR bekannt wurden. Vieles hat Autor Stephan R. Meier sogar nur aus Gesprächen mit seinem Vater Richard Meier (1928-2015) erfahren. Dieser hatte als Leiter des Bundesamts für Verfassungsschutz jene 44 Tage in vorderster Front miterlebt und die internationalen Aktivitäten des deutschen Geheimdienstes mit dem israelischen Mossad und dem amerikanischen CIA koordinieren müssen.
Dem Autor gelingt es in seinem Thriller durch Verknüpfung von Fakten und Fiktion hervorragend, auch nachgeborenen Lesern diese für den Fortbestand der Bundesrepublik so wichtige Zeit in atmosphärischer Dichte zu schildern. Immerhin stand die von den Westmächten aufmerksam beobachtete noch junge Republik vor dem kritischen Punkt, die Position eines Rechtsstaates zu verlassen und erneut in einen Polizei- und Überwachungsstaat zurückzufallen: Um Schleyer und seine Entführer zu finden, hatte der Kanzler alle Bürger aufgerufen, Verdächtiges der Polizei zu melden, womit er der Denunziation missliebiger Nachbarn Tür und Tor geöffnet hatte. Die Polizeiarbeit, eigentlich Aufgabe der Länder, wurde unter Leitung des Bundeskriminalamts in Bonn zentralisiert. Grenzen, Flughäfen und Bahnhöfe wurden überwacht, Telefone möglicher RAF-Sympathisanten abgehört und deren Post kontrolliert. Die Stimmung im Staat drohte zu kippen: Zwei Drittel der Bevölkerung waren für die Wiedereinführung der Todesstrafe. „Sie spielten mit den Grundfesten der Verfassung. Es war ein verzweifeltes Ringen … um die Glaubwürdigkeit der Demokratie.“ Einen Staatssekretär lässt der Autor sagen: „Wie sollen wir die Terroristen vor Gericht stellen, wenn wir sie freilassen? Und wie unser Land schützen, wenn Mörder und Entführer frei herumlaufen? Wir müssen abwägen, was uns wichtiger ist. Und damit sind wir automatisch schuldig.“ Trotz hektischer Aktivität war die Bundesregierung im Grunde handlungsunfähig und konnte nur abwarten. Außerdem hatte Kanzler Schmidt die Devise „Der Staat darf sich nicht erpressen lassen“ ausgegeben – im Bewusstsein, dass dies dem Todesurteil Schleyers gleichkam.
Der Roman „44 Tage“ kann allen Zeitzeugen ebenso wie den Nachgeborenen, die den „Deutschen Herbst“ nicht miterlebt haben, zur Lektüre unbedingt empfohlen werden. Man erfährt viel über die Hintergründe des damaligen Geschehens und die Zusammenhänge internationaler Politik jener Zeit, in der es letztlich Helmut Schmidt und seinem entschlossenen „Ritt auf der Rasierklinge“ zu verdanken war, dass die Bundesrepublik vor ihrem Rückfall in den Totalitarismus bewahrt wurde.

Veröffentlicht am 11.04.2021

Spannend und historisch interessant

Abels Auferstehung
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REZENSION – Eine spannende und bei umfassendem historischen Informationsgehalt gut unterhaltende Lektüre sind die ersten zwei Bände der neuen Kriminalreihe von Thomas Ziebula (66) um den Leipziger Kriminalisten ...

REZENSION – Eine spannende und bei umfassendem historischen Informationsgehalt gut unterhaltende Lektüre sind die ersten zwei Bände der neuen Kriminalreihe von Thomas Ziebula (66) um den Leipziger Kriminalisten Paul Stainer im Jahr 1920, dessen zweiter Fall „Abels Auferstehung“ kürzlich im Wunderlich Verlag veröffentlicht wurde. Nur gut, dass zeitgleich der erste Band „Der rote Judas“ (2020) in Taschenbuchausgabe erschien, schließt doch der zweite Band in Handlung und Personen nahtlos an den ersten an. Liest man beide Bände auf einmal, verstärkt sich zweifellos die atmosphärische Wirkung.
Wir befinden uns in Leipzig zum Jahresanfang 1920, kurz nach Ende des Ersten Weltkriegs. Heimgekehrt von seiner „erholsamen Frankreichreise“, wie Paul Stainer seinen Fronteinsatz und die vierjährige Kriegsgefangenschaft in Frankreich zynisch nennt, wird der Ex-Kommissar als Leiter der Mordinspektion mit Beförderung zum Kriminalinspektor wieder in den Dienst der Kriminalpolizei aufgenommen. Es ist die turbulente Anfangszeit der noch ungefestigten Weimarer Republik, in der sich konservative, monarchistische Gruppen, allen voran die Schwarze Reichswehr, mit republikanischen Sozialisten und Kommunisten Straßenschlachten liefern, während Freikorpstruppen unter General Georg Maerker nur mühsam für Ordnung sorgen und die junge Republik schützen. Mit Vertretern beider Gruppierungen muss sich auch Sozialdemokrat Paul Stainer in der eigenen Dienststelle herumplagen.
Diese spannungsgeladene Situation bildet den Hintergrund jener Mordfälle, die Stainer in Ziebullas erster „historischen Erzählung“, wie er seine Krimis nennt, aufzuklären hat. Mit dem jungen Kommissar-Anwärter Junghans und dem ehrgeizigen Kommissar Heinze, beide ebenfalls Kriegsteilnehmer, kommt Stainer der „Operation Judas“, einer rechten Verschwörung, auf die Spur. Im zweiten Band „Abels Auferstehung“ stellt die Leiche eines Kriegsheimkehrers Stainer und Junghans vor ein scheinbar unlösbares Rätsel: Wurde Friedrich Sternberg, ehemals Mitglied einer jüdischen Studentenverbindung, von den radikalen Rechten ermordet? Dann wird auch noch ein deutscher Ex-Soldat bei Basel aus dem Rhein gezogen. Nicht nur Stainer interessiert sich für die Morde, sondern auch Marlene Wagner, junge Journalistin bei der liberalen Leipziger Volkszeitung.
In „Abels Auferstehung“ bilden zwangsläufig auch die politischen Spannungen, stärker aber die sozialen Alltagsprobleme in der unmittelbaren Nachkriegszeit den Rahmen der Erzählung: Während der Kriegsabwesenheit mussten die Frauen deren Arbeit verrichten. Nach Rückkehr der Männer wollen die „Granitköpfe in den Chefsesseln“ die Frauen – wie Kriegerwitwe Josephine König, erste Straßenbahnführerin Leipzigs – wieder „an ihre naturgegebenen Plätze, an Herd und Küchentisch“ zurückschicken.
Autor Thomas Ziebula, den man bisher eher als Jo Zybell und Verfasser mehrfach prämierter Fantasy- und SciFi-Romane kannte, hat mit dieser neuen historischen Krimireihe, deren erster Band auf der Shortlist für den Crime Cologne 2020 stand, einen guten Platz gefunden zwischen Alex Beer, deren Kriminalinspektor August Emmerich zur selben Nachkriegszeit in Wien sich mit ähnlichen Problemen herumschlagen muss, und Volker Kutscher, dessen Kommissar Gereon Rath in Berlin erst in den Endjahren der Weimarer Republik ab 1929 ermittelt. Ziebulas Krimireihe garantiert Spannung und macht dank gewissenhafter Recherche in den Archiven ein Kapitel deutscher Geschichte wieder lebendig. Auf den dritten Band um Kriminalinspektor Paul Stainer, der nach Verlagsauskunft im Januar 2022 erscheinen soll, dürfen wir uns freuen.