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Veröffentlicht am 14.11.2023

Frage um Schuld und Sühne

Dünnes Eis
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REZENSION – Eine ungemein berührende, wirklich zu Herzen gehende Geschichte behandelt, ohne irgendwo in Klischees und Kitsch abzugleiten, der Roman „Dünnes Eis“ der deutschen Schriftstellerin Theres Essmann ...

REZENSION – Eine ungemein berührende, wirklich zu Herzen gehende Geschichte behandelt, ohne irgendwo in Klischees und Kitsch abzugleiten, der Roman „Dünnes Eis“ der deutschen Schriftstellerin Theres Essmann (56), im August erschienen beim Dörlemann Verlag. Es ist nach dem schmalen Lyrikband „Das Gewicht der Berührung“ (2002) und ihrer Novelle „Federico Temperini“ (2020) erst das zweite Prosawerk der als Poesietherapeutin mit Worten und Lauten, Gedanken und Gefühlen, mit Sinnen und Sinnlichkeit arbeitenden Autorin. Essmann verbindet in ihrer Romanhandlung das Schicksal gegenwärtiger Flüchtlinge mit den Erlebnissen und Erfahrungen ostdeutscher Flüchtlinge gegen Ende des Zweiten Weltkriegs. Es ist eine überaus ernsthafte Geschichte um Täter und Opfer, um Schuld und Sühne, um Trauer und Einsamkeit. „Dünnes Eis“ ist ein Roman, der uns zeigt, wie Kriege Menschen psychisch zerstören und auch nach ihrem offiziellen Ende ein Leben lang nachwirken. Zugleich zeigt der Roman aber auch Versuche der Versöhnung.
Wir lernen Marietta kennen, die fast 100-jährig zwar nicht allein, aber doch einsam in ihrer Seniorenresidenz lebt, nachdem ihre Zimmernachbarin und Freundin Gisela kürzlich verstorben ist. Ihr neuer Nachbar ist Herr Tacke – ein mürrischer und zurückgezogen wirkender Mann. Er sei ein alter Nazi, munkelt man. Nur langsam gelingt es Marietta, einen nachbarschaftlichen Kontakt zu ihm herzustellen. Eine Kontaktaufnahme anderer Art schafft sie in ihrer Begegnung mit dem kleinen Enis, einem Jungen aus der nahen Flüchtlingsunterkunft, der sie an ihren eigenen Sohn erinnert: Johann wurde damals (1945) als Sechsjähriger in Ostpreußen von russischen Soldaten erschossen. Beide Begegnungen zwingen die Seniorin, sich mit ihren im Innersten vergrabenen, doch auch nach Jahrzehnten nicht verwundenen Schuldgefühlen auseinanderzusetzen.
„Weil ich geschrien habe: Lauf weg! lief Johann weg. Weil Johann weglief, hat der Russe ihn erschossen.“ Zwar hatte der Russe geschossen, aber zeit ihres Lebens gab sich Marietta die Schuld am Tod ihres Sohnes. Doch hatte sie tatsächlich geschrien? Oder plagen sie falsche Erinnerungen? „Aber als ich hilflos mitansehen musste, wie Johann zu Boden ging, ist mein Herz zerrissen. Wie sollte ich damit weiterleben? Mit einem zerrissenen Herzen? Also habe ich versucht, den Riss zu flicken. Mit dem Faden des Verstandes. Ich musste mir erklären, warum mein Kind starb.“
Jetzt versucht sie, den kleinen Enis zu trösten, über den sie erfahren hat, dass er die Ermordung seiner beiden Eltern miterleben musste und seitdem traumatisiert und verstummt ist. „Heutzutage spricht jeder von Traumatisierung“, vergleicht Marietta mit 1945 unter sowjetischer Besatzung. „Damals, unmittelbar danach, fragten die Frauen sich gegenseitig: Und du? Musstest du auch ran? … Meistens aber sagte keine etwas. Und ich?“ Auch Marietta hatte geschwiegen und jeden Gedanken daran vermieden. Damals mussten die Opfer – ob Zivilist oder junger Soldat wie Herr Tacke – selbst sehen, wie sie mit ihren Schreckensbildern im weiteren Leben klarkamen. „Manchmal reicht ein Riss, dünn wie ein Haar, damit etwas Verhärtetes aufbricht.“ Zum Beispiel konnte Marietta die h-Moll-Messe von Bach nicht ertragen, die Lieblingsmusik ihres verstorbenen Mannes. „Sie zieht mich dorthin, wo ich nicht sein kann. …. Auf dünnes Eis?“
„Dünnes Eis“ ist ein in Sprache und Charakteren beeindruckender Roman voller Mitgefühl und Menschlichkeit, wie es heutzutage nur wenige gibt. Theres Essmann greift ein altes Thema auf und zeigt uns dessen ungebrochene Aktualität. Sie schafft es nachvollziehbar, in ihren Protagonisten die Grenzen zwischen Täter und Opfer aufzubrechen und die Frage nach Schuld aus wechselnder Perspektive zu stellen. „Dünnes Eis“ von Theres Essmann packt seine Leser und wirkt wohl bei allen noch recht lange nach.

Veröffentlicht am 10.08.2023

Satirischer Krimi mit aktuellem Bezug

Samson und das gestohlene Herz
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REZENSION – Im Roman „Samson und das gestohlene Herz“, dem im Juli beim Diogenes Verlag erschienenen zweiten Band der satirischen Krimireihe des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (62), muss sich ...

REZENSION – Im Roman „Samson und das gestohlene Herz“, dem im Juli beim Diogenes Verlag erschienenen zweiten Band der satirischen Krimireihe des ukrainischen Schriftstellers Andrej Kurkow (62), muss sich der im postrevolutionären Jahr 1920 in Kiew lebende Ermittler Samson mühsam mit einem Fall illegalen Fleischhandels herumplagen. Um Handlung und Protagonisten besser zu verstehen, empfiehlt es sich, zuvor den ersten Band „Samson und Nadjeschda“ (2022) gelesen zu haben. Denn er erklärt, weshalb dem jungen Mitarbeiter der sowjetischen Miliz das rechte Ohr abgeschlagen wurde, das er seitdem in einer Metalldose im Arbeitszimmer seines von marodierenden Rotarmisten ermordeten Vaters aufbewahrt und mit dessen Hilfe er Gespräche belauschen kann, ohne selbst vor Ort zu sein: „Die nackte Ohröffnung auf seiner Rechten nahm alle Geräusche der Welt in sich auf.“ Auch versteht man die Beziehung zwischen Samson und Nadjeschda, die in gemeinsamer Wohnung zu einem Liebespaar werden: „Sie sah ihn kritisch an, wie eine Ehefrau ihren Herumtreiber von Mann, aber sogleich veränderte sich ihr Gesichtsausdruck – sie erinnerte sich offenbar daran, dass sie nicht seine Frau, sondern nur bei ihm einquartiert war.“
Noch immer ist Bürgerkrieg (1918 – 1922) in der Ukraine. Sowjetische Bolschewiken kämpfen gegen Konservative, Demokraten, gemäßigte Sozialisten, Nationalisten und Weiße Armee. Im Januar 1919 hatten die Bolschewiken die Stadt Kiew erobert. Samson war eher zufällig und ohne Ausbildung als Mitarbeiter der sowjetischen Miliz verpflichtet worden. Seinem künftigen Vorgesetzten Najden hatte schon dessen Fähigkeit genügt, gute Berichte zu formulieren.
Im neuen Band geht es um illegalen Handel mit Fleisch. Wegen akuten Mangels war das private Schlachten und der Verkauf von Fleisch vom Regime plötzlich verboten worden. Allerdings hatte man versäumt, die Einwohner von Kiew darüber zu informieren. „Es war eine Zeit der Unruhe, der Gefahr und des Hungers.“ Es herrschte politische Willkür, die auch Samson, sein Kollege Cholodnij und der Vorgesetzte Najden zu spüren bekommen, als ihnen der Tschekist Abjasow unerwartet vor die Nase gesetzt wird. Kaum haben Samson und Cholodnij mit ihren Ermittlungen im Fleisch-Schwarzhandel begonnen, wird Nadjeschda, Mitarbeiterin im Amt für Statistik, von Eisenbahnern gefangen genommen. Nun muss Samson auch noch seine Geliebte befreien.
Auch für diesen zweiten Band gilt: Es ist eine mit liebevoll charakterisierten Protagonisten besetzte und in fast märchenhaft-poetischer Sprache verfasste Mischung aus historischem Roman, Liebesgeschichte und Krimi. Allerdings ist der unspektakuläre Kriminalfall für den Autor lediglich Mittel zum Zweck: Andrej Kurkow blickt in seiner Krimireihe auf die Zeit der ersten sowjetischen Besetzung im Jahr 1920 zurück. Er schildert satirisch-ironisch die Alltagssituation der Normalbürger in den Wirren des Bürgerkriegs, in dessen Verlauf es für sie manchmal unübersichtlich war, wer sie gerade beherrschte. So rät der alte Fotograf, der Samson und Nadjeschda fotografieren soll, vom Foto in Uniform ab: „Sie merken doch selbst, wie oft bei uns hier die Machthaber wechseln. Von daher ist es besser, sich nicht in Kleidung ablichten zu lassen, die auf konkrete Machthaber hinweist. Wer weiß schon, wer als nächstes nach Kiew kommt?“
Der durchaus unterhaltsame Roman „Samson und das gestohlene Herz“ ist kein gewöhnlicher Krimi. Man denkt sofort an die unschuldigen Menschen in den heute von russischen Truppen erneut besetzten Ostprovinzen der Ukraine. „Überhaupt gab es zu wenig Salz, wie es überhaupt auch zu wenig Zucker gab. Das war die bittere Wahrheit dieser unruhigen Zeit, die man weder mit Salz noch mit Zucker schmackhaft machen konnte.“ Aber das Alltagsleben muss auch dort heute wie einst im Jahr 1920 irgendwie weitergehen, egal wer gerade regiert. So absurd diese Situation damals wie heute ist, steigert Andrej Kurkow in seinem Roman alles derart ins Skurrile, dass aus der Tragik des Geschehens schon wieder Komik wird. Auf den angekündigten dritten Band darf man gespannt sein.

Veröffentlicht am 29.07.2023

Tief beeindruckendes Debüt

Eines Tages wird es leer sein
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REZENSION – Es ist wahrlich nicht der erste Roman über die in der nächsten und übernächsten Generation noch nachwirkenden, durch Holocaust oder Flucht und Vertreibung erlittenen Traumata jüdischer Familien. ...

REZENSION – Es ist wahrlich nicht der erste Roman über die in der nächsten und übernächsten Generation noch nachwirkenden, durch Holocaust oder Flucht und Vertreibung erlittenen Traumata jüdischer Familien. Doch der nur 168 Seiten kurze Debütroman „Eines Tages wird es leer sein“ des französischen Journalisten Hugo Lindenberg (45), im März auf Deutsch in der Edition Nautilus veröffentlicht, verschafft sich durch die Figur seines erst zehnjährigen Erzählers, durch die der Einsamkeit dieses Jungen angepasste Sprache – in der deutschen Ausgabe ein Verdienst der Übersetzerin Lena Müller – sowie durch die einerseits empathische, andererseits auch beklemmende Atmosphäre der Geschichte eines Sommererlebnisses am Strand der Normandie eine gewisse Alleinstellung in diesem Genre. Völlig zu Recht wurde „Eines Tages wird es leer sein“ in Frankreich von Radiohörern mit dem Prix Livre Inter, von einer Jury als “schönster Roman des Frühlings“ mit dem Prix Françoise Sagan sowie mit zwei weiteren Literaturpreisen ausgezeichnet.
Lindenberg lässt einen zehnjährigen Jungen vom Strandurlaub mit Großmutter und Tante in den späten 1980er Jahren erzählen. Am Strandleben nimmt er nur als Beobachter teil. Er spielt allein, wie er es als elternloses Kind gewohnt ist, ausgegrenzt von seiner Umwelt. Aus dieser intuitiv selbst gewählten Isolation holt ihn nach ein paar Tagen der gleichaltrige Baptiste – ein „richtiger Junge“ mit einer „richtigen Familie“. Der Erzähler ist von dessen Unbekümmertheit und Unbeschwertheit fasziniert. Er nimmt darin etwas Besonderes wahr, das ihm selbst fehlt. Umgekehrt empfindet auch Baptist seine neue Urlaubsbekanntschaft bald als Besonderheit: „Ich habe noch einen Freund, der ist Jude. … Ihr habt's gut, ich bin gar nichts.“
Baptist nimmt den Erzähler mit zu sich nach Hause, wo er von dessen Mutter liebevoll aufgenommen wird. Der Junge, ohne Erinnerung an eigene Eltern – vom Vater ist nichts zu erfahren, der Selbstmord der Mutter wird vor ihm verschwiegen –, entwickelt zu ihr eine enge Beziehung. Ihm wird wohl jetzt erst bewusst, welches Familienglück ihm alle Jahre fehlte: „Kinder, die bei den ersten Sonnenstrahlen sonntags das elterliche Bett entern und sich unter die Fittiche der Familie flüchten. 'Fittiche', dieses seltsame Wort, das … wahrscheinlich von Liebe, Zärtlichkeit und fröhlichen Küssen erzählen soll. … Bei uns gibt es keine Fittiche und kein Kind. Es gibt nur Überlebende, die zwischen Geistern umherirren“ - die Geister der im Holocaust ermordeten Angehörigen.
Der Junge schämt sich vor Baptiste für seine Großmutter, die, vor Jahrzehnten aus dem polnischen Łódź vertrieben, immer noch mit hartem Stetl-Akzent spricht und damit gegenüber Baptiste zugleich auch seine eigene Andersartigkeit offenbart. Sie scheint sich mit intensiver Hausarbeit von Erinnerungen und ihrem Trauma ablenken zu wollen. Der Junge schämt sich auch für seine Tante, die mit ihrem Leben nicht klarzukommen scheint und alle Tage als Kettenraucherin allein in ihrem Zimmer bleibt. Von derart traumatischer Atmosphäre ist der zehnjährige Erzähler, der immer noch nachts ins Bett macht, geprägt. Ihm fehlt nicht nur eine „richtige Familie“, sondern er hat nie eine unbeschwerte Kindheit erleben dürfen. Ihm fehlt das „richtige Leben“ eines Zehnjährigen, eine aus kindlicher Unschuld entwickelte eigene Persönlichkeit und das natürlich gewachsene Selbstbewusstsein einer eigenen Identität. Hat Hugo Lindenberg wohl deshalb seinem jungen Protagonisten keinen Vornamen gegeben?
Es ist diese Stimmung, diese eigenartig beklemmende Atmosphäre der Geschichte, aber andererseits auch die Bewunderung für den kindlichen Erzähler, der, auf sich allein gestellt, mit allen Widrigkeiten umzugehen vermag, was den Roman in gewisser Weise spannend und so lesenswert macht. Mag sein, dass Hugo Lindenberg seine Geschichte vor allem deshalb so besonders authentisch aus Sicht eines Zehnjährigen erzählen konnte, weil er vielleicht selbst als 1978 geborener Enkel polnisch-jüdischer Immigranten Ende der 1980er Jahre als Kind ähnliche Empfindungen hatte und vergleichbare Erfahrungen machen musste …..

Veröffentlicht am 23.07.2023

Historisch und literaturgeschichtlich interessant

Das Schloss der Schriftsteller
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REZENSION – Über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946, in dem die vier Siegermächte gemeinsam über die wichtigsten Nazi-Funktionäre zu Gericht saßen, wurde ...

REZENSION – Über den Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess vom 20. November 1945 bis 1. Oktober 1946, in dem die vier Siegermächte gemeinsam über die wichtigsten Nazi-Funktionäre zu Gericht saßen, wurde schon viel geschrieben. Somit könnte man meinen, es sei alles gesagt. Doch mit seinem faszinierenden Sachbuch „Das Schloss der Schriftsteller“, im April beim Verlag C. H. Beck erschienen, beweist uns Autor Uwe Neumahr das Gegenteil: Basierend auf der 2015 von Steffen Radlmaier anlässlich des 50. Jahrestages des Prozessbeginns veröffentlichten Broschüre „Das Bleistiftschloss als Press Camp“ sowie bislang unveröffentlichten Quellen, steht in Neumahrs Buch nicht unbedingt der Prozess im Mittelpunkt, sondern vielmehr der Alltag der zur Berichterstattung nach Nürnberg entsandten Korrespondenten aus aller Welt, ihre Arbeit, ihre Gefühle und die Auswirkungen des Nürnberger Prozesses auf ihr späteres Wirken. Die meisten Journalisten und Schriftsteller waren in dem von den Amerikanern beschlagnahmten Schloss der Fabrikantenfamilie Faber-Castell im nahen Dorf Stein untergebracht.
Dieses Gipfeltreffen der „Crème de la Crème der damaligen Presse- und Literaturszene“ war ebenso ein in der Geschichte einmaliges Ereignis wie der Prozess: „Weltliteratur traf auf Weltgeschichte“. Obwohl sein Werk auch ein „Buch über Sprachlosigkeit und den literarischen Umgang mit dem Unsagbaren“ ist, gelingt es dem Autor immer wieder durch Einbindung von Klatsch- und Tratschgeschichten wie den Schilderungen von Eifersüchteleien oder Liebschaften zwischen den literarischen Beobachtern sein Sachbuch auch für Freunde der Belletristik interessant zu machen. So beschreibt Erich Kästner die aus dem US-Exil angereiste Erika Mann als „patriotisch amerikanisch“, während die Mann-Tochter dem nach Norwegen berichtenden Korrespondenten Willy Brandt „ein wenig auf die Nerven [ging, indem sie] vorgab, sie könne nicht mehr deutsch reden.“ Sogar Golo Mann fühlte sich von seiner Schwester genervt, die Deutschland und alle Deutschen unterschiedslos verdammte.
Klatsch und Tratsch gab es zur Genüge, mussten sich doch die Korrespondenten nicht nur während der oft mehrtägigen Verhandlungspausen des „Kaugummiprozesses“ ihre Zeit fern der Heimat vertreiben, sondern sich auch psychisch von dem im Gerichtssaal Gesehenen und Gehörten entlasten. „Sie wohnten und schrieben auf Schloss Faber-Castell, diskutierten, tanzten, verzweifelten, tranken. … Im Gerichtsaal blickten sie den Verbrechern ins Angesicht, im Press Camp auf dem Schloss versuchten sie, das Unfassbare in Worte zu fassen.“ Ihr Blick „in den Abgrund der Geschichte“ veränderte nicht nur die Bewohner des Schlosses, sondern auch ihre Art zu schreiben.
Wie dies beim Einzelnen spürbar wurde, zeigt Uwe Neumahr nach einführenden Kapiteln über das unkomfortable Leben und Arbeiten auf dem Faber-Schloss sowie dessen Verwaltung durch amerikanische Offiziere in den nachfolgenden Kapiteln, in deren Vordergrund jeweils ein bekannter Reporter oder Schriftsteller steht: John Dos Passos, Erich Kästner, Erika Mann, William Shirer, Alfred Döblin, Janet Flanner, Elsa Triolet, Willy Brandt, Markus Wolf, Rebecca West, Martha Gellhorn und nicht zuletzt Wolfgang Hildesheimer. Er war damals noch nicht Schriftsteller, sondern arbeitete als Simultandolmetscher im Gerichtssaal. Das schnellere Simultandolmetschen war zwecks Zeitersparnis erstmals beim Nürnberger Hauptkriegsverbrecherprozess eingeführt worden.
Nicht nur am Beispiel Hildesheimers, aber besonders bemerkbar an dessen weiterem Lebenslauf zeigt Neumahr, wie sich jene Eindrücke in Nürnberg auf sein späteres Wirken und die schriftstellerische Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen auswirkte. So ist „Das Schloss der Schriftsteller“ vor allem eine für literaturgeschichtlich interessierte Leser unbedingt empfehlenswerte Lektüre.

Veröffentlicht am 18.07.2023

Morde in der Musik-Branche

Di Bernardo
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REZENSION - „Die Musikwelt hat es tatsächlich in sich, aber über echte Morde in der Branche habe ich bisher noch nichts gehört“, versicherte die in Moskau geborene und in der italienischen Schweiz lebende, ...

REZENSION - „Die Musikwelt hat es tatsächlich in sich, aber über echte Morde in der Branche habe ich bisher noch nichts gehört“, versicherte die in Moskau geborene und in der italienischen Schweiz lebende, fünf Sprachen beherrschende Schriftstellerin Natasha Korsakova bei der Premierenlesung aus ihrem wieder auf Deutsch verfassten Kriminalroman „Di Bernardo“, erschienen im Juni beim Septime Verlag (Wien). Sie muss es wissen, ist sie doch neben ihrer literarischen Arbeit eine seit vielen Jahren weltbekannte Violinistin. Wenn auch nicht in der Realität, häufen sich doch in ihrem Krimis die Morde in Künstlerkreisen umso mehr. Nach „Tödliche Sonate“ (2018) und „Römisches Finale“ (2019), beide inzwischen ins Italienische übersetzt und dort bereits doppelt ausgezeichnet, ist „Di Bernardo“ nun ihr dritter in der Klassik-Musikbranche spielender Krimi um den aus Kalabrien nach Rom versetzten Commissario Dionisio Di Bernardo.
Diesmal wird der Commissario zur Basilica di San Giovanni in Laterano gerufen. Dort liegt der bekannte römische Komponist Alessandro Ferro ermordet in einer riesigen Blutlache, eine Pistole in der Hand. Völlig unbekannt ist dagegen die junge Frau, die nur wenige Meter von ihm entfernt, erschossen aufgefunden wird. Eine der ersten Verdächtigen ist Alessandros Ex-Freundin Elisa, eine mit Umweltaktivisten sympathisierende Geigerin. Eine andere Spur führt bald zu einem römischen Bogenbauer. Kaum verfolgen der Commissario und sein engagiertes Team ihre erste heiße Spur, wird Di Bernardo zu einer im Tiber gefundenen Wasserleiche gerufen. Durch diesen dritten Mord lösen sich seine ersten Hypothesen in Luft auf und er muss seine Ermittlungen von vorn beginnen.
Wieder einmal muss Di Bernardo in der Musikwelt ermitteln, obwohl er mit klassischer Musik kaum etwas anfangen kann, ebenso wenig wie mit modernen elektronischen Hilfsmitteln in der Polizeiarbeit. Der Krawatten sammelnde Commissario braucht stattdessen „Raum war für Intuition. Für den Blick auf das Ganze. Das war seine Musik.“ Konservativ wie ihr Protagonist ist auf angenehmste Weise auch Korsakovas Krimi: Logisch aufgebaut, gut strukturiert, unaufgeregt in der Handlung, angenehm in der Sprache, leicht gewürzt mit einer Prise Humor – Unterhaltung vom Feinsten.
Doch neben seinem Unterhaltungswert überzeugt „Di Bernardo“ durch einen weiteren Aspekt: Die Autorin widmet sich diesmal dem Umweltschutz und hier speziell dem illegalen Handel mit Edelhölzern und der weltweit operierenden Holzmafia – allerdings nicht etwa, weil das Thema sich aktuell gut „verkauft“, sondern weil Korsakova seit 2011 als Kulturbotschafterin der italienischen Umweltschutzorganisation „Fondazione Sorella Natura“ in Assisi selbst engagiert ist. Wohltuend ist dabei, dass sie als aktive Umweltschützerin ihren Roman nicht als Medium missbraucht, um mit erhobenem Zeigefinger belehrend auf ihre Leser einzuwirken. Stattdessen vermittelt sie sachlich-informativ eine Reihe von Fakten, die den meisten Menschen außerhalb der Klassik-Szene und des Instrumentenbaus nicht bekannt sein dürften. „Kaum jemand würde denken, dass auch Streichinstrumente ein Umweltproblem darstellen“, lässt sie Alberto seinem Vater, dem Kommissar, berichten. „Doch das wertvolle Ebenholz für das Griffbrett zum Beispiel ist geschützt. Oder die Bögen; man kann mit Carbon ebenso wunderbare Bögen bauen.“ Doch seit 200 Jahren wird für den Bau von Geigenbögen bevorzugt das brasilianische Edelholz Fernambuk genutzt, das längst als „gefährdete Art“ ins Washingtoner Artenschutzabkommen aufgenommen ist. „Dieses Holz gilt als unbestrittenes Nonplusultra im internationalen Bogenbau-Handwerk“, bestätigt die Krimi-Autorin und berühmte Violinistin im Nachwort. Sie selbst nutzt für ihr Geigenspiel zwei alte Bögen aus Fernambuk.
Ungewöhnlich ist die erstmalige Aufnahme von fünf QR-Codes im Buch, mit denen Korsakova ihre Leser zu Internet-Videos führt, in denen sie fünf der im Krimi erwähnten Musikstücke auf ihrer Geige spielt. Nicht zuletzt deshalb ist der Krimi „Di Bernardo“ sowohl gute Unterhaltung für Krimi-Liebhaber als auch eine musikalische und informative Lektüre für Freunde klassischer Musik.