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Veröffentlicht am 17.08.2019

Gesellschaftsroman zur anspruchsvollen Unterhaltung

All die unbewohnten Zimmer
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REZENSION – Es ist sicherlich ein riskantes Wagnis, gleich vier Ermittler – drei davon die Protagonisten eigenständiger Kriminalreihen – gemeinsam in einem Roman auftreten und agieren zu lassen. Doch in ...

REZENSION – Es ist sicherlich ein riskantes Wagnis, gleich vier Ermittler – drei davon die Protagonisten eigenständiger Kriminalreihen – gemeinsam in einem Roman auftreten und agieren zu lassen. Doch in seinem neuen Roman „All die unbewohnten Zimmer“ ist dem schon mehrfach mit dem Deutschen Krimipreis und anderen Ehrungen ausgezeichneten Bestseller-Autor Friedrich Ani (60) dieses literarische Kunststück meisterhaft gelungen. Selbstverständlich belässt der Autor jedem seiner Protagonisten den ihm eigenen Charakter, lässt sie sogar über weite Strecken parallel zu einander ermitteln. Doch schließlich führt er die verschiedenen Handlungsstränge und damit zugleich die vier Ermittler in einer staunenswerten Choreographie zu einem überraschenden Finale zusammen.
Diese Vier sind der frühere Mönch und heute heutige Kommissariatsleiter Polonius Fischer, sein inzwischen pensionierter Kollege Jakob Franck, den man aus dessen eigener Buchreihe als mitfühlenden Überbringer von Todesnachrichten kennt, der frühere Kriminalbeamte und jetzige Vermisstenfahnder Tabor Süden sowie Fariza Nasri, die aus der Provinz nach München zurückgekehrte Kriminalbeamtin mit syrischen Wurzeln. Auch wenn diese Vier anfangs noch getrennt agieren, führt sie letztlich die Aufklärungsarbeit um die Ermordung eines jungen Streifenpolizisten zusammen.
Dieser Polizistenmord auf offener Straße – oder war es Totschlag? – erregt zwangsläufig die Aufmerksamkeit bei Medien und Öffentlichkeit. Zunächst unauffällig, dann immer bedrängender baut Friedrich Ani die aktuellen Probleme und Fragen unserer Tage in die Handlung ein - die gesellschaftliche und wirtschaftliche Spaltung von Ost- und Westdeutschland, die Sensationsgier vieler Print- und sozialen Medien, die Folgen der für viele Bundesbürger übermäßig scheinenden Migrationswelle, die mögliche Überforderung von Polizei und Justiz sowie das aus all diesem resultierende Erstarken der Rechtspopulisten mit seinen bedrohlichen radikalen Ausuferungen.
„Der Kriminalroman zwingt zum Hinschauen in die Gegenwart, das Drama des in seinem Lebenszimmer gefangenen Menschen gelingt mir mit dem Krimi am besten, ohne dass es mir auf Mord und Totschlag und spektakuläre Plots ankäme. In meinen Krimis bestimmen die Langsamkeit und das Schweigen den Handlungsablauf“, hat Friedrich Ani einmal über seine Art zu schreiben gesagt. Zwar ist Mord und Totschlag der Ausgangspunkt auch dieses neuen Romans, doch ist dies für Ani nur der Auslöser für die dann einsetzende Handlung. Darin analysiert Ani – wie sein Polonius Fischer – das Unscheinbare, die tief verborgenen Hintergründe, die menschlichen Abgründe, die Täter zu ihrer Tat verleiten, manchmal sogar zu zwingen scheinen. Dabei ist Langsamkeit und beredtes Schweigen – wie wir es vor allem bei Tabor Süden erleben – ein dramatisch wirksames Mittel zur Schaffung dieser in Anis Werken oft beklemmenden Atmosphäre.
Diese ihm eigene Art zu schreiben, die gelegentlich an seinen Schriftstellerkollegen Ferdinand von Schirach denken lässt, macht auch Friedrich Anis neuen Roman „All die unbewohnten Zimmer“ wieder so lesenswert. Trotz der Kriminalhandlung ist auch Anis neues Werk kein Krimi, sondern ein ausgezeichneter Gesellschaftsroman. Dabei sorgen die bis zum Schluss anhaltende Spannung und die markanten Charaktere wieder für anspruchsvolle Unterhaltung.

Veröffentlicht am 28.07.2019

Ein zum Nachdenken anregender literarischer Genuss

Kaffee und Zigaretten
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REZENSION - Es gibt wohl keinen zweiten zeitgenössischen Schriftsteller, der wie Ferdinand von Schirach (55) plötzlich als neuer Stern am Literaturhimmel aufgetaucht ist und seitdem alle anderen überstrahlt. ...

REZENSION - Es gibt wohl keinen zweiten zeitgenössischen Schriftsteller, der wie Ferdinand von Schirach (55) plötzlich als neuer Stern am Literaturhimmel aufgetaucht ist und seitdem alle anderen überstrahlt. Erst als 45-Jähriger landete der frühere Promi-Anwalt vor zehn Jahren mit dem Erzählungsband „Verbrechen“ auf Anhieb einen Bestseller. Seitdem folgte Jahr für Jahr ein neuer, jeder vielfach übersetzt, manche verfilmt. Ob Erzählung, Essay, Theaterstück, Roman oder der bemerkenswerte philosophische Dialog „Die Herzlichkeit der Vernunft“ (2017) mit Alexander Kluge – jedes Buch ist anders, jedes aufs Neue überraschend wie auch sein neuestes Buch „Kaffee und Zigaretten“.
Es ist eine nur 190 Seiten umfassende Sammlung von Notizen, Beobachtungen und kurzen Erzählungen. Schirach beschreibt flüchtige Momente des Glücks, von Einsamkeit und Melancholie, er schreibt über Entwurzelung und die Sehnsucht nach Heimat, denkt über Kunst und Gesellschaft und als langjähriger Strafverteidiger über die Würde des Menschen nach. „Wir erschufen eine Ethik, die nicht den Stärkeren bevorzugt, sondern den Schwächeren schützt. Das ist es, was uns im höchsten Sinn menschlich macht: die Achtung vor unserem Nebenmenschen.“ Von dieser Überzeugung ausgehend, ist es nicht weit zu aktuellen gesellschaftspolitischen Themen: „Hass ist der Anfang. Es ist immer der Hass, der aus der Dummheit kommt.“
Ferdinand von Schirach will uns nicht belehren. Aber er vertritt eine klare Haltung - kurz und knapp, vor allem klug formuliert. Eigentlich ist es eher das Ungesagte, dass in seinen Texten für Nachhaltigkeit sorgt - wie in Kapitel 19: Zehn kurze Zeilen, die uns, morgens beim Frühstück gelesen, den ganzen Tag lang beschäftigen können. Schirach gibt uns Lesern nur Anstöße zum Nachdenken, ohne seine eigenen Gedanken moralisierend vor uns auszubreiten.
Nur in wenigen Passagen vertritt der in einem Jesuiten-Internat humanistisch geschulte Autor seine Meinung zu Fehlentwicklungen unserer Gesellschaft eindeutiger: „Die gebundene Ausgabe von 'Schrecklich amüsant – aber in Zukunft ohne mich' von David Foster Wallace kostet 20 Euro. Das Ausmalbuch für Erwachsene mit dem Titel 'Alpen' ist sieben Euro teurer.“ Die Beobachtungen seiner Mitmenschen und seine daraus gezogenen Erfahrungen münden im Satz: „Irgendwann hat man keine Vorbilder mehr. Man weiß zu viel. Zu viel über sich selbst und zu viel über die anderen.“ Dies lässt den Autor an seine Jugend denken: „Ich träumte von der Zeit, als wir glaubten, dass uns alles gelingen würde, weil wir nur wenig wussten und weil die Wirklichkeit noch keine Macht über uns hatte.“
Geben Schirachs Texte nun Erdachtes oder selbst Erlebtes wider? Es dürfte beides und von beidem eine Mischung sein. Es sind 48 völlig unterschiedliche Texte, ohne jeden Zusammenhang untereinander, teils nur zehn Zeilen kurz, teils nur fünf Seiten lang. Aber jeder transportiert eine Botschaft, für deren Vermittlung andere Autoren Romanlänge brauchen. Eben diese Kürze seiner Geschichten, seine knappen Sätze, in denen jedes einzelne Wort sorgsam abgewogen und feinsinnig gefeilt scheint, sind es, die Schirachs Bücher so faszinierend, so einzigartig, so geistig anregend, so lesenswert machen.

Veröffentlicht am 28.06.2019

Was bedeutet Heimat?

Nicht Anfang und nicht Ende
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REZENSION - Ein sprachlich und atmosphärisch wunderbares und beeindruckendes Buch ist der 1970 erstveröffentlichte Roman „Nicht Anfang und nicht Ende“ des Schweizer Schriftstellers Plinio Martini (1923-1979), ...

REZENSION - Ein sprachlich und atmosphärisch wunderbares und beeindruckendes Buch ist der 1970 erstveröffentlichte Roman „Nicht Anfang und nicht Ende“ des Schweizer Schriftstellers Plinio Martini (1923-1979), der zuletzt 2016 in deutschsprachiger Neuausgabe im Limmat-Verlag (Zürich) erschien. In seinem 240-seitigen „Klassiker der Schweizer Literatur“, einer berührenden Liebes- und Auswanderergeschichte, erzählt uns Martini, der selbst im kleinen Dorf Cavergno im Maggiatal als Sohn eines Bäckers mit sieben Brüdern in ärmlichen Verhältnissen aufgewachsen ist und später dort und im Nachbarort Cevio als Volksschullehrer tätig war, vom kargen und harten Leben der alpinen Dorfbewohner in den Jahren zwischen den Weltkriegen.
Während heute die Schweiz im Ruf steht, ein Steuerparadies, das Land der Reichen und ein teures Urlaubsziel zu sein, schildert Martini in seiner melancholischen Liebeserklärung an die Heimat eine trostlose Region voller Armut, in dem die Bewohner mangels anderer Nahrung von Kastanien und Polenta, die Ärmsten oft sogar nur von Wassersuppe leben mussten. „Wir waren eine Insel außerhalb der Zeit, die letzte Hand voll Mehl auf dem Grunde des Sackes", lässt der Autor seinen Ich-Erzähler Gori sagen. "Schon damals begannen die Sommergäste ins Val Bavona und bis auf die Alpweiden vorzudringen, um uns zu besichtigen, als ob wir Rothäute wären.“ Damals träumten die jungen Männer des Maggiatals nur noch von der Auswanderung ins gelobte Land Amerika und einer späteren Rückkehr mit vielen Dollars in den Taschen.
Der Autor lässt uns Gori aus Cavergno seine Lebensgeschichte im Rückblick erzählen. Er war - wie viele junge Männer des Maggiatals schon vor ihm - tatsächlich 1929 nach Kalifornien ausgewandert, da er in der Heimat nur Hunger und Armut kannte und keine Aussicht auf Arbeit hatte. Nach einem langweiligen Leben als einsamer Cowboy auf einer Farm weitab jeglicher Zivilisation, kehrte er erst 20 Jahre später, krank vor Heimweh, in sein geliebtes Maggiatal zurück, in dem er einst seine einzige große Liebe Maddalena zurückgelassen hatte. Bei seiner Rückkehr findet er sein Maggiatal nicht mehr so vor, wie er es einst kannte. Maddalena ist schon vor Jahren gestorben, seine alte Mutter ist behindert und der Vater gebrechlich. Das ganze Maggiatal hat sich verändert. Die in der Fremde ersehnte Heimat ist selbst fremd geworden. Am liebsten würde er wieder in die USA zurückkehren. „Mein Friede besteht in dem Wissen, dass ich, wo ich auch sein mag, immer an das denken werde, was ich verloren habe.“
Dieser Roman, der mich in seiner Poesie und Liebe zum Maggiatal, seiner Ausdruckskraft, der Naturverbundenheit und auch gelegentlichen Härte stellenweise an den grandiosen Roman „Der Schnee, das Feuer, die Schuld und der Tod“ (2016) des Österreichers Gerhard Jäger (1966-2018) erinnerte, wirkt so ungemein authentisch, als wäre es Plinio Martinis Autobiographie. Tatsächlich ist es etwas Ähnliches. Zwar sind alle Figuren fiktiv – mit Ausnahme des katholischen Pfarrer Don Giuseppe, der seine Dorfgemeinde fest im Griff hat. Doch die Handlung basiert auf realen Erlebnissen und tatsächlichen Begebenheiten. Schließlich hatte der Autor als Einwohner des kleinen Dorfes Cavergno selbst unter ärmlichen Verhältnissen leben müssen und war als dessen späterer Dorfschullehrer über viele Jahre ein Teil des dortigen Geschehens.
„Nicht Anfang und nicht Ende“ ist die ergreifende Geschichte von sehnsüchtigem Fernweh und krankhaftem Heimweh. „Häuschen, die sich mit offenen Türen eng zusammendrängten, um einander Gesellschaft zu leisten; zu einer Tür hinaus, zur nächsten hinein, und überall bist du zu Hause, unter Leuten deiner Art, die dich kennen und gern haben", heißt es in Martinis Roman über das Leben im Maggiatal. Erscheint diese Enge zwar bedrückend, bleibt sie doch vertraute Heimat und sichert Geborgenheit, während sich die Auswanderer in den Weiten Kaliforniens verlieren. Trotz seines erbarmungslosen und entbehrungsreichen Lebens war das kleine Dorf Cavergno und das Maggiatal dem Autor und seinem Protagonisten Gori immer die Heimat.

Veröffentlicht am 04.05.2024

Historisch interessanter Unterhaltungsroman

Der falsche Vermeer
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REZENSION – Vom vielleicht größten Kunstskandal aller Zeiten handelt der im März beim Pendragon Verlag veröffentlichte Debütroman „Der falsche Vermeer“ des Journalisten Patrick van Odijk, der bereits im ...

REZENSION – Vom vielleicht größten Kunstskandal aller Zeiten handelt der im März beim Pendragon Verlag veröffentlichte Debütroman „Der falsche Vermeer“ des Journalisten Patrick van Odijk, der bereits im Vorjahr auf Holländisch erschien. Die Handlung basiert auf den historischen Fakten um den niederländischen Maler und Kunsthändler Han van Meegeren (1889 bis 1947). Im Mai 1945 hatten die Amerikaner unter den in einem Salzburger Bergstollen versteckten Kunstschätzen Hermann Görings das angeblich vom holländischen Barockmaler Jan Vermeer stammende, aber bislang unbekannte biblische Gemälde „Christus und die Ehebrecherin“ entdeckt, das Göring im Jahr 1942 nachweislich für 1,65 Millionen Gulden im Tausch gegen 200 zuvor von den Nazis in den Niederlanden geraubte Bilder erworben hatte. Als Händler wurde der bis dahin unbedeutende Maler Han van Meegeren ausgemacht, der nun wegen Kollaboration mit den Nazis in Haft kam. Dort sagte er aus, das angebliche Vermeer-Gemälde selbst gemalt zu haben. Zum Beweis schuf er in der Haft vor den Augen von Zeugen das Bild „Jesus unter den Schriftgelehrten“ im Stile Vermeers. Zudem bestätigten chemische Untersuchungen aller von Han van Meegeren als eigene Fälschungen benannten „Vermeer-Gemälde“, die in den Jahren zuvor, von namhaften Kunstexperten als echt bezeichnet, für viele Millionen Gulden an Museen und Privatsammler verkauft worden waren und den Fälscher zum Multimillionär gemacht hatten, die Richtigkeit seiner Aussage. Statt als bedeutender Maler anerkannt zu werden, was er sich zeitlebens gewünscht hatte, wurde Han van Meegeren nun kurz vor seinem Tod als genialster Kunstfälscher des 20. Jahrhunderts berühmt. Diesen Fall beschrieb übrigens auch schon der italienische Schriftsteller Luigi Guarnieri im Jahr 2005 in seinem Roman „Das Doppelleben des Vermeer“.
In Odijks Roman ist Jan van Aelst der talentierte Kunstfälscher, dem die junge Reporterin Meg van Hettema auf der Suche nach der „Story ihres Lebens“ gegenübersteht. Sie muss sich gegen missliebige Kollegen, zum entscheidenden Zeitpunkt sogar gegen ihren Mentor und Verleger durchsetzen, um den wahren Charakter des zwielichtigen Kunstfälschers und die Wahrheit um das Gemälde aufzudecken. Der Autor nutzt seinen Roman um diesen realen Kunstskandal bei enger Anlehnung an die historischen Fakten zur Schilderung der schwierigen politischen Situation unmittelbar nach Ende der deutschen Besatzung und den in der niederländischen Bevölkerung damals weit verbreiteten und von der Übergangsregierung nur schwer kontrollierbaren Hass auf tatsächliche oder auch nur vermeintliche Nazi-Kollaborateure. Gleichzeitig zeigt uns Odijk, wie politische und gesellschaftliche Stimmungen von Medien aufgegriffen und zur Steigerung der eigenen Auflage gelegentlich missbraucht und angefeuert werden, und wie schwierig es gelegentlich ist, an der Wahrheit festzuhalten, wenn sie doch niemand hören will. Nicht zuletzt gibt uns der Autor auch einen intensiven Einblick in die Welt der Malerei und den erbitterten Streit der zeitgenössischen Maler der Moderne mit den Anhängern des „Goldenen Zeitalters“ und macht uns mit den vielfältigen, wissenschaftlich fundierten Tricks talentierter Kunstfälscher vertraut.
Zu Beginn wirkt „Der falsche Vermeer“ noch etwas langatmig, stellenweise sogar oberflächlich, da die Reporterin anfangs allzu naiv dargestellt wird und auch später ihre Liebesaffäre mit dem kanadischen Sergeant doch viel Platz einnimmt. In der zweiten Hälfte des Buches nimmt die Handlung dann allerdings Fahrt auf: Wir erleben, wie die Volksmeinung wechseln kann: Erst ist Kunstfälscher Jan van Aelst ein gefeierter Held, der Obernazi Göring betrogen hat, dann ist er plötzlich ein verhassrter Kollaborateur, den man sofort ins Lager stecken, wenn nicht sogar hängen sollte. Besonders interessant wird der Roman schließlich durch die in allen Einzelheiten beschriebene, dennoch auch für Laien spannende Schilderung der sorgsamen Aufklärung des Fälscherskandals. So ist „Der falsche Vermeer“ ein durchaus gelungenes Debüt,historisch interessant – gewiss nicht nur für Freunde der Malerei – und insgesamt ein gut zu lesender, in der zweiten Hälfte auch spannender Unterhaltungsroman.

Veröffentlicht am 24.03.2024

Eindrucksvoll packender Psychothriller

Hundswut
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REZENSION – Erst nachdem Daniel Alvarenga (37) die Dreharbeiten seines nach eigenem Script selbst produzierten Kinofilms „Hundswut“ abgeschlossen hatte, schrieb er als „Buch zum Film“ seinen gleichnamigen ...

REZENSION – Erst nachdem Daniel Alvarenga (37) die Dreharbeiten seines nach eigenem Script selbst produzierten Kinofilms „Hundswut“ abgeschlossen hatte, schrieb er als „Buch zum Film“ seinen gleichnamigen Roman, der im Februar als sein literarisches Debüt im Verlag HarperCollins erschien. Dies war eine gute Entscheidung. Denn während der Film wohl nur in bayerischen Kinos läuft, ist sein packender Psychothriller nun überall zu lesen. Nur seien allzu zart besaitete Leser gewarnt!
Der seit seiner Jugend in Bayern wohnende Autor schildert einen fiktiven Vorfall aus dem Jahr 1932 in einem kleinen Bergdorf in der tiefsten bayerischen Provinz. Man lebt dort, als sei die Zeit irgendwann stehen geblieben. Mit der Großstadt München will man nichts zu tun haben und schon gar nichts von dem wissen, was die Nazis dort neuerdings treiben. Alles bleibt im Dorf und wird von Bürgermeister Bernhard „Hartl“ Aichinger und Großbauer Georg Steiner geregelt. Dies gilt auch, als eines Tages vier Kinder bestialisch ermordet und zerfleischt im Wald gefunden werden. Eine Meldung nach München kommt für den Bürgermeister nicht in Frage: „Bevor i dene wos meld und dann oan vo dene Nazis im Dorf hob, regel i's liaber selber.“ So beginnt er seine Ermittlung, unterstützt von Großbauer Steiner, Landgendarm Xaver und Gastwirt Lugg.
Anfangs glauben die Dörfler noch, ein Wolf könne für die grausame Bluttat verantwortlich sein. Die Dorfälteste setzt im Waschhaus das Gerücht in die Welt, es sei ein Werwolf: „Wenn di a kranker Wolf beißt, und due überlebst as, dann host du die Hundswuat a. Dann bist du verfluacht und musst wia a Wolf lebm.“ Doch weder einen Wolf noch einen Werwolf, sondern einen Menschen hält der Bürgermeister für den Mörder: „Mir wissn olle ganz genau, das des koa Wolf war! Aa koa tollwütiger! A Wolf jagt, wenn er Hunger hod! A Wolf zerfetzt ned vier Kinder und lassts dann im Wald verrecken. Und a Wolf vergeht si aa ned an am junga Madl, bevor ers umbringt. … Des war koa Viech, des war a Mensch!“
Schon bald gibt es weitere Mordfälle gleicher Brutalität. Ein Mörder muss schnell gefunden werden, um das Dorf zu beruhigen. Als Verdächtigen machen Bürgermeister und Großbauer den ohnehin schon von allen Dörflern misstrauisch beäugten Einsiedler Joseph Köhler aus, der seit dem Tod seines Sohnes und später auch seiner Frau schwermütig ist und mit Tochter Mitzi einsam am Wald wohnt. Man verschleppt ihn in den Bierkeller des Wirtshauses, um ihm den Prozess zu machen. Obwohl Köhler standhaft seine Unschuld beteuert, sind sich die Dörfler schnell einig, den Schuldigen gefunden zu haben. „Nichts hielt eine Gemeinschaft so effektiv zusammen wie der gemeinsame Hass auf jemand anderen.“ Als aber alle Versuche scheitern, Köhler zu einem Geständnis zu bewegen, meint Dorfpfarrer Hias Lechner in ihm einen vom Teufel besessenen Hexer zu erkennen, und zieht den aus dem Mittelalter berüchtigten „Hexenhammer“ zu Rate. Köhler soll nach Kirchenrecht als Werwolf angeklagt und verurteilt werden. Die Stimmung im Dorf nimmt nun eine bedrohliche Wendung: Der Wahn erfasst auch die eigentlich vernünftigen Bewohner und die Gewalt setzt sich durch. Als der Fall für das Dorf endlich abgeschlossen ist, geht das normale Leben weiter, als habe sich niemand schuldig gemacht, „weil es das immer tat, weil es das musste“.
In drastischen Bildern schildert Alvarenga sehr plastisch und authentisch den allmählichen, durch haltlose Gerüchte angefeuerten Gesinnungswandel unter den einfachen, meist ungebildeten Dorfbewohnern, wie sie sich in ihrer Bigotterie vom Pfarrer leicht beeinflussen und zum Äußersten treiben lassen. Sehr glaubhaft, in ihrer Düsternis ungemein realistisch und lebendig wirkt die erschreckende Handlung nicht zuletzt durch die drastischen Dialoge in bayerischer Mundart. Die wirklichkeitsnahe Schilderung macht in ihrer erschütternden Brutalität auch vor den grausamsten Szenen nicht Halt, wovon mancher Leser sich vielleicht abgestoßen fühlen kann. Doch andererseits ist es gerade diese Direktheit in der szenischen Darstellung sowie die psychologisch tiefgreifende Charakterisierung der Personen, wodurch Daniel Alvarengas Debütroman „Hundswut“ so eindrucksvoll ist, seine Leser so fasziniert und packt.