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Veröffentlicht am 25.09.2022

Der Großmeister hat erneut zugeschlagen

Bullauge
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Friedrich Ani ist ein Großer seines Fachs. Außergewöhnliche und doch zutiefst menschliche Charaktere, fließende natürliche Dialoge, spannender Stil kennzeichnen dieses Buch. Schlichte, einfache geradlinige ...

Friedrich Ani ist ein Großer seines Fachs. Außergewöhnliche und doch zutiefst menschliche Charaktere, fließende natürliche Dialoge, spannender Stil kennzeichnen dieses Buch. Schlichte, einfache geradlinige Sprache, die in den kurzen Sätzen die einander folgen, ganz klare und oft erstaunliche Bilder bieten: so beschreibt Kay Oleander seine Bekannte Via Glaser: “Sie führte eine Apotheke und dann nicht mehr. Sie verdingte sich als Fahrerin für einen Lieferservice und dann nicht mehr, sie war eine quirlige, gesunde, übermütige Frau und dann nicht mehr, sie war neugierig und den Menschen zugewandt und dann nicht mehr. Sie war unpolitisch und dann nicht mehr. Sie war friedliebend und dann nicht mehr. Sie war am Leben und dann nicht mehr. (S.181) Mit diesen knappen Worten erfahren wir, wie tief der Fahrradunfall Via verunsichert und verängstigt hat, wie sehr ihr Leben dadurch verändert wurde. Friedrich Anis Stil ist nicht einfach, aber wenn man sich darauf einlässt, ist das Buch eine Wucht und man mag es nicht mehr aus der Hand zu lassen. Fast surreal mutet der Dialog zwischen Kay und seinem Nachbar Gustav, Seiten 136 - 139, die mit den Worten enden: “Ein geschorener Maulwurf? Ich?” (S. 139)
Kay Oleander sieht sich selbst “- wie ein Schiffbrüchiger auf hoher See einen Leuchtturm. So einer war ich auch. Mein Schiff war gebrochen, mein Kompass zersplittert, über mir der Himmel sternenleer” (S. 152) nach seinem schrecklichen Unfall, bei dem er ein Auge verlor. Und doch lässt er sich nicht unterkriegen. Er will herausfinden, wer die Flasche geworfen hat, die ihn das Auge kostete. Letzten Endes findet er heraus, wer ihn so schwer verletzt hat, er kann auch einen rechtsgerichteten terroristischen Anschlag vereiteln, einen Mord aufklären, die Tatwaffe sicherstellen.
Die Flaschenscherben auf dem Titelbild stehen für den Auslöser der Handlung. Und das Opfer des Anschlags: Ein Bulle - also ein Polizist - hat ein Auge verloren.

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Veröffentlicht am 19.09.2022

Ein Krimi aus Down Under

Der Sturm
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Der Roman beginnt ganz harmlos. Nach einigen Jahren Abwesenheit kehrt ein Mann in seine alte Heimat zurück, mit seiner Frau, die auch aus diesem Ort an der tasmanischen Küste stammt, und seiner kleinen ...

Der Roman beginnt ganz harmlos. Nach einigen Jahren Abwesenheit kehrt ein Mann in seine alte Heimat zurück, mit seiner Frau, die auch aus diesem Ort an der tasmanischen Küste stammt, und seiner kleinen Tochter. Er will der Mutter helfen, den Haushalt der Eltern aufzulösen. Der Vater ist an Demenz erkrankt, er muss in ein Pflegeheim. Die Mutter will in seine Nähe ziehen, um bei ihm zu bleiben, solange es geht. Zwischen Kieran und seinen Eltern scheint etwas zu stehen, etwas Störendes, nie Ausgesprochenes. Auch beim Treffen mit den Kumpels in der Kneipe am Abend offenbart sich: Es gibt verschiedene Animositäten, unausgesprochene Geschichten aus der Vergangenheit, Probleme de bisher nie geklärt wurden. Ganz allmählich steigert sich die Unruhe, die zwischen Kieran und seinen Kumpeln herrscht. Und dann geschieht ein Mord. Bronte, die junge Bardame, die nur für einen Sommer in der Bar arbeiten wollte, wird tot am Strand aufgefunden. Und plötzlich sind all die Traumata, die während und nach einem Sturm vor 12 Jahren geschahen, wieder präsent, in all ihrer Schärfe. Erst wenn aufgeklärt wird, was damals wirklich geschah, kann man auch den aktuellen Mordfall lösen und die Zusammenhänge verstehen.
Das geschieht nur allmählich, teilweise in Rückblenden, in dem zur Sprache gebracht wird, wie die unterschiedlichen Protagonisten vor 12 Jahren die Zeit vor, während und nach dem Sturm verbracht haben. Parallell dazu ermittelt die Polizei weiter am aktuellen Mord.
Sehr spannend erzählt, mit steigender Intensität von dem schönen und ruhigen Anfang am Strand bis zum großen Showdown ebenfalls am Strand, aber an einer anderen Stelle, hält uns der Roman fest an der Kandare. Es kommt zu diversen Aussprachen, wir erfahren, weshalb Kierans Eltern trotz aller Leibe zu ihm, ihm nie verzeihen konnten, dass er den Tod seines Bruders auf dem Gewissen hat. Aber er war nicht Schuld daran. Sein Bruder und sein Geschäftspartner haben nicht wegen Kieran das Boot zu Wasser gelassen und sind dann im Sturm umgekommen. Aber das erfahren wir und Kieran erst viel später, während des großen Showdowns bei stürmender Flut. Die beiden Fälle werden letztendlich restlos aufgeklärt, Kieran und seine Eltern finden ihren Frieden, Mutter und Schwester des verschwundenen Mädchens vor 12 Jahren können die Kleine in ihren Gedanken loslassen, der Polizist, der damals wider sein besseres Wissen, den Mund gehalten hat, um die Gemeinde nicht noch mehr zu beunruhigen, kann nun sein Gewissen entlasten.
Der Krimi endet in einer sehr versöhnlichen Note, fast wie in einem Märchen. Der Bösewicht erhält seine gerechte Strafe, ob Gottesgericht oder weltliche Instanz, die anderen Gestalten können befreit aufatmen und ihr Leben unter geänderten, positiven Voraussetzungen weiterleben.

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Veröffentlicht am 18.09.2022

Eines jener Bücher

Die Stimme meiner Schwester
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Dies ist eines jener Bücher, die man gelesen haben sollte. Es vermittelt fundierte Kenntnisse über eine Zeit und Gesellschaftsschicht, von denen wir in Europa so gut wie gar nichts wissen: es gab Sklaven, ...

Dies ist eines jener Bücher, die man gelesen haben sollte. Es vermittelt fundierte Kenntnisse über eine Zeit und Gesellschaftsschicht, von denen wir in Europa so gut wie gar nichts wissen: es gab Sklaven, die wurden irgendwann befreit, so wie in den USA während des Bürgerkriegs und alles war gut. Mitnichten. Die ehemaligen Sklaven und ihre Nachkommen waren nur dem Namen nach frei. Wie und wo lebten sie? Hatten sie die gleichen Rechte wie die weißen Plantagenbesitzer? Dieses Buch zeigt, wie ehemalige Sklaven zurechtkamen. Es gibt diesen bisher stimmlosen Menschen eine Stimme, beziehungsweise viele Stimmen. Sie haben nun, nach der Freilassung, die Freiheit, die sie so heiß ersehnt hatten, aber vor dem Gesetz sind sie rechtlos. Sie dürfen zwar gerne von einer Fazenda zur anderen ziehen, aber überall sind die Bedingungen gleich. Sie dürfen sich zwar Häuser bauen, aber nur aus Lehm, der erste Regen vernichtet sie wieder. Sie dürfen für Eigenbedarf Gemüse- und Obstgärten anlegen, aber in den Überschwemmungsgebieten der Flüsse oder wo der schlechteste Boden ist. Anbauen dürfen sie nur, nachdem sie auf den Feldern der Gutsbesitzer gearbeitet haben. Und wenn die Zeit ist, die eigenen Gärten abzuernten, kommt der Verwalter und nimmt ihnen die ganze Ernte weg. Wer nicht beizeiten einen Teil seiner eigenen Ernte versteckt, muss mit seinen Kindern hungern. Kinder dürfen diese ehemaligen Sklaven haben, je mehr, je besser, denn das sind nur zukünftige billigste Arbeiter auf den Plantagen. Schulbildung? Brauchen sie nicht, die Kirche und der Faziendero sagt ihnen alles, was sie wissen müssen. Wenn ein Fazendero zu Tode kommt, kommt sofort die Polizei und ermittelt gegen alle und jeden, Verhaftungen, Schläge, Beschuldigungen, alles was die Exekutive leisten kann. Wenn ein Schwarzer getötet wird, vor aller Augen, legt die Polizei den Fall schnell zu den Akten, als Streit unter Alkohol oder Drogeneinfluß und stellt alle Ermittlungen ein.
Den Menschen steht eigentlich eine Rente zu, für die vielen langen Jahre als Löhner auf den Gütern der weißen Grundbesitzer. Aber dafür benötigen sie Papiere, die beweisen, dass sie tatsächlich gearbeitet haben. Nur haben sie immer ohne Verträge und ohne Bezahlung gearbeitet. Für das Bleiberecht und für die Karen aus Lehm haben sie unentgeltlich auf den Feldern gearbeitet. Also können sie nicht ihre Arbeitsjahre belegen. Die wenigsten Fazenderos sind bereit, ihnen solche Dokumente auszustellen. Dabei werden die Schwarze nicht als Nachkommen der Sklaven anerkannt. “Auf diesen Ländereien hat es nie Quilombolas gegeben” (S. 263), äußern sich die Gutsbesitzer, um die Ansprüche der Schwarzen abzuwehren. Wenn die Schwarzen aber belegen können, dass der Besitzer die Grundsteuer für die Fazenda errichtet hat, können sie aufgrund dieser Urkunde, den Rentenantrag stellen. “Eine Kopie der Bescheinigung über die Bezahlung der Grundsteuer durch den Eigentümer wurde von Hand zu Hand gereicht. Sie galt als Nachweis dafür, dass die Älteren auf der Fazenda gearbeitet und somit Anspruch auf eine Rente hatten.” (S. 184)
Schulen? Werden nur unter Druck errichtet. Weil ein schwarzer Heiler das Kind eines Bürgermeisters geheilt hat und der Heiler als Dank und Lohn den Bau einer Schule erbittet, wird die Schule tatsächlich errichtet. Da trägt auch der Fazendero sogar mit dazu bei, aber nur, weil es ihm gerade in den Kram passt, sich wohltätig zu zeigen, zu beweisen, dass er demokratisch denkt und ein großes Herz für die Schwarzen hat.
Die Religion der Schwarzen in Brasilien ist ein faszinierender und eigenartiger Mix aus Elementen des Voodoo, des Christentums und Bruchstücken des alten animistischen Glaubens, den sie aus Afrika mitbrachten. Die Heiler können ihre Körper und Stimmen Geistern zur Verfügung stellen, die merkwürdige Namen tragen: Santa Rita Pescadeira. Eine heilige Rita gibt es im katholischen Glauben, aber sie ergreift nicht Besitz von Frauen oder Männern. Andere Verzauberte heißen Oxóssi, Mâe d’Água - die Meerjungfrau, Ventania - der Sturm. diese Verzauberten begleiten die Menschen und helfen ihnen, mit ihrem schweren Leben fertig zu werden. Aber nur solange die Menschen noch an sie glauben.
Die Heiler tragen zwei Namen: den offiziellen, José Alcino da Silva, aber auch einen Heilernamen, unter dem sie eher bekannt sind: Zeca Chapéu Grande. José Alcino da Silva muss schuften, wie ein Sklave, der er im Grunde immer noch ist, trotz der posaunten Freiheit. Als Zeca Chapeu Grande wird er verehrt, sein Wort hat Gewicht und er ist bestrebt, Gutes zu tun. Er heilt Menschen, nimmt sie unentgeltlich in seinem Haus auf, bis die Behandlung gewirkt hat, er überredet den Bürgermeister, eine Schule zu bauen, ist dabei aber bitterarm und haust mit Frau und Kindern in einer Lehmhütte, die jeder Regen in den Boden spülen kann.
Das Buch ist faszinierend. Die Menschen die da zu Wort kommen, hätten wir sonst nie kennengelernt, In einfachen Sätzen erzählen sie unaufdringlich von ihrem harten Leben, den Entbehrungen und ihren Schmerzen. Das Buch offenbart uns ein Leben, wie wir es uns nie hätten vorstellen können im 20. Jahrhundert.

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Veröffentlicht am 24.08.2022

Ein Kind ist keine Schande!

Die Wunder
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Jung, ledig und schwanger. Bis vor nicht allzulanger Zeit war das auch hierzulande eine Schande für die ganze Familie. Im erzkonservativen Spanien zur Zeit der Diktatur Francos muss das noch schlimmer ...

Jung, ledig und schwanger. Bis vor nicht allzulanger Zeit war das auch hierzulande eine Schande für die ganze Familie. Im erzkonservativen Spanien zur Zeit der Diktatur Francos muss das noch schlimmer gewesen sein. Also lässt María ihre Tochter Carmen bei den Eltern und geht nach Madrid arbeiten. Sie schickt ihr ganzes verdientes Geld zu den Eltern für den Unterhalt der Tochter. Im Urlaub fährt sie heim nach Toledo zu ihrem Kind. Weil sie ihr Kind nur ein- oder zweimal im Jahr sehen kann, entfremdet sie sich dem kleinen Mädchen. Als sie das Kind zu sich nach Madrid holen will, ist die Mutter dagegen. Mit wem soll das Kind bleiben, wenn sie auf Arbeit ist? So wächst Carmen ohne der Mutter auf, wird groß, wird ihrerseits auch schwanger, dieses Mal aber heiratet der Kindsvater die werdende Mutter. Zwei Töchter haben sie gemeinsam, bis sich der Vater umbringt, weil finanziell ruiniert. Nun beginnt der Leidensweg Alicias, Marías Enkeltochter. In der Schule wird sie gemobbt, sie rächt sich in dem sie die Mitschüler bloßstellt. Der Höhepunkt ist wie vier der Mitschüler sie im Festsaal der Schule an einem Balken an einem Fuß aufhängen und sie so stundenlang hängen muss bis eine Lehrerin sie zufällig entdeckt. Älter geworden geht Alicia auch nach Madrid, arbeiten, sich ein eigenes Leben aufbauen. Das Ganze wird in Episoden erzählt, scheinbar lose, unzusammenhängend. Und doch bilden diese Episoden eine Einheit. María und Alicia führen in Madrid ein ähnliches Leben, versuchen sich selbstständig zu machen. María wird nie heiraten, Alicia heiratet zwar, wird aber ihr selbstbestimmtes Leben führen, außereheliche Affären haben. María liest viel, erklärt Pedro die Ideen aus den Büchern, die dann Pedro als seine eigenen im Freundeskreis angibt. Irgendwann wird María sich einer eigenen Frauengruppe anschließen, bei der Stadtverwaltung frauentypische Probleme anbringen. Pedro ist das nicht recht. Er will vor seinen Freunden angeben können, eine intelligente María, die das auch zeigt, würde ihn nur schmälern. Mará spürt, dass seine Aufforderung zusammen zu ziehen, in einem Bus abgehalten, nur darauf abzielt. Er spricht weder von Liebe noch Zuneigung oder Respekt, nur von finanziellen Vorteilen. María erkennt, Pedro geht es nur um Macht über María: “Es geht nicht um Geld, lautet Marías Schlussfolgerung, es geht um Macht. Darum, seinen Freunden - die María irrtümlich auch für die ihren gehalten hatte - zu beweisen, dass er Macht über Maria hat” (S. 203).

Beide Frauen, zwei Generationen entfernt, finden ihren Weg, gut oder schlecht, sie leben so, wie sie es sich vorstellen und wünschen.

Die junge Frau auf dem Titelbild, die dem Betrachter intensiv in die Augen blickt fand ich als Motiv für einen Frauenroman sehr gut gewählt.

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Veröffentlicht am 23.08.2022

“Der künftige Mensch soll entschieden, fleißig und gutherzig sein” (S. 41)

Samson und Nadjeschda
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Dieser Spruch könnte so im Statut jeder kommunistischen Partei weltweit stehen. Er trieft
vor Idealismus, Ignoranz und Unkenntnis des Menschen. Außerdem, es gibt keinen “zukünftigen” Menschen. Es gibt ...

Dieser Spruch könnte so im Statut jeder kommunistischen Partei weltweit stehen. Er trieft
vor Idealismus, Ignoranz und Unkenntnis des Menschen. Außerdem, es gibt keinen “zukünftigen” Menschen. Es gibt nur den Menschen im Hier und Jetzt. Samson, Nadejschda, Najden, die Rotarmisten, die Schneider, die Schuhmacher, die Kosaken und Weißgardisten leben im Hier und Jetzt des Jahres 1919. Der erste Weltkrieg ist gerade zu Ende und das
zaristische Russland erlebt einen schrecklichen Bürgerkrieg, an dessen Ende nichts mehr so sein wird, wie es einmal war. Eine Gesellschaft bricht zusammen, und bis die neue Form an die Stelle treten kann, gibt es Chaos, Gewalt, das Gesetz des Stärkeren. Bolschewiken und Weißrussen leisten sich heftige Kämpfe, fallen wiederholt in Kiew ein, versuchen es zurückzuerobern, ohne Rücksicht auf die Menschen, die hier leben. Mittendrin, Samson. Er hat Elektromaschinenbau studiert und hat allein mit seinem Vater gelebt. Mutter und Schwester starben früher. Kosaken erschlagen seinen Vater und hauen ihm ein Ohr ab, nun
ist Samson auf sich allein gestellt. Er ist der Willkür der neuen Machthaber schutzlos ausgeliefert. Es nisten sich zwei Rotarmisten bei ihm ein, bedienen sich an seinen Sachen und Möbeln. Als sie der Schreibtisch des Vaters stört, wird der einfach von Ihnen der neu
gegründeten Miliz gespendet. Samson rennt seinem Schreibtisch nach, kommt bei der Miliz an und bleibt dort, als neuer Mitarbeiter. So schnell kann das in bewegten Zeiten gehen.
Intelligent, mit einer raschen Auffassungs- und Kombinationsgabe, gelingt es ihm einen Silberschmuggel, Diebstahl und Mord aufzuklären. Dabei, und jetzt nimmt der Roman Züge
des russischen “magischen Realismus” an, kann er mit seinem abgeschlagenen Ohr Gespräche belauschen, die ihn betreffen. So z.B. kriegt er mit, wenn im Büro der Miliz über ihn gesprochen wird, wenn sein Ohr sich dort in einer Schublade befindet. Er wird nun das
Ohr im Zimmer der Rotarmisten in seiner Wohnung verstecken und sie belauschen. Das alles klingt so natürlich, so selbstverständlich. Als ob ein abgeschlagenes Ohr immer in Verbindung mit seinem ehemaligen Besitzer bleibt und seine Funktion weiterhin erfüllt. Erst im Nachhinein überlegt man sich: Wie soll das denn gehen? Aber dem Buch verleiht diese Eigenschaft fantastische Züge, die den Charme des Buches ausmachen.
Als Beweis, dass auch in Bürgerkriegszeiten die Liebe sich nicht unterdrücken lässt, entsteht die zarte Liebesgeschichte zwischen Nadjeschda und Samson. Zwei junge Menschen, die ihre Kräfte einerseits in den Dienst der Bolschewiken stellen, lernen sich kennen dank der Vermittlung der Hausmeisterin von Samson. Nadjeschda ist linientreu, hat den Bolschewismus verinnerlicht, Samson ist eher "menschlich", möchte allen helfen, ohne Ansehen der Person.
Wie ein Terrier, der sich einmal festgebissen hat, kann Samson nicht locker lassen. Er verfolgt seine Fälle bis er alles restlos aufgeklärt hat und der Gerechtigkeit Genüge getan wurde. Sein Glaube an die Gerechtigkeit, jenseits aller Klassenideologie macht Samson so
sympathisch. Nadjeschda eckt mit ihrer sturen Linientreue eher an. Aber sie ist naiv, der
Bolschewismus noch in den Kinderschuhen, Stalins Terror noch einige Jahre weg. Es wäre interessant zu beobachten, wie sich Nadjeschda weiter entwickeln wird.
Der lineare Erzählstil, der manchmal rasant die dramatischen Geschehnisse schildert, wird
dann, in den Szenen mit Nadjeschda und ihrer Familie oder der Hausmeisterin, wieder sanft und warm. Andrej Kurkow reiht sich nahtlos in die lange Tradition der großartigen russischsprachigen Literatur ein. Der Roman trägt Wesenszüge der Literatur von Solschenizyn, Pasternak und Bulgakov.
Abschließend sei gesagt: Kiew hat in Moskau schon immer Begehrlichkeiten geweckt, schon seit Iwan des Schrecklichen Zeiten. Es folgte dann Stalin der Schreckliche und heute ist es Putin der Schreckliche, der seine Hände nicht von der Ukraine und Kiew lassen kann.

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