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Veröffentlicht am 21.11.2016

Subtile psychologische Spannung! Ein großartiger Roman!

Girl on the Train - Du kennst sie nicht, aber sie kennt dich.
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Inhalt:
Obwohl die 34-jährige Rachel wegen ihrer Alkoholsucht längst ihren Job verloren hat, pendelt sie jeden Morgen mit dem Zug nach London und abends wieder zurück. Sie will den Schein wahren, dass ...

Inhalt:


Obwohl die 34-jährige Rachel wegen ihrer Alkoholsucht längst ihren Job verloren hat, pendelt sie jeden Morgen mit dem Zug nach London und abends wieder zurück. Sie will den Schein wahren, dass sie ihr Leben noch immer im Griff hat, obwohl es ihr längst aus den Händen geglitten ist. Der Zug hält jeden Tag für mehrere Minuten an der gleichen Stelle an. Rachel nutzt diese Zeit, um aus dem Zugfenster heraus die Bewohner eines Hauses zu beobachten und sich in deren Leben zu träumen. In dem Haus an der Bahnstrecke wohnt ein kinderloses Paar, das ein perfektes und glückliches Leben zu führen scheint – ein Leben, das Rachel schmerzlich vermisst, denn ihres liegt längst in Trümmern. Sie kennt dieses Paar nicht, nennt sie in ihren Gedanken Jason und Jess und fantasiert sich täglich in deren scheinbar harmonisches Idyll. Auch Rachel war einst glücklich und lebte bis vor ein paar Jahren mit ihrem Mann Tom ganz in der Nähe dieses Hauses, dessen Bewohner sie nun beobachtet.

" Die beiden sind wirklich füreinander geschaffen, sie sind ein gutes Gespann. Sie sind glücklich, das sehe ich ihnen an. Sie sind das, was ich früher war. Sie sind Tom und ich vor fünf Jahren. Sie sind, was ich verloren habe; alles, was ich gerne wäre." (S. 23)

Zu ihrem Entsetzen sieht sie jedoch eines Tages, wie ihre vermeintlich perfekte „Jess“ im Garten einen fremden Mann küsst. Rachel ist schockiert, nimmt diesen Betrug, der ihren Traum jäh zerstört, so persönlich, dass sie sich wieder einmal betrinkt. Wenn sie betrunken ist, tut sie häufig Dinge, die ihr hinterher peinlich sind, kann sich jedoch oft gar nicht mehr an die Details erinnern. Ständig traktiert sie ihren Exmann und dessen neue Ehefrau Anna mit Anrufen oder taucht vor ihrem ehemaligen Zuhause auf, um das Gespräch mit Tom zu suchen.
Ein Tag, nachdem sie ihre „Jess“ mit dem fremden Mann beobachtet hatte, verschwindet diese Frau plötzlich spurlos. Aus der Zeitung erfährt Rachel, dass die Frau Megan heißt und vermisst wird. Just am Abend ihres Verschwindens hatte sich Rachel wieder einmal vollkommen betrunken in der Gegend aufgehalten, erwachte am nächsten Tag verkatert und mit einer Platzwunde über dem Auge, hat aber einen Filmriss und kann sich nicht mehr erinnern, was in der Nacht zuvor passiert war. Da sie von Anna in der Nähe von Megans Zuhause gesehen wurde, steht bald die Polizei vor ihrer Tür. Rachel wird zwar nicht verdächtigt, aber als sie den Beamten erzählt, am Tag zuvor gesehen zu haben, dass Megan einen fremden Mann geküsst hat, will man den Beobachtungen der offenbar schwer alkoholkranken und psychisch instabilen Frau keinen Glauben schenken. Doch Rachel lässt Megans Verschwinden keine Ruhe, sie will wissen, was in jener Nacht vorgefallen ist und versucht, aus ihren vagen und alkoholumnebelten Erinnerungen Stück für Stück die Wahrheit zu rekonstruieren…

Meine persönliche Meinung:


Seit mehr als einem Jahr liegt Girl on the Train nun schon auf meinem Stapel ungelesener Bücher. Inzwischen wurde der Roman verfilmt und der Film startete am 27. Oktober 2016 in den deutschen Kinos. An diesem Buch scheinen sich die Geister wahrlich zu scheiden – die einen finden es todlangweilig, die anderen mitreißend und ergreifend und während die einen von der Hauptprotagonistin genervt, teilweise sogar angeekelt waren, fanden die anderen ihr Schicksal erschütternd. Es war also an der Zeit, mir nun endlich ein eigenes Urteil zu bilden, denn je kontroverser ein Buch diskutiert wird, umso gespannter bin ich darauf.
Paula Hawkins macht es dem Leser wirklich nicht gerade sehr leicht, ihre Hauptprotagonistin Rachel zu mögen. Sie ist schon etwas anstrengend und man möchte sie manchmal einfach schütteln, ihr die Flasche wegnehmen und sie bitten, endlich mit der Sauferei aufzuhören. Ihre Alkoholexzesse werden häufig sehr drastisch geschildert, und es ist wirklich erschütternd, wie ihr Umfeld darauf reagiert. Niemand scheint Rachel noch ernst zu nehmen, niemand glaubt ihr, als sie ihre Beobachtungen schildert, teilweise sind die Menschen regelrecht angewidert von ihr, aber das Schlimmste ist, dass sie auch ihre Selbstachtung und den Respekt vor sich selbst verloren hat. Da sie ihre Erlebnisse aus der Ich-Perspektive schildert, kommt ihr der Leser sehr nahe und kennt all ihre Gedanken und Emotionen. Sie hat die Trennung von ihrem Mann nie überwunden und liebt ihn immer noch, obwohl er sie betrogen hat. Sie kann und will nicht akzeptieren, dass Tom nun mit seiner neuen Frau und seinem Kind in dem Haus lebt, in dem sie einst mit ihm glücklich war. Getrunken hat sie jedoch schon während ihrer Ehe, da ihr geradezu zwanghafter Kinderwunsch unerfüllt blieb und sie in die Depression trieb. Einerseits war ich sehr ergriffen und hatte Mitleid mit Rachel, konnte ihr Verzweiflung und Einsamkeit sehr gut nachfühlen, aber andererseits war ihr selbstzerstörerisches Verhalten manchmal nur schwer zu ertragen.
All ihre eigenen Sehnsüchte und Träume von Glück und Harmonie überträgt sie nun auf das Paar, das sie jeden Morgen vom Zug aus beobachtet und ist natürlich umso schockierter, als sie feststellen muss, dass diese Frau, die sie „Jess“ nennt und in der sie sich selbst wiederzuerkennen glaubte, ihren Mann ganz offensichtlich betrügt. Als diese Frau plötzlich verschwindet, will Rachel herausfinden, was in der Nacht ihres Verschwindens passiert ist und verstrickt sich dabei in geradezu hanebüchene Lügen. Da sie eigentlich nur selten nüchtern ist, sind ihre Handlungen häufig sehr schwer nachvollziehbar, auch wenn sie in ihrem Kopf durchaus Sinn zu machen scheinen. Ihre Gedankengänge wirken oft sehr abstrus, und manchmal hätte ich sie am liebsten aufgehalten und gebeten, sich einfach aus den Angelegenheiten dieser ihr vollkommen fremden Menschen herauszuhalten. Trotzdem war ich natürlich gespannt darauf, zu erfahren, welches Geheimnis hinter Megans Verschwinden steckt.
Die Spannung dieses Romans beruht nicht zuletzt auf der unzuverlässigen Erzählweise, bei der das, was Rachel denkt und zu wissen glaubt, immer wieder in Frage gestellt werden muss. Allerdings werden die Geschehnisse nicht nur aus Rachels, sondern auch aus der Ich-Perspektive von Megan und Anna, Toms neuer Ehefrau, geschildert. Dabei wird der Handlungsverlauf nicht chronologisch-linear erzählt, denn während man die Ereignisse der Gegenwart aus der Perspektive von Rachel und Anna erfährt, wirft man mit Megan einen Blick in die Vergangenheit und in die Wochen vor ihrem Verschwinden. Jedes Kapitel beginnt mit einer Datumsangabe, die man im Auge behalten sollte, denn sonst ist es kaum möglich, den Überblick zu behalten. Diese Erzählweise ist sehr raffiniert und gut durchdacht, denn auch Megan und Anna haben keineswegs einen unvoreingenommenen Blick auf die Ereignisse, sodass der Leser an der Glaubwürdigkeit aller drei Protagonistinnen zweifeln muss und aufgrund ihrer unterschiedlichen Beurteilungen immer wieder neue Vermutungen anstellt. Die männlichen Protagonisten bleiben allerdings recht konturlos und auch rätselhaft, da man sie nur aus der Perspektive der drei Frauen kennenlernt und jede von ihnen eben einen anderen Eindruck vermittelt. Obwohl das Personal in diesem Roman und damit der Kreis der Verdächtigen recht überschaubar ist, wusste ich bis zum Schluss nicht, wer hinter Megans Verschwinden steckt, wie die Ereignisse nun zusammenhängen und musste alle Mutmaßungen, die ich anhand der widersprüchlichen Wahrnehmungen der Protagonistinnen angestellt hatte, wieder verwerfen. Von der Auflösung war ich mehr als überrascht, aber am Schluss ergibt sich trotz aller Verwirrspiele ein logisches und schlüssiges Ganzes.
Ich kann verstehen, dass all jene, die einen temporeichen Thriller erwartet haben, etwas enttäuscht sind, denn Paula Hawkins Erzählstil ist eher gemächlich. Auf dem Cover wird Girl on the Train jedoch auch nicht als Thriller, sondern als Roman bezeichnet, und gemächlich bedeutet nicht, dass das Buch jemals langweilig geworden wäre. Auch die düstere und triste Grundstimmung dieses Romans ist sicher Geschmacksache, hat mir allerdings ausgesprochen gut gefallen. Paula Hawkins beweist in diesem Roman, ein enormes Einfühlungsvermögen in ihre wirklich brillant ausgearbeiteten Figuren und schafft es, eine subtile, psychologische Spannung aufzubauen, die mich bis zum Schluss fesseln konnte. Für mich war Girl on the Train ein anspruchsvolles, tiefgründiges und dennoch packendes Leseerlebnis. Da ich von Romanverfilmungen meistens enttäuscht bin, weiß ich allerdings noch nicht, ob ich mir nun auch den Film anschauen werde.

Veröffentlicht am 19.11.2016

Ein durchgehend spannender und raffiniert komponierter Psychothriller

Kalte Erinnerung
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ch war sehr gespannt auf Patricia Walters Thrillerdebüt Kalte Erinnerung, denn der Klappentext klang sehr spannend. Zugegebenermaßen scheint die Grundidee des Buches auf den ersten Blick nicht besonders ...

ch war sehr gespannt auf Patricia Walters Thrillerdebüt Kalte Erinnerung, denn der Klappentext klang sehr spannend. Zugegebenermaßen scheint die Grundidee des Buches auf den ersten Blick nicht besonders originell zu sein, ist aber durchaus solide und hat Potenzial für einen packenden Thriller, sodass ich sehr gespannt war, ob es der Autorin gelingt, diese Idee innovativ und fesselnd umzusetzen. Soviel sei vorneweg gesagt – es ist ihr ausgesprochen gut gelungen. Ich habe diesen Thriller innerhalb weniger Stunden in einem Rutsch durchgelesen, regelrecht verschlungen und erst wieder aus der Hand gelegt, als ich wusste, wie diese packende und beklemmende Geschichte endet. Die Autorin versteht es, von der ersten Seite an eine enorme Spannung aufzubauen, diese durchgängig auf einem hohen Level zu halten und am Ende sogar noch zu steigern. Durch die kurzen Kapitel und den flüssigen Schreibstil, der sich angenehm und zügig lesen lässt, fliegt man förmlich durch die Seiten, und da jedes Kapitel mit einem Cliffhanger endet, konnte ich gar nicht aufhören zu lesen.
Patricia Walter hat die Protagonisten ihres Psychothrillers sehr gut ausgearbeitet und präzise gezeichnet. Das ganze Buch ist aus der Perspektive der Hauptprotagonistin Zoe erzählt, sodass man ihr natürlich besonders nahekommt und ihre Ängste hautnah miterlebt. Diese sind so authentisch und nachvollziehbar geschildert, dass ich mich sehr gut in diese Frau hineinversetzen konnte und natürlich auch mit ihr mitfieberte. Die bedrohliche Situation, in der sie sich befindet, war auf jeder Seite spürbar und sorgte für beklemmende Momente und eine nicht nachlassende Spannung.
Alle anderen Figuren lernt man nur aus Zoes Perspektive kennen und bleiben bis zum Schluss äußerst rätselhaft und mysteriös. Man weiß, dass der unbekannte Anrufer, der Zoe mit verzerrter Stimme bedroht, jemand sein muss, der sie offenbar gut kennt und aus ihrem beruflichen oder privaten Umfeld stammen muss. Der Verdacht wird sehr geschickt immer wieder auf eine andere Person gelenkt, sodass ich bis zum Schluss keine Ahnung hatte, wer dahinterstecken könnte. Da ein klassischer Bösewicht oder ein Protagonist, der gänzlich unsympathisch wäre, vollkommen fehlt, war ich, ebenso wie Zoe, immer wieder hin- und hergerissen und fragte mich, ob sie manchen Personen nicht vielleicht doch vertrauen könnte, denn viele Verdächtige hatten auch sehr liebenswürdige Charakterzüge, sodass ich geneigt war, jeden Verdacht wieder zu verwerfen. Nur eine Figur war mir nahezu durchgängig suspekt, aber ich konnte beim besten Willen kein Motiv erkennen. Anhand dieses Charakters wird auch sehr gut deutlich, dass man sich häufig zu vorschnell eine Meinung von einem Menschen bildet, ohne die Hintergründe seines Verhaltens zu kennen.
Die Autorin hat es äußerst geschickt verstanden, mich stets aufs Neue in die Irre zu führen und auf falsche Fährten zu locken. Allerdings hatte ich gegen Ende des Buches die Befürchtung, dass der ganze Plot nun so verzwickt ist, dass er sich gar nicht mehr logisch und nachvollziehbar auflösen lässt, ohne dass ein an den Haaren herbeigezogener Zufall oder eine bisher gar nicht in Erscheinung getretene Figur aus dem Ärmel gezaubert wird. Sowas macht mich immer ziemlich wütend, denn dann fühle ich mich von einem Autor hinters Licht geführt, und auch Logikbrüche verzeihe ich im Krimi- und Thrillergenre nicht. Aber all meine Befürchtungen haben sich glücklicherweise als unbegründet herausgestellt. Als ich dann wusste, wer der Täter ist, war ich sehr überrascht, denn mit dieser Auflösung hätte ich niemals gerechnet. Trotzdem hatte ich noch viele offene Fragen, da vieles für mich noch immer keinen Sinn ergab. Aber auch hier hat mich die Autorin nicht enttäuscht, denn am Schluss wurden all meine Fragen logisch und schlüssig beantwortet. Ich habe im Thrillergenre wirklich selten eine so gut durchdachte und bis ins kleinste Detail ausgefeilte Geschichte gelesen, die gleichzeitig auch durchgehend spannend war und keine Längen aufwies. Patricia Walter verzichtet vollkommen auf blutige und brutale Szenen, sondern setzt vielmehr auf psychologische Spannung, sodass auch zartbesaitete Gemüter ihre Freude an diesem Buch haben werden.
Ich kann Kalte Erinnerung von Patricia Walter jedem ans Herz legen, der gut durchdachte und raffiniert komponierte Psychothriller mag und spannend und intelligent unterhalten werden möchte und würde mich nach diesem großartigen Debüt freuen, bald noch mehr von dieser Autorin lesen zu dürfen.

Veröffentlicht am 15.11.2016

Ein erschütternder, herausragender, innovativer und auch literarisch hochwertiger Thriller

Sorry
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Inhalt:
Bislang waren Kris, sein Bruder Wolf, Frauke und Tamara in ihrem Leben nicht sehr erfolgreich, hangelten sich von Job zu Job, sind immer wieder gescheitert und haben es nie geschafft, beruflich ...

Inhalt:


Bislang waren Kris, sein Bruder Wolf, Frauke und Tamara in ihrem Leben nicht sehr erfolgreich, hangelten sich von Job zu Job, sind immer wieder gescheitert und haben es nie geschafft, beruflich richtig Fuß zu fassen. Doch als sie eines Abends zusammensitzen und über den Sinn des Lebens philosophieren, hat Kris eine neue Geschäftsidee. Tagtäglich wird gelogen und betrogen, Menschen werden erniedrigt, verletzt und beleidigt, aber kaum jemand ist in der Lage, sich zu entschuldigen. Selbst wenn man sich seines Fehlverhaltens bewusst wird und einsieht, dass man sich falsch verhalten hat, schafft man es nicht, um Verzeihung zu bitten, sodass die Schuld für immer am Gewissen nagt. Und so beschließen die vier Freunde, eine Agentur für Entschuldigungen zu gründen und sich im Namen ihrer Klienten zu entschuldigen. Sie schalten eine Anzeige und schon kurz darauf melden sich die ersten Interessenten.
Die vier Freunde haben mit ihrer Geschäftsidee erstaunlich schnell Erfolg, denn offenbar haben viele Menschen das Bedürfnis, auf diese Weise ihr Gewissen zu erleichtern. Schon bald können sie eine alte Villa am Kleinen Wannsee kaufen, gemeinsam dort einziehen und ihre florierende Agentur betreiben. Doch ihre Glückssträhne reißt ab, als sie eines Tages von einem Klienten gebeten werden, sich in seinem Namen bei einer Toten zu entschuldigen, der unsägliche Qualen zugefügt wurden, bevor sie starb. Er geht mit seiner Forderung noch weiter, denn er beauftragt die Agentur „Sorry“ auch, die Leiche zu entsorgen. Kris, Wolf, Frauke und Tamara bleibt nichts anderes übrig, als sich seinem Willen zu beugen, denn ihr Kunde lässt sie wissen, dass er alles von ihnen weiß und nicht davor zurückschrecken wird, ihre Familien zu besuchen. Sie müssen sich auf sein perfides Spiel einlassen, wenn sie ihre Liebsten beschützen wollen – und dieses grausame Spiel ist noch lange nicht vorbei.

Meine persönliche Meinung:


Ich habe erst vor ein paar Monaten Zoran Drvenkars Thriller Still gelesen, ein Buch, das mich zwar häufig an die Grenzen dessen brachte, was ich ertragen kann, aber mir noch lange im Gedächtnis bleiben wird und in jeder Hinsicht grandios, originell und innovativ war. Da Still vor allem sprachlich und stilistisch wirklich herausragend war und man im Thriller-Genre nur sehr selten Bücher findet, die literarisch so hochwertig sind, war ich nun auch sehr gespannt auf Sorry, das Buch, für das Drvenkar 2010 mit dem renommierten Friedrich-Glauser-Preis in der Sparte Roman ausgezeichnet wurde.
Ich habe bereits auf den ersten Seiten gemerkt, dass es sich auch bei Sorry um einen Thriller handelt, der sich deutlich von anderen Büchern dieses Genres abhebt. Außergewöhnlich ist nicht nur das hohe sprachliche Niveau, sondern auch die formale und stilistische Originalität. Das mag zunächst etwas verwirren, weil man es eben nicht gewohnt ist, aber dennoch war ich sofort von diesem Buch gefangen, was nicht zuletzt an Drvenkars Sprachstil liegt, der zwar äußerst poetisch, aber auch so knapp, eindringlich und ungemein intensiv ist, dass man sich seinem Sog kaum entziehen kann und in die Abgründigkeit der Geschichte förmlich hineingezogen wird. Ich bin nach wie vor ein großer Anhänger der alten deutschen Rechtschreibung, fand es sehr sympathisch, dass Drvenkars 2014 erschienenes Buch Still auf ausdrücklichen Wunsch des Autors in der alten deutschen Rechtschreibung gesetzt wurde und er bereits 2009 in Sorry an dieser Schreibweise festhielt. Eine weitere Eigenheit des Autors besteht darin, wörtliche Rede nicht in Anführungszeichen zu setzen, sondern sie mit Spiegelstrichen kenntlich zu machen, was zunächst allerdings etwas gewöhnungsbedürftig ist.
Ungewöhnlich ist aber vor allem die formale Struktur des Textes, denn die Kapitel sind mit „Dazwischen“, „Davor“, „Danach“, „Du“, „Kris“, „Tamara“, „Frauke“, „Wolf“ und „Der Mann, der nicht da war“ überschrieben, wechseln also zwischen mehreren Zeitebenen und werden abwechselnd aus der Sicht der vier Freunde, des Mörders und einer weiteren unbekannten Person geschildert. Bis zum Schluss weiß man nicht, wer sich hinter „Du“ und dem „Mann, der nicht da war“ verbirgt. Allerdings weiß man, dass es sich bei den Du-Kapiteln nur um die Perspektive des Mörders handeln kann. Besonders verstörend an diesen Kapiteln ist, dass sie in der zweiten Person Singular geschrieben sind, der Mörder den Leser also direkt anspricht. Damit wird eine äußerst unbehagliche Nähe und Vertrautheit zu dem unbekannten und brutalen Mörder erzeugt, was überaus irritierend und befremdlich ist.
Da ich ja bereits Still gelesen hatte, wusste ich ungefähr, worauf ich mich einlasse, und da der Autor zugibt, beim Schreiben selbst Angst vor seinem Buch gehabt zu haben, ist es nicht verwunderlich, dass auch ich bereits auf den ersten Seiten von Sorry schockiert war. Drvenkars Thriller sind wirklich nur für äußerst nervenstarke Leser geeignet, denn im weiteren Verlauf der Erzählung sollte es noch weitaus schlimmer kommen als bei dem Mord, der zu Beginn des Buches geschildert wird. Zweifellos ist Kindesmissbrauch eine der schlimmsten Perversionen, zu der Menschen fähig sind. Es ist ein Thema, das nur schwer zu ertragen ist, über das aber eben auch so eindrücklich geschrieben werden muss, dass es unerträglich ist. Es muss geradezu wehtun und aufs Äußerste erschüttern, wenn man sich mit dieser Thematik literarisch auseinandersetzt, denn nur so kann das unsägliche Leid, das diesen Kindern angetan wurde, deutlich werden. Drvenkar verzichtet darauf, Gewalt und Missbrauch detailliert zu beschreiben, setzt nicht auf effekthascherische Brutalität, die allenfalls platt, aber keineswegs erschütternd wäre. Stattdessen schafft er es mit seiner intensiven Sprache, mit der er fast beiläufig Einblicke in die schlimmsten Abgründe der menschlichen Seele gewährt, dass das Erzählte umso verstörender und schockierender wirkt. Das Grauen, das häufig nur angedeutet wird und zwischen den Zeilen steht, sich wie ein Film im Kopf des Lesers abspielt, ist viel ergreifender und wirkungsvoller als es detaillierte Gewaltbeschreibungen jemals sein könnten. Das muss man aushalten können, weshalb ich zartbesaiteten Gemütern eher abraten würde, Drvenkars Bücher zu lesen.
Da die Perspektive des Mörders in der zweiten Person erzählt wird und er dem Leser damit unangenehm nahekommt, begleitet man ihn nicht nur bei der Durchführung seiner Morde, sondern assistiert ihm geradezu, was auch mehr als verstörend ist. Besonders irritierend ist jedoch, dass die Grenzen zwischen Opfern und Tätern, zwischen Gut und Böse immer wieder verschwimmen und man die abscheulichen Taten des Mörders am Ende des Buches auf erschreckende Weise verstehen und nachvollziehen kann.
Während der Täter mit der Agentur „Sorry“ sein perfides Spiel spielt, wird jeder der vier Freunde auch mit seinen eigenen Abgründen und auch immer wieder mit dem Thema Schuld konfrontiert. Wirklich sympathisch war mir leider keiner dieser vier Hauptprotagonisten. Bereits ihre hirnrissige Geschäftsidee fand ich schon von Anfang an sehr fragwürdig, da Vergebung meiner Meinung nach nur persönlich und niemals über Dritte erfolgen kann und wahre Reue auch auf innerer Einsicht und aufrichtigem Eingeständnis der Schuld beruht und deshalb keine Dienstleistung sein kann, für die man einen Außenstehenden bezahlt. Ich fand es äußerst anmaßend, dass sich die vier Freunde als Vermittler zwischen Schuld und Reue verstehen und aus dem schlechten Gewissen anderer ihren Profit ziehen wollen. Manchmal war ich mir auch nicht sicher, ob nicht einer von ihnen der Täter sein könnte. Der Autor hat jeden der vier Freunde zwar sehr präzise gezeichnet, aber dennoch blieben sie bis zum Schluss undurchschaubar und waren mir stets ein wenig suspekt. Leider waren auch ihre Handlungen manchmal weder logisch noch nachvollziehbar. Der ständige Zeit- und Perspektivwechsel führt auch dazu, dass der Plot häufig etwas konfus wirkt. Doch am Ende fügen sich alle Puzzleteile zu einem schlüssigen Ganzen zusammen.
Im Zentrum der Handlung steht immer wieder die Frage um Schuld, Strafe, Reue und Vergebung, und am Ende stand für mich die Erkenntnis, dass es Taten gibt, für die es keine Entschuldigungen geben kann und die niemals vergeben werden können.
Für mich war Sorry ein in jeder Hinsicht herausragender und innovativer Thriller von hoher literarischer Qualität, den man nicht mehr vergessen wird, auch wenn oder gerade weil er dem Leser einiges abverlangt und ihn aufs Äußerste erschüttert.

Veröffentlicht am 11.10.2016

Wenn ein Junggesellinnenabschied zum mörderischen Alptraum wird... Ein spannendes und beklemmendes Thriller-Debüt!

Im dunklen, dunklen Wald
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Inhalt:
Die sechsundzwanzigjährige Schriftstellerin Nora erwacht schwerverletzt im Krankenhaus und hat keine Erinnerungen mehr an das, was in den letzten Stunden passiert ist. Sie weiß nur, dass sie das ...

Inhalt:


Die sechsundzwanzigjährige Schriftstellerin Nora erwacht schwerverletzt im Krankenhaus und hat keine Erinnerungen mehr an das, was in den letzten Stunden passiert ist. Sie weiß nur, dass sie das vergangene Wochenende auf dem Junggesellinnenabschied ihrer ehemals besten Freundin Clare verbracht hat und dort etwas Schreckliches vorgefallen sein muss. Sie hatte bereits ein ungutes Gefühl, als sie die Einladung zu diesem Partywochenende erhielt, denn seit mehr als zehn Jahren hatte sie keinen Kontakt mehr zu Clare. Nora hatte jede Brücke zu ihrer Vergangenheit abreißen lassen, um nicht mehr an die schmerzhaften Erlebnisse in ihrer Jugend zurückdenken zu müssen, über die sie bis heute nicht hinwegkam. Allerdings hatte sie Clare eigentlich nichts vorzuwerfen, sodass sie sich schließlich doch überreden lässt, an dem Junggesellinnenabschied in Northumberland teilzunehmen. Doch schon als sie in dem abgeschiedenen Haus inmitten des dunklen Waldes ankommt, bereut sie diese Entscheidung. Allerdings ahnt sie zu diesem Zeitpunkt noch nicht, dass sich das geplante Partywochenende zu einem mörderischen Alptraum entwickeln wird…

Meine persönliche Meinung:


In der Buchhandlung wäre ich sicher an diesem Buch vorbeigelaufen, denn das Cover finde ich leider nicht besonders ansprechend, aber die Buchbeschreibung in der Verlagsvorschau klang sehr verlockend und die Leseprobe war so spannend, dass ich am liebsten sofort weitergelesen hätte. Umso mehr habe ich mich gefreut, dass ich bei vorablesen.de ein Leseexemplar von Ruth Wares Debüt Im dunklen, dunklen Wald gewonnen habe und schnell herausfinden konnte, wie dieser packende Thriller nun weitergeht.
Das Buch setzt ein, als Nora schwerverletzt im Krankenhaus aufwacht, aber nicht mehr weiß, was passiert ist. Die ganze Geschichte wird aus der Ich-Perspektive der Hauptprotagonistin erzählt, die nun ihre Erinnerungen an die Geschehnisse der letzten Tage zurückgewinnen will. Nora weiß nur noch, dass sie das vergangene Wochenende in einem einsam gelegenen Haus im Wald verbracht hat, um dort in einer kleinen Gruppe den Junggesellinnenabschied ihrer Jugendfreundin Clare zu feiern und dort etwas Schreckliches vorgefallen sein muss. Gemeinsam mit Nora wirft der Leser nun einen Blick zurück und versucht die Ereignisse Stück für Stück zu rekonstruieren. Man weiß, dass Noras Jugend von einem traurigen Erlebnis überschattet wurde, das sie unbedingt vergessen wollte. Doch nun wurde sie wieder von ihrer Vergangenheit eingeholt, als sie mit ihrer ehemals besten Freundin aus Jugendtagen zusammentrifft. Als Clare ihr gleich bei ihrer Ankunft mitteilt, wen sie heiraten möchte, ahnt man, dass ihre traumatischen Jugenderinnerungen mit diesem Mann in Verbindung stehen müssen, aber was Nora vor mehr als zehn Jahren passiert ist, erfährt man zunächst nicht. Man weiß nur, dass sie über diesen Mann offenbar nie hinweggekommen ist, und obwohl man erst am Ende erfährt, was vorgefallen ist, fand ich ihre Erinnerungen an ihre Jugendliebe sehr berührend und konnte den Schmerz, den sie noch immer empfindet, sehr gut nachvollziehen.
Nicht nachvollziehen konnte ich jedoch, warum sie sich diesen Qualen überhaupt aussetzt, nicht einfach wieder abreist oder sich gegen die ständigen Sticheleien der anderen Partygäste nicht wenigstens zur Wehr setzt. Stattdessen lässt sie alle unsinnigen und teilweise auch erniedrigenden Spielchen über sich ergehen und verhält sich weitgehend passiv. Nachdem Clare ihr verkündet, wen sie heiraten wird, ist ein unbeschwertes Partywochenende ohnehin nicht mehr möglich, aber die anderen Anwesenden machen den Aufenthalt an diesem unwirtlichen Ort für Nora geradezu unerträglich. Immer wieder muss sie sich gegen die Sticheleien der anderen durchsetzen. Vor allem Flo, Clares beste Freundin, verhält sich sehr eigenartig, ist völlig überspannt und neigt zu hysterischen Ausbrüchen. Sie scheint Clare zu vergöttern, hat sich in den Kopf gesetzt, ein perfektes Wochenende für sie zu organisieren und verliert vollkommen die Fassung, wenn ihren Plänen etwas zuwiderläuft. Clares Verhalten ist auch äußerst rätselhaft, sodass sich Nora immer wieder fragt, warum sie überhaupt eingeladen wurde. Selbst die schlagfertige Nina, die Nora noch aus Schulzeiten kennt und deren Sarkasmus eigentlich recht liebenswürdig ist, versucht immer wieder Zwietracht zu säen und schmerzhafte Erinnerungen heraufzubeschwören. Und dann ist da noch Clares schwuler Freund Tom, der recht eigentümliche Vorstellungen von Humor und einer gelungenen Party hat, und die etwas dümmliche Melanie, die den Junggesellinnenabschied vorzeitig verlassen will, weil sie sich Sorgen um ihr Baby macht. Diese sechs Menschen sind nun dazu verdonnert, gemeinsam ein paar Tage in einem abgelegenen Haus zu verbringen, und man ahnt schnell, dass diese Party aus dem Ruder laufen wird. Die Autorin hat alle Charaktere sehr gut ausgearbeitet, wobei der Leser durch die gewählte Ich-Perspektive nur Nora wirklich nahekommt. Gemeinsam mit ihr durchlebt man dieses Wochenende nun noch einmal, erfährt schon zu Beginn des Buches, dass sich die Situation im Haus offenbar immer mehr zuspitzte und es schließlich sogar einen Toten gab, aber wer dieses dramatische Wochenende nicht überlebt hat und warum, entschlüsselt sich erst ganz am Ende dieses Thrillers. Man tappt also ebenso im Dunkeln wie Nora, wird immer wieder gekonnt auf die falsche Fährte gelockt und kann die bedrohliche Atmosphäre, die in diesem Haus geherrscht hat, sehr gut nachvollziehen.
Auch das Setting sorgt für beklemmende und wirklich gruselige Momente. Natürlich ist die Idee, die Handlung eines Thrillers in einem abgelegenen Haus im Wald anzusiedeln, nicht gerade innovativ, aber die Autorin hat dieses Haus noch mit ein paar architektonischen Besonderheiten ausgestattet, die es noch unheimlicher erscheinen lassen. Es entbehrt jeglicher Gemütlichkeit und ist vollkommen aus Glas, sodass man, wenn es dunkel wird und im Haus Licht brennt, ständig das Gefühl hat, beobachtet zu werden. Nora fühlt sich abends ausgestellt wie ein Tier im Zoo, denn nachts sieht man nicht nach draußen. Selbstverständlich gibt es keinen Handyempfang und auch die Festnetzleitung ist tot. Hinzu kommt, dass sie vor dem Haus rätselhafte Spuren im frischen Schnee findet, obwohl offenbar niemand das Haus verlassen hat. Die Autorin greift also auf bekannte und bewährte Zutaten zurück, um die Atmosphäre so bedrohlich wie möglich zu gestalten. Dies mag abgedroschen sein, funktioniert aber dennoch, denn ich hielt beim Lesen häufig den Atem an und konnte die Beklemmung, die von diesem Gebäude und auch den anwesenden Personen ausgeht, förmlich spüren.
Ruth Ware überzeugte mich jedoch nicht nur mit ihren gelungenen Charakterzeichnungen und der klaustrophobischen Stimmung, sondern auch mit einem raffiniert ausgeklügelten Plot, der sich am Ende stimmig und vollkommen überraschend auflöst. Sie baut gekonnt eine subtile Spannung auf, kann sie durchweg halten und lässt das Tempo dieses ansonsten eher ruhigen Thrillers auf der Zielgeraden ordentlich ansteigen. Obwohl die Autorin auf brutale, actionreiche und blutige Szenarien vollkommen verzichtet, kann dieser Thriller mit einigen Schockmomenten aufwarten und bereitete mir sehr spannende und zuweilen auch recht gruselige Lesestunden.

Veröffentlicht am 29.09.2016

Eine gelungene Mischung aus packendem Thriller und geheimnisvollem Familiendrama

Anders
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Ich muss zugeben, dass ich von Anita Terpstras Anders nicht allzu viel erwartet habe, denn es ist das erste Buch der Niederländerin, das auch in Deutschland erschien, sodass ich die Autorin bislang nicht ...

Ich muss zugeben, dass ich von Anita Terpstras Anders nicht allzu viel erwartet habe, denn es ist das erste Buch der Niederländerin, das auch in Deutschland erschien, sodass ich die Autorin bislang nicht kannte, und der Klappentext klingt nicht gerade nach einer besonders originellen oder neuen Idee. Ich weiß nicht, wie viele Thriller über verschwundene Kinder ich schon gelesen habe, aber das Thema ist inzwischen so ausgelutscht, dass ich nicht damit gerechnet hätte, dass mich dieses Buch noch überraschen könnte. Anita Terpstra hat es aber geschafft, mich wirklich von Hocker zu reißen, denn es ist ihr gelungen, diese nicht gerade innovative Grundidee originell und überaus spannend umzusetzen und dem Thema die nötige Würze zu verleihen, sodass Anders im wahrsten Sinne des Wortes wirklich vollkommen anders war, als ich vermutet hätte.
Der Einstieg in die Geschichte fiel mir sehr leicht. Auf den ersten Seiten begleitet man zunächst Alma, die im Wald in der Nähe des Ferienlagers verzweifelt nach ihrem Kind sucht, taucht dabei in die Gedanken der besorgten Mutter ein und durchlebt auch ihre Ängste. Der Freund ihres Sohnes wurde bereits tot aufgefunden, aber von Sander fehlt noch immer jede Spur. Allerdings erblickt sie bei ihrer Suche zwischen den Bäumen einen rätselhaften Mann.
Dann springt die Handlung sechs Jahre nach vorn in die Gegenwart, als ein junger Mann die Leiche des Mannes begräbt, bei dem er in einer einsamen Hütte im Wald gelebt hatte. Danach meldet er sich bei einer deutschen Polizeiwache und behauptet, der verschwundene Sander Meester zu sein, nach dem seit sechs Jahren gesucht wird. Die Geschichte kommt also ohne großes Vorgeplänkel sofort in Fahrt und ist von der ersten Seite an überaus fesselnd und sehr mysteriös. Anita Terpstra versteht es, Spannung aufzubauen, diese kontinuierlich zu halten und den Leser so in ihren Bann zu ziehen, dass man das Buch kaum aus der Hand legen kann. Ihr Erzählstil ist flüssig, schnörkellos und prägnant, die Charaktere glaubwürdig und interessant ausgearbeitet.
Man lernt nicht nur Alma, die Mutter des verschwundenen Sander kennen, sondern auch ihren Exmann Linc und Sanders Schwester Iris. Jedes der Familienmitglieder hat das Verschwinden des Kindes anders verarbeitet. Während Alma unbeirrt an der Hoffnung festhielt, dass ihr Sohn noch lebt und die Suche nach ihm nie aufgegeben hat, verfiel ihr Mann zunehmend in Depressionen und wurde immer antriebsloser, sodass es schließlich zur Trennung des Ehepaares kam. Alma ging mir fürchterlich auf die Nerven, denn gluckende Übermütter finde ich generell sehr anstrengend. Bei Alma war ich vor allem deshalb so genervt, weil sich ihre Aufmerksamkeit nur auf eines ihrer Kinder richtet, denn während Sander stets verhätschelt wird, scheint sie ihre Tochter geradezu zu vernachlässigen. Iris war nach jener Nacht im Ferienlager lange traumatisiert, wollte ihr Elternhaus danach so schnell wie möglich verlassen und lebt inzwischen in Amsterdam. Verwunderlich ist das nicht, denn das Mädchen hatte unter ihrem Bruder sehr gelitten, erfuhr von ihrer Mutter, die immer wieder Entschuldigungen für die Schandtaten ihres Sohnes fand, jedoch keinerlei Unterstützung. Sander wurde seiner älteren Schwester immer vorgezogen und niemand in der Familie wollte sehen, dass der Junge keineswegs der Musterknabe war, für den Alma ihn hielt.
Der Leser erlebt die Rückkehr Sanders nun aus der Perspektive jedes Familienmitglieds mit und wirft mit jedem von ihnen auch einen Blick zurück in die Vergangenheit und in die Zeit vor Sanders Verschwinden. Dabei treten erschütternde Details an die Oberfläche, die ein recht verstörendes Licht auf die Familie, aber auch auf das verschwundene Kind werfen. Da nie aus Sanders Perspektive erzählt wird, bleibt der Junge stets undurchsichtig, rätselhaft und mysteriös, sodass er sehr bedrohlich wirkt. Er verhält sich nach seiner Rückkehr äußerst eigenartig, denn er will nicht über seine Erlebnisse der vergangenen Jahre reden, lehnt auch therapeutische Hilfe ab und scheint sich an sehr einschneidende Ereignisse seiner Kindheit nicht mehr zu erinnern.
Doch die Bedrohung geht keineswegs nur von Sander aus, denn auch Linc und Iris scheinen etwas zu verbergen. Mit der Rückkehr des inzwischen siebzehnjährigen jungen Mannes brechen wieder alte Wunden auf, denn von der glücklichen Bilderbuchfamilie, die im Klappentext erwähnt wird, kann weder vor noch nach Sanders Verschwinden die Rede sein. Stattdessen werden nun nach und nach lange gehütete und düstere Geheimnisse zutage gefördert, bis sich schließlich eine erschütternde und wirklich grauenhafte Wahrheit offenbart.
Das Ende dieses Thrillers war für mich sehr überraschend und ließ mich auch nachdenklich zurück. Anita Terpstra ist es gelungen, eine sehr bedrohliche Stimmung zu erzeugen und eine spannende Geschichte zu konstruieren, die vollkommen ohne Blutvergießen auskommt und mir immer wieder einen eisigen Schauer über den Rücken jagte. Selbst der letzte Satz erzeugte noch eine finale Gänsehaut.

Eine gelungene Mischung aus packendem Thriller und geheimnisvollem Familiendrama!