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Veröffentlicht am 25.10.2019

Von Bienen- und Menschenvölkern

Winterbienen
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Winterbienen – Norbert Scheuer

Shortlist Deutscher Buchpreis 2019

"Der Lärm der Angriffe scheint den Bienen nichts auszumachen; sie leben in einer anderen, wie es scheint, friedlichen Welt, sie interessiert ...

Winterbienen – Norbert Scheuer

Shortlist Deutscher Buchpreis 2019

"Der Lärm der Angriffe scheint den Bienen nichts auszumachen; sie leben in einer anderen, wie es scheint, friedlichen Welt, sie interessiert der Krieg nicht." Seite 192

Januar 1944, über der Eifel sind britische und amerikanische Bomber unterwegs. Zwar muss Egidius wegen seiner Epilepsie nicht an die Front, trotzdem ist er in diesen Zeiten gerade deshalb in Lebensgefahr. Zusätzlich bringt er sich auch noch durch seine Tätigkeit als Fluchthelfer jüdischer Flüchtlinge über die Grenze nach Belgien in große Gefahr.
Ist der Krieg in dem kleinen Ort anfangs eher als Hintergrundrauschen wahrnehmbar, lässt er sich bald nicht mehr verdrängen. Die Lage für Egidius spitzt sich zu, auch weil der zu allem Überfluss ein Verhältnis mit der Ehegattin des Kreisleiters eingeht.

Geschrieben ist dieses Buch in Tagebuchform, mit angenehm kurzen Abschnitten und umfasst etwas mehr als ein Jahr, von Januar 1944 bis Frühjahr 1945.

Dieser Roman fällt durch seinen extrem angenehmen und ruhigen Schreibstil auf. Wie schön, wenn ein Autor in einer klaren, schnörkellosen Sprache seine Geschichte erzählen kann, ohne zu glauben, irgendetwas Neues, provozierend Innovatives mit Sprache anstellen zu müssen. Scheuer schreibt auf den ersten Blick eher nüchtern und transportiert doch so viele Emotionen zwischen den Zeilen.

Egidius führt ein recht einsames Leben und beschäftigt sich viel mit seiner Bienenzucht. Diese haben eine beruhigende Wirkung auf ihn, sind seine Rückzugszone. Generell wünscht er sich häufig einfach weg.
"In der Nacht träume ich, meine Bienen hätten mich gewärmt, hätten mich ganz umhüllt, und ich wäre ein Teil von ihnen geworden." Seite 198

Gerade die Bienen dienen als Grundlage für viele Metaphern und Kontraste die menschliche Gesellschaft betreffend. Das Summen der Bienen wird dem Brummen der Kriegsflugzeuge gegenübergestellt. Frieden gegen Krieg.
"Aber Bienen sind nicht aggressiv, sie würden niemals andere Völker erobern und sie unterjochen; sie sind friedfertig, wenn sie sich nicht angegriffen fühlen." Seite 19

Dass immer ein melancholischer Grundton mit dabei ist, ist kein Wunder angesichts der Umstände, in denen Egidius sich befindet, bzw. in die er sich selbst bringt. Das Kriegsgeschehen nimmt spürbar zu, es wird immer schwieriger, Medikamente zu bekommen. Die Stimmung wird bedrohlich, dieses Werk liest sich spannend wie ein Krimi.

Wie man im Anhang erfährt, beruht die Geschichte von Egidius auf wahren Begebenheiten. Ein entfernter Verwandter des Autors.
Ein wirklich verdienter Platz auf der Shortlist, ich hätte diesem Buch den Preis gegönnt!

Veröffentlicht am 27.09.2019

Das Mazursche Schweigen

Luzies Erbe
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Luzies Erbe – Helga Bürster

"Was auch immer passiert war, was auch immer sie sich angetan hatten, es hatte sie gegeben, diese Liebe." Seite 189

Wie man an obigem Zitat schon erkennen kann, geht es in ...

Luzies Erbe – Helga Bürster

"Was auch immer passiert war, was auch immer sie sich angetan hatten, es hatte sie gegeben, diese Liebe." Seite 189

Wie man an obigem Zitat schon erkennen kann, geht es in diesem Roman um eine große Liebe. Doch es geht noch um viel mehr. Johannes Großmutter Luzie stirbt fast hundertjährig und hinterlässt einen Koffer voller Erinnerungen. Nun endlich macht sich die Enkelin daran, den Familiengeheimnissen der Familie Mazur auf den Grund zu gehen. Denn Luzie hat sich damals im Krieg in den falschen Mann verliebt, in einen Polen. Diesen Verstoß gegen die damals geltenden Rassengesetze hat ihr das Dorf niemals verziehen.
Aus der lebenslustigen Luzie wurde im Laufe der Zeit eine verbitterte Frau und nicht nur das. Eine große Unfähigkeit Liebe zu zeigen und zu geben, wird noch über Generationen weitergegeben. Aus dem Mazurschen Schweigen wird der Mazursche Schmerz. Oder andersrum.
Und so ist nicht nur ein alter Koffer Luzies Erbe, sondern auch dieses Mazursche Schweigen.
4 Generationen von Frauen, die versuchen, viel zu spät ihren eigenen Weg aus dem Schweigen zu finden.

Ist Anfangs deutlich ein lockerer, humorvoller Unterton in der Geschichte erkennbar, so dominiert im weiteren Verlauf immer mehr ein tieftrauriger und melancholischer Grundton. Diese Veränderung findet parallel zur Resignation Luzies statt. Die Geschichte einer großen Liebe, die keine Chance hatte in Zeiten der Rassentrennung wird hier sehr gefühlvoll erzählt. Wie so oft im Leben hätte man jedoch mit einer besseren Kommunikation untereinander manches Leid verhindern können.
Letztendlich hat mir aber inhaltlich doch die eine oder andere Information zur Auflösung gefehlt, bzw. war der ein oder andere Grund war für mich nicht ganz überzeugend oder ausreichend.

Faszinierend, wie eine doch recht nüchterne Sprache mit plattdeutschen Einschüben eine solch starke Emotionalität transportieren kann. Sprachlich hat mir das Ganze sehr gut gefallen. Die Autorin hat einen angenehm unaufgeregten, trotzdem oft beinahe poetischen Erzählstil. Einfach schön.
Man muss aber dennoch aufpassen, oder gerade deshalb, dass man alles mitbekommt, denn die Informationen kommen Schlag auf Schlag. Und beinahe unauffällig.

Das Nachwort hält schließlich noch eine Überraschung bereit: So ist dieser Roman keine ganz und gar erfundene Geschichte, sondern es ist im Wesentlichen die Geschichte von Bürsters Großeltern. Diese Tatsache lässt mich einiges nochmal mit anderen Augen sehen.
Insgesamt lässt mich dieses Buch tief berührt zurück. 4,5 Sterne.


Veröffentlicht am 17.09.2019

Ein moderner russischer Roman

Luftgänger
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Luftgänger – Jewgeni Wodolaskin

Dieser Roman stand auf der Shortlist für den russischen Booker Prize. Für mich war das Buch trotzdem, oder gerade deshalb eine Überraschung. Ich hatte mich auf eine schwierige, ...

Luftgänger – Jewgeni Wodolaskin

Dieser Roman stand auf der Shortlist für den russischen Booker Prize. Für mich war das Buch trotzdem, oder gerade deshalb eine Überraschung. Ich hatte mich auf eine schwierige, sperrige Lektüre eingestellt und war sehr positiv überrascht. Mir hat es sehr gut gefallen!

Innokenti Platonow liegt in einem russischen Krankenhaus. Er weiß weder, was ihm fehlt, noch wie lange er hier schon liegt. Er hat seine Erinnerungen verloren, durch Tagebucheinträge sollen diese langsam wieder hochkommen. Das tun sie auch, doch es ist eine zähe Angelegenheit. Und es passiert auch nicht chronologisch sondern wild durcheinander.
Es wird schnell klar, dass der Patient wohl sehr lange ohne Bewusstsein war. Er hat Erinnerungen um das Jahr 1919 herum. Der behandelnde Arzt bestätigt ihm schließlich: Er ist genauso alt wie das Jahrhundert. Doch wie kann das sein? Man schreibt das Jahr 1999 und Anzeichen hohen Alters sucht man vergeblich bei Platonow.
Arzt und Pflegerin scheinen mehr zu wissen, versuchen ihren Patienten jedoch zu schonen und langsam an die neue Wirklichkeit heranzuführen.
Tatsächlich wird das Geheimnis der verschwundenen Zeit bereits nach gut hundert Seiten aufgelöst. Der Klappentext verrät darüber allerdings nichts, deshalb will ich das ebenso halten. Für mich ging es hier erst richtig los, die Geschichte hatte mich nun vollkommen und hielt etliche Gänsehautmomente bereit.

Geschrieben ist dieses Werk in Tagebuchform. Diese Form der Erzählung bringt meistens eine größere Distanz zu den Figuren mit sich. Was ich bei anderen Büchern gelegentlich kritisiert habe, hier hat es mir sehr gut gefallen. Gerade die kleineren Einheiten fand ich süchtig machend. Bei der Geschichte auf jeden Fall sehr passend.

Verständlicherweise hat Platonow Anpassungsschwierigkeiten. Er hat den kompletten Zweiten Weltkrieg verpasst. Viele moderne Geräte, die komplette Gesellschaft hat sich verändert. Der arme Mann ist wie aus der Zeit gefallen. Ich fand das wirklich spannend dargestellt.

"Eine faszinierende Jahrhundertchronik Russlands" titelt die BBC. Das finde ich jedoch total am Thema vorbei. So arg politisch fand ich das Buch nämlich gar nicht. Der bemitleidenswerte Protagonist ist eigentlich ein ziemlich unpolitischer Mensch. Mehr aus Versehen gerät er ins Räderwerk der Zeitgeschichte. Das aber immer unfreiwillig und als Opfer. Auch wird immer nur seine recht subjektive Sicht der Dinge beschrieben.

Dieser Roman ist auch noch toll geschrieben, eine wunderbar eingängige Sprache mit zahllosen Überlegungen über unsere moderne Zeit. Der Plot weiß immer wieder zu überraschen, auch wenn einige Längen nicht zu leugnen sind. Insbesondere die letzten hundert Seiten hätten locker um die Hälfte gekürzt werden können.
Nichtsdestotrotz hat mich dieses Werk mit seinen feinfühligen Beobachtungen, trotzdem modern, sehr beeindruckt. Allem liegt eine schwere Melancholie zugrunde.
Tatsächlich fühlte ich mich an diverse bekannte russische Autoren erinnert.

Ein wirklich sehr starkes Buch mit Gänsehautgarantie und viel Stoff zum Nachdenken. Zwar braucht es ein paar Seiten um seinen Sog zu entfalten, doch gebt ihm eine Chance, es lohnt sich!

Veröffentlicht am 14.09.2019

Überlebenskampf in den Dolomiten

Die Seele des Monte Pavione
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Die Seele des Monte Pavione – Matteo Righetto
Ich mag Romane, die in den italienischen Bergen spielen. Und so würde ich dieses Buch irgendwo zwischen Paolo Cognettis „Acht Berge“ und Mark T. Sullivans ...

Die Seele des Monte Pavione – Matteo Righetto
Ich mag Romane, die in den italienischen Bergen spielen. Und so würde ich dieses Buch irgendwo zwischen Paolo Cognettis „Acht Berge“ und Mark T. Sullivans „Unter blutrotem Himmel“ einordnen. Beide oben genannten haben mich begeistert und eine 5-Sterne-Bewertung bekommen. Auch „Die Seele des Monte Pavione“ mochte ich sehr, auch wenn ich finde, dass es nicht ganz an die beiden anderen heranreicht. Aber zugegeben: die Messlatte hängt hoch…
Am Ende des 19. Jahrhunderts. Die Familie de Boer lebt in einem kleinen Bergdorf vom Tabakanbau. Doch trotz harter Arbeit aller Familienmitglieder reichen die Einnahmen kaum zum Überleben. Der Vater, Augusto sieht sich gezwungen, jedes Jahr im Herbst ein paar Kilo Tabakblätter, die er vor den Kontrolleuren zurückgehalten hat, unter Lebensgefahr über die Berge nach Österreich zu schmuggeln. Als seine älteste Tochter Jole alt genug ist, nimmt er sie mit auf die Tour, um ihr die Schmugglerpfade zu zeigen und sie in die Geheimnisse einzuweihen.
Zwei Jahre später muss Jole die gefährliche Reise alleine antreten, denn ihr Vater ist von einer Schmugglertour nicht mehr zurückgekehrt.
Die Naturbeschreibungen sind einzigartig. Auch die Not, Joles Angst und Unsicherheit kommen sehr gut rüber. Es ist ein Kampf ums Überleben, nicht nur die Reise an sich, auch oder gerade das Leben im kleinen Bergdorf, das von schwerer Arbeit und Entbehrungen geprägt ist. Es sind rechtschaffene Leute, die durch die Lebensumstände dazu gezwungen sind, gegen das Gesetz zu handeln und dabei auch noch ihr Leben zu riskieren. Der Leser lernt Schäfer, Köhler, Minenarbeiter,… kennen, die alle am sozialen Rand tagtäglich um ihr Fortkommen kämpfen. Wie bereits der Klappentext verrät, ein soziales Drama.
Leider habe ich mir die Stelle nicht markiert, an der Augusto sinngemäß erklärt: Die von Menschen gemachten Grenzen sind nichts weiter als willkürlich gezogene Linien um andere Menschen auszubeuten. Die echten Grenzen hingegen trennen die Reichen von den Armen. Pflanzen und Tiere kennen keine Grenzen…
Dennoch sprachlich war es mir manchmal ein kleines bisschen zu einfach, zu wenig elegant. Da wäre mehr drin gewesen.
Die Handlung ist spannend und fesselnd. Gerade im letzten Drittel wurde es mir persönlich aber etwas zu sehr abenteuerlich und das Ende naja. Auf mich wirkte es etwas viel der glücklichen Zufälle, sehr gewollt. Ich hätte ein vielleicht offeneres Ende passender gefunden.
Aber insgesamt mochte ich dieses Buch wirklich sehr und vergebe 4,5 Punkte, die ich wohlwollende aufrunde!

Veröffentlicht am 05.09.2019

Spannende und gute Unterhaltung

ALLES WAS ICH DIR GEBEN WILL
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Alles was ich dir geben will – Dolores Redondo

Alvaro ist tot. Gestorben bei einem Autounfall in einer Gegend, in der er nicht hätte sein sollen. Was hatte er dort zu suchen? Sein Ehemann Manuel beginnt ...

Alles was ich dir geben will – Dolores Redondo

Alvaro ist tot. Gestorben bei einem Autounfall in einer Gegend, in der er nicht hätte sein sollen. Was hatte er dort zu suchen? Sein Ehemann Manuel beginnt widerwillig mit Nachforschungen. Denn sein Partner scheint etliche Geheimnisse gehabt zu haben, ja gar ein Doppelleben geführt zu haben. Die Spur führt Manuel mitten hinein in die Welt des Hochadels...

Stück für Stück wird das Leben und die Geheimnisse Alvaros beleuchtet. Manuel begibt sich dafür in eine Provinz in Galizien und spricht mit Familie und Freunden des Verunglückten. Dabei muss er feststellen, dass auch hier nicht jeder die ganze Wahrheit sagt.

Es steht nicht die große, durchgängige Spannung im Vordergrund. Die Geschichte überzeugt vielmehr durch wunderbar atmosphärische Landschaftsbeschreibungen und detailreiche Charakterzeichnungen. Auch nach dem Lesen sehe ich noch die Weinberge Galiziens vor mir.
Nichtsdestotrotz fiebert man als Leser mit Manuel mit. Was war Alvaro für ein Mensch? Hatte er sich so sehr in ihm getäuscht? In welche Dinge war er verwickelt, die ihn letztendlich das Leben kosteten?

Auf verschlungenen Pfaden führt uns die Autorin gekonnt zur überraschenden Auflösung. Erfolgreich baut sie einen Spannungsbogen auf, der einen starken Sog entwickelt.
Allerdings dauert es etwas, bis die Spannung aufgebaut ist. Dann entfaltet sich die Geschichte unheimlich vielschichtig und perspektivreich.
Sehr gute und spannende Unterhaltung.