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Veröffentlicht am 08.02.2020

In Zeiten des Umbruchs

Jahre der Veränderung
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1929 Berlin. Die Wirtschaftskrise hält die Bevölkerung weiter in ihrem Klammergriff, es fehlt an allen Ecken und Enden. Knapp ein Jahrzehnt ist vergangen, seitdem sich Edith, Luise und Margot zum ersten ...

1929 Berlin. Die Wirtschaftskrise hält die Bevölkerung weiter in ihrem Klammergriff, es fehlt an allen Ecken und Enden. Knapp ein Jahrzehnt ist vergangen, seitdem sich Edith, Luise und Margot zum ersten Mal begegnet sind. Mittlerweile sind die drei Frauen ausgebildete Hebammen, die gemeinsam an der Frauenklinik Neukölln tätig sind. Luise kümmert sich tagsüber intensiv um die Ausbildung des Nachwuchses, doch abends stürzt sie sich ins bunte Berliner Nachtleben, um so den tragischen Tod ihres Freundes Günther zu kompensieren. Edith hat sich neben ihrer Kliniktätigkeit der Beratung von jungen Frauen verschrieben. Sie möchte mit Männern nichts zu tun haben, seitdem sie haarscharf einer Vergewaltigung entgangen ist und denkt darüber nach, ein Medizinstudium zu beginnen. Als Jüdin muss sie zudem erstmals Diskriminierung und Beleidigungen einstecken. Derweil hat sich Margot mit einem verheirateten Arzt eingelassen, der allerdings keinerlei Anstalten macht, ihre Beziehung zu legalisieren. Währenddessen gewinnt Hitler immer mehr an politischem Einfluss, was sich auch auf das Leben der drei Frauen auswirkt…
Linda Winterberg hat mit „Jahre der Veränderung“ den zweiten Teil ihrer Hebammen-Saga vorgelegt, der erneut mit einem eingängigen, flüssigen und gefühlvollen Schreibstil sowie interessanten Handlung und gut recherchiertem Hintergrund überzeugen kann. Der Leser fühlt inmitten des Frauentrios sofort wieder unter alten Freundinnen und darf sie über einen Zeitraum von 4 Jahren bis 1932 wieder ein Stück ihres Lebens begleiten. Die Freundschaft zwischen Margot, Edith und Luise ist zusammengewachsen, sie geben sich untereinander Halt, führen aber auch alle einzeln ein Leben, das sich sehr von denen der Freundinnen unterscheidet. So darf der Leser durch die bildhaften Beschreibungen der Autorin mit Luise durchs Berliner Nachtleben der späten 20er Jahre folgen, wo sich die Bevölkerung ihren Frust des Alltags von der Seele tanzt und trinkt. Auch die Geburtsszenen im Kreißsaal sowie die leidgeprüften Jungmütter, die durch Prostitution den Lebensunterhalt verdienen müssen und sich dabei Krankheiten einfangen sind so plastisch geschildert, dass man als Leser hautnah dabei ist und miterlebt, wie nahe Freud und Leid beieinander liegen. Der mit der Handlung wunderbar verwebte geschichtliche Hintergrund ist gut recherchiert und zeichnet das Bild einer politisch gebeutelten Bevölkerung, die immer mehr Arbeitslose zu verzeichnen hat und von der Hand in den Mund lebt. Die wachsende Macht Adolf Hitlers wirft ihre Schatten voraus, schon bald weht ein rauer Ton durch Berlins Straßen, der vor allem Edith als Jüdin in Angst versetzt.
Die Charaktere haben sich natürlich weiterentwickelt und sind nun erwachsene Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stehen und dem Leser wie alte Freundinnen erscheinen, die man schon ewig kennt und deren Schicksal einem am Herzen liegt. Aufgrund dieser Nähe fällt das Mitfiebern, Mitbangen und –hoffen leicht, und Winterberg lässt den Leser eine Achterbahn der Gefühle durchleben. Edith geht regelrecht in ihrem Beruf auf. Sie ist ehrgeizig und so schnell nicht aus der Ruhe zu bringen, doch die immer öfter aufkommenden Judenanfeindungen wehen ihr ins Gesicht und lassen Angst in ihr aufsteigen. Luise ist feinsinnig und sensibel, fühlt sich verloren. Deshalb kommt sie auch nicht über Günthers Tod hinweg. Sie sucht das Vergessen in der schillernden Berliner Nachtwelt, doch diese bunte Scheinwelt kann sie nur für einige Stunden ablenken. Margot ist eine Kämpferin, die nicht so schnell aufgibt. Doch ihre Affäre bringt sie an den Rand der Verzweiflung und lässt sie leiden, denn sie sehnt sich so sehr nach Liebe. Aber auch Protagonisten wie Marina geben der Handlung zusätzliche Glanzpunkte.
„Jahre der Veränderung“ ist eine wunderbare Fortsetzung, die von Beginn an mit einer packenden Handlung sowie einem spannenden historischen Hintergrund zu fesseln weiß. Herausragend und abwechslungsreich erzählt, kann es hier nur eine absolute Leseempfehlung geben.

Veröffentlicht am 08.02.2020

Liebe und Leid liegen nah beieinander

Die Schleusen des Himmels
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Der 64-jährige Kriegsveteran Joseph „Jo-Jo“ Brooks lebt nach traumatischen Erfahrungen in einer einsam gelegenen Berghütte, als plötzlich die Mexikanerin Catalina mit ihren beiden Kindern Gabby und Diego ...

Der 64-jährige Kriegsveteran Joseph „Jo-Jo“ Brooks lebt nach traumatischen Erfahrungen in einer einsam gelegenen Berghütte, als plötzlich die Mexikanerin Catalina mit ihren beiden Kindern Gabby und Diego auf der Flucht im tiefsten Schnee bei ihm Unterschlupf findet. Als Jo-Jo von ihrem Schicksal erfährt, lädt er alle kurzerhand inklusive seines Streuners Rosco ins Auto und bringt sie zu Catalinas Bruder nach Florida, wo sie zukünftig in einer Gruppe von mexikanischen Arbeitern in Sicherheit sind. Auf dem Rückweg kommt Jo-Jo an Cape San Blas vorbei, den Ort seiner Kindheit und wo seine Jugendliebe Allie immer noch lebt, die gerade ihren zweiten Ehemann durch einen LKW-Unfall verloren hat. Das Wiedersehen mit Allie nach so vielen Jahren ist schmerzlich, aber bald schon schmieden die beiden Zukunftspläne, als Catalina sich wieder mit ihm in Verbindung setzt, weil sie und die Kinder in Gefahr sind. Jo-Jo macht sich sofort auf den Weg und sammelt die kleine Familie ein, die in Cape San Blas bald ein Zuhause findet. Je länger Jo-Jo mit Allie zusammen ist, umso mehr holt ihn die Vergangenheit ein, die er jahrzehntelang zu verdrängen suchte…
Charles Martin hat mit „Die Schleusen des Himmels“ einen fesselnden, emotionalen Roman vorgelegt, der den Leser schon mit dem Prolog in die Geschichte eintauchen und ab da nicht mehr loslässt. Der Erzählstil ist flüssig, gefühlvoll, tiefgründig und bildhaft, der Leser hat ein wunderbares Kopfkino durch die plastischen Beschreibungen, um gleichzeitig Jo-Jo und sein bewegtes Leben während der Lektüre kennenzulernen. Der Autor lässt den Leser durch Jo-Jos Erinnerungen an zahlreichen Kriegseinsätzen in Vietnam teilhaben, sondern auch die prägenden Begegnungen, die ihm dort wiederfahren sind, miterleben. Jo-Jos Leben gleicht einer Aneinanderreihung von aufregenden Abenteuern, doch eigentlich sind sie die Flucht eines Mannes, der seine einzige Liebe verloren glaubte und seinem Leben keinen Wert mehr beimaß. Wunderbar und spannend zugleich ist die langsame Aufarbeitung für den Leser zu beobachten, der miterleben darf, dass ein Mann ohne Hoffnung plötzlich den Glauben wiederfindet und eine Zukunft für sich sieht. Gleichzeitig wirft er mit jeder Erzählung aus seiner Vergangenheit ein Stück Ballast von sich und nähert sich Stück für Stück wieder einem Leben, das er sich immer gewünscht hat. Die Episoden mit der nächtlichen Radioshow sind ebenso eindringlich wie das Zusammentreffen zwischen Jo-Jo und seinem Bruder, die sich seit Jahren kaum gesprochen haben. Der Autor weiß nicht nur hervorragend, mit dem Gefühlsbarometer des Lesers zu spielen, sondern bedient sich auch interessanter Themen wie Alkoholismus, Loyalität, Dienst fürs Vaterland und Einwanderungsproblematik. Überraschende Wendungen machen die Geschichte durchweg spannend zu einem wahren Pageturner.
Die Charaktere sind wunderbar lebendig skizziert, wirken real und authentisch, so dass der Leser sich ihrem Charme gar nicht entziehen kann und sich als unsichtbarer Zaungast in ihrer Mitte niederlässt, um mit ihnen zu leiden, zu fühlen und zu hoffen. Jo-Jo ist ein Mann der Gegensätze, voller Schmerz und Schuldgefühlen. Gleichzeitig ist er sanft, gerecht, großzügig, mitfühlend und will immer nur das Beste für diejenigen, die ihm am Herzen liegen. Allie ist eine Frau, die immer wieder enttäuscht wurde, mit Leib und Seele kocht und sich nach der Liebe sehnt, die sie schon so lange vermisst. Catalina ist eine herzensgute Frau, die mit ihren Kindern durch die Hölle ging, aber durch Jo-Jo und viel Fleiß ein neues Leben beginnen kann. Bobby ist Jo-Jos älterer Bruder, der als Senator einigen Einfluss hat, aber sein Leben mit Lügen pflasterte. Radiomoderatorin Suzie ist die Stimme der Nacht, die immer ein offenes Ohr hat, der man aber nie etwas vormachen kann. Sie leidet unter dem Verlust des Vaters, den sie nie kennenlernen durfte und gibt nicht auf, etwas über ihn herauszufinden. Aber auch Hund Rosco hat seine ganz besondere Rolle in dieser Geschichte und lockert mit seinen Auftritten die Szenerie immer wieder etwas auf.
„Die Schleusen des Himmels“ ist ein fesselnder wunderbarer Roman, den man nicht aus der Hand legen kann, bis man die ganze Geschichte kennt. Voller Überraschungen, emotionalen Höhepunkten und jede Minute Lesezeit wert. Absolute Empfehlung!

Veröffentlicht am 08.02.2020

Niemals vergessen...

Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden
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Die 1924 in Rumänien geborene Hédi Fried wurde 1944 als Zwanzigjährige mit ihrer gesamten Familie von Ungarn aus nach Auschwitz deportiert. Bereits nach der Ankunft dort wurden ihre Eltern in die Gaskammern ...

Die 1924 in Rumänien geborene Hédi Fried wurde 1944 als Zwanzigjährige mit ihrer gesamten Familie von Ungarn aus nach Auschwitz deportiert. Bereits nach der Ankunft dort wurden ihre Eltern in die Gaskammern geschickt, während Hédi mit ihrer jüngeren Schwester Livi das tägliche Grauen in Form von unmenschlichen Arbeitsdiensten, Hunger und Demütigungen nicht nur in Auschwitz, sondern auch in Bergen-Belsen bis zur Befreiung 1945 überlebt haben. Die beiden Schwestern kamen über ein Programm nach Schweden, wo sie für sich eine neue Heimat gefunden haben. Hédi besucht seit über drei Jahrzehnten Schulklassen und Universitäten, wo sie über ihre Erlebnisse erzählt und den Interessierten Fragen beantwortet, um ihnen zu verdeutlichen, was der Holocaust bedeutet und die Menschen damals tagaus tagein erdulden und ertragen mussten. Dabei versucht sie auch zu vermitteln, wie manche damals zu Tätern wurden.
In „Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden“ gibt Hédi Fried einen Einblick über die meisten an sie von Menschen gestellten Fragen, die sie mit einer pragmatischen Art ohne Schnörkel beantwortet. Gerade diese sachliche Auseinandersetzung mit der Thematik sowie dem eigens Erlebten macht dieses Buch zu einer wertvollen und sehr glaubhaften Lektüre, denn hier ist kein Mensch, der sich selbst bedauert, obwohl gerade hier jeder Verständnis dafür hätte. Die in diesem Buch enthaltenen Fragen decken ein breites Spektrum ab, so geht es neben Fragen wie „Warum hasste Hitler die Juden“, „Was war das Schlimmste, was Sie erlebt haben“, „Wie war es, im Lager zu leben“ oder „Waren Sie die ganze Zeit hungrig“ auch um Dinge wie „Wie konnte sich ein ganzes Volk hinter Hitler stellen“, „Warum haben Sie keine Widerstand geleistet“, „Wie war Ihr Leben vor dem Krieg“ oder „Warum haben Sie sich für Schweden entschieden?“. Die wichtigste Frage aber ist „Können Sie vergeben“. Während die Antworten bei den meisten Fragen recht ausführlich behandelt werden, gibt es für diese existentielle Frage nur eine recht kurze Antwort, die aber dafür umso eindringlicher ist und dem Leser immer präsent ist während der Lektüre und darüber hinaus. Bemerkenswert ist auch die Art und Weise, wie Hédi Fried über ihre Peiniger schreibt, denn sie selbst hat sich die Frage gestellt, wie sie gehandelt hätte mit ähnlichem Hintergrund und Erziehung.
„Fragen, die mir zum Holocaust gestellt werden“ sollte als Lektüre ein Muss für die Schüler von heute sein, um ihnen begreiflich zu machen, was damals geschehen ist und nie wieder passieren darf. Gerade in der heutigen Zeit, wo Rassismus und Antisemitismus an der Tagesordnung sind, ist es wichtig, allen vor Augen zu führen, was daraus entstehen kann, wenn man nicht früh genug Einhalt gebietet. Hédi Fried gehört zu den letzten Zeitzeugen und ihre Worte dürfen nicht ungehört bleiben oder verloren gehen. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 02.02.2020

Philadelphias "Ground Zero"

Long Bright River
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Die 33-jährige Streifenpolizistin Mickey Fitzpatrick ist alleinerziehend und hat ihren Arbeitsbereich im Stadtteil Kensington in Philadelphia. Seit 5 Jahren hat sie keinerlei Kontakt mehr zu ihrer jüngeren ...

Die 33-jährige Streifenpolizistin Mickey Fitzpatrick ist alleinerziehend und hat ihren Arbeitsbereich im Stadtteil Kensington in Philadelphia. Seit 5 Jahren hat sie keinerlei Kontakt mehr zu ihrer jüngeren Schwester Kacey, und während sie mit ihrem Polizeiwagen durch die Straßen streift, sucht sie in den Passanten auch immer wieder nach ihr, weil sie sich Sorgen um sie macht. Kacey hat Drogenprobleme, ist dem Tod durch eine Überdosis schon mehr als einmal von der Schippe gesprungen und bietet als Prostituierte ihren Körper für den nächsten Schuss an. Als ein Serienkiller in Kensington sein Unwesen treibt und dafür drogenabhängige Prostituierte in sein Visier nimmt, macht sich Mickey daran, nicht nur dem Mörder auf die Spur zu kommen, sondern dabei auch endlich ihre wie vom Erdboden verschluckte Schwester wiederzufinden…
Liz Moore hat mit „Long Bright River” einen durchweg fesselnden und spannenden Roman vorgelegt, der neben Krimielementen auch eine Familiengeschichte beinhaltet, die den Leser sofort anspricht. Der Erzählstil ist bildhaft, flüssig und packend, so dass der Leser schon mit wenigen Zeilen von der Handlung angefixt ist und zwischen den Seiten abtaucht, um mehr über das Schicksal der beiden ungleichen Schwestern zu erfahren. Durch die wechselnden zeitlichen Perspektiven zwischen damals und heute erfährt der Leser von der Ich-Erzählerin Mickey nach für nach über deren Kindheit und wie es zu dem Zerwürfnis zwischen den Schwestern gekommen ist. Gleichzeitig lässt die Autorin den Leser einen Streifzug durch Philadelphia und insbesondere im abgehalfterten Stadtteil Kensington unternehmen, sich unter die Drogensüchtigen mischen und den Dealern bei der Arbeit zusehen. Kensington gilt als der größte Drogenmarkt im Osten der USA und wird auch „Ground Zero“ oder „El Campamento“ genannt, wer einmal dort war, wird diesen Anblick nie mehr vergessen. Da stapeln sich knöchelhoch die Einwegspritzen auf dem Boden und ein Blick in die Gesichter der Menschen lässt den Puls hochgehen, so resigniert und abgestumpft schauen sie durch einen hindurch. Sehr authentisch wird das Suchtproblem beschrieben und hinterlässt beim Leser nicht nur Gänsehaut, sondern auch Mitgefühl. Mit überraschenden Wendungen hält die Autorin den Leser mit psychologischem Geschick in Atem, während er durch eine Achterbahn der Gefühle watet.
Die Charaktere sind sehr lebendig und glaubwürdig ausgearbeitet, sie besitzen Authentizität und gerade deshalb fällt es dem Leser leicht, ihrer Geschichte zu folgen und sich ihnen verbunden zu fühlen, denn ihr Schicksal findet überall auf der Erde ähnlich statt. Mickey ist eine zuverlässige, fürsorgliche und verschlossene Frau, als Polizistin muss sie knallhart sein, um in dem ihr zugewiesenen Viertel zu überleben. Sie lässt die Dinge nicht zu nahe an sich herankommen, die Sorge über ihre Schwester allerdings bringt sie zur Verzweiflung und lässt sie manchmal die Vorsicht vergessen. Kacey ist das Gegenteil ihrer Schwester, aufgeschlossen, neugierig, experimentierfreudig und vor allem risikofreudig, was sie in eine Abhängigkeit drängte, der sie nicht mehr ohne Hilfe entfliehen kann. Eddie Lafferty ist Mickeys neuer Partner und ein herzloses Ekel, so dass die Partnerschaft nicht lange dauert. Ebenso überzeugen die weiteren Protagonisten mit ihren Auftritten und lassen die Handlung rundum gelungen wirken.
„Long Bright River” ist ein tiefgründiger und facettenreicher Roman über Abhängigkeiten, das Leben am Rande der Gesellschaft, Familientragödien und ein schwieriges Schwesternverhältnis. Obwohl eher ruhig erzählt, wühlt die Geschichte auf und geht dem Leser auch dann lange nicht aus dem Sinn, wenn die letzte Seite gelesen ist. Absolute Leseempfehlung!

Veröffentlicht am 01.02.2020

Hoffnung ist ein Licht in dunkler Nacht

Tage des Lichts
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1939. Während der Krieg kurz bevor steht, hat die Jüdin Ruth Meyer mit Einfallsreichtum einen Job als Dienstmädchen in Frinton-on-Sea bei der Familie Sanderson auf deren Hof ergattert und hofft, dass ...

1939. Während der Krieg kurz bevor steht, hat die Jüdin Ruth Meyer mit Einfallsreichtum einen Job als Dienstmädchen in Frinton-on-Sea bei der Familie Sanderson auf deren Hof ergattert und hofft, dass ihre Familie bald nach England kommen kann, denn die dafür nötigen Papiere hat sie inzwischen alle besorgt. Die Verlegung ihres Vaters nach Dachau bringt neue Probleme mit sich, doch Ruth kämpft sich durch und kann in letzter Minute alles regeln. Während die Sandersons ihre eigenen Probleme haben, die auch auf den Alltag von Ruth abfärben, macht England Deutschland eine Kriegserklärung, und die Situation spitzt sich zu. Nun hofft Ruth, dass sie mit ihrer Familie nach Amerika übersiedeln kann, aber die Zeit wird knapp und immer wieder werden ihnen allen Steine in den Weg gelegt…
Ulrike Renk hat mit „Tage des Lichts“ den dritten Band ihrer Seidenstadt-Saga vorgelegt, der sich nahtlos an den Vorgänger anschließt und das Leben von Ruth Meyer und ihrer Familie wieder lebendig werden lässt, handelt es sich doch hier um eine auf Tatsachen beruhende Romanserie. Der Schreibstil ist flüssig, gefühlvoll und farbenfroh, der Autorin gelingt es erneut, den Leser schnell an die Seiten zu fesseln, um Ruth in dieser für sie schicksalhaften Zeit wie ein Schatten zu folgen und ihre Sorgen und Nöte mit ihr zu teilen, während die Welt aus den Angeln gehoben wird. Die akribische Recherche der Autorin ist eine echte Bereicherung für die Handlung, denn während man der Lektüre folgt, hat man als Leser immer im Hinterkopf, dass es diese Menschen wirklich gegeben hat und was sie alles durchmachen mussten. Zudem wurde der geschichtliche Hintergrund wunderbar mit der Handlung verknüpft, so dass man neben der politischen Lage auch die gesellschaftlichen Entwicklungen miterlebt. Der Leser watet durch ein Meer an Emotionen, denn nicht nur das Schicksal der Familie Meyer geht ans Herz, auch die Kriegsumstände liegen einem während der Lektüre im Magen, weiß man doch nicht nur durch den Geschichtsunterricht, was mit den Menschen damals passiert ist.
Die Charaktere haben sich weiterentwickelt und wirken lebendig und realitätsnah. Gerade, weil es sich hier um die Geschichte einer realen Familie handelt, deren wahre Geschichte mit fiktiven Elementen verbunden wurde, kommt der Leser den Protagonisten so nah wie nur möglich und fiebert mit ihnen, ob sie es alle schaffen werden. Ruth hat sich von einem doch eher verwöhnten jungen Ding zu einer starken, mutigen Frau gemausert, die die Ärmel hochkrempelt und für die kämpft, die ihr wichtig sind. Sie ist sich für nichts zu schade, versucht durch harte Arbeit ihre Einsamkeit und ihre Angst zu unterdrücken. Dabei hält sie den Rücken gerade und strahlt nach außen Stärke aus. Olivia ist eine schreckliche Frau, die andere erniedrigt, damit es ihr besser geht. Freddy ist das Gegenteil seiner Frau, hat ein Herz und steht für andere ein. Edith Nebel ist eine Seele von Mensch, selbstlos, hilfsbereit und mit einem großen Herzen ausgestattet. Ebenso können weitere Protagonisten mit ihren Auftritten überzeugen und geben der Geschichte Authentizität.
„Tage des Lichts“ ist eine wunderbare Fortsetzung der Seidenstadt-Saga, der den Leser von Anfang bis Ende in Atem hält und auf eine Achterbahn der Gefühle schickt. Wieder einmal hervorragend erzählt und mit einer absoluten Leseempfehlung ausgestattet!