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Eight_butterflies

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Veröffentlicht am 12.03.2023

Von der Tragik des Übersehenwerdens

Unsichtbar
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„Und der Montag bricht an für einen Jungen, der keine Lust hat, in die Schule zu gehen. Er sieht aus dem Fenster und wünscht sich, es würde so viel schneien, dass er nicht hinausgehen kann, es würde so ...

„Und der Montag bricht an für einen Jungen, der keine Lust hat, in die Schule zu gehen. Er sieht aus dem Fenster und wünscht sich, es würde so viel schneien, dass er nicht hinausgehen kann, es würde so heftig regnen, als käme das Meer direkt bis vor die Tür, es wäre so kalt, dass sogar seine Ängste einfrieren… Aber vergeblich. Die Sonne scheint.“ Unaufgeregt, nüchtern und leise erzählt Eloy Moreno die Geschichte eines namenlosen Jungen, die als Gesamtwerk zu schreien scheint. Das Buch bewegt zutiefst und ist mehr als eine Story über Mobbingopfer. Es ist ein tragisches Zeugnis über den Schmerz betroffener Seelen und ein Plädoyer für mehr Courage, Hinsehen und Handeln gegen die Unsichtbarkeit.

Die Handlung des Buches ist zunächst schwierig zu fassen, puzzelt sich dann im Laufe der kurzweiligen Kapitel zusammen. Ein Junge hatte einen Unfall, gelangt in psychologische Behandlung. Dort fällt auf, er ist absolut überzeugt davon, unsichtbar zu sein wie ein Comicheld. Erzählt wird dann das kindliche Erleben in der Schule, offensichtlich vor dem Unfall. Der Junge sagt NEIN zum Abschreiben, wird zunehmend durch Mitschüler gedemütigt, so dass er sich fühlt als hätte er „einen Igel verschluckt“ oder „ein Elefant würde auf der Brust rumtrampeln“. Die Demütigungen sind so schmerzhaft, dass sie unaushaltbar scheinen. Um überleben, ertragen und verstehen zu können, was ihm geschieht, verschmelzen die Realität der Geschehnisse mit der Fantasiewelt der Comichelden und deren Superkräften. Unter Wasser atmen zu können oder Superpower in der Faust zu haben und eben unsichtbar zu sein. Täter sind die Monster, Helfende die Drachen und die Superkräfte. Diese sind so wirksam wie im Comic, während in der Realität nur die Schwester Luna und eine ehemals selbst zum Mobbingopfer gewordene Lehrerin Kraft geben. So wird deutlich, dass Täter nicht nur der Drahtzieher MM ist, sondern auch Duldung, Hinwegsehen, Übersehen eine lange Liste von Mittätern und Mitläufern produziert. Der Junge sammelt solch eine ganze Liste von Personen und Situationen, die er als Beleg nutzt, warum Unsichtbarkeit die einzige Erklärung für seine Erlebenswelt ist.

Das Buch hat einen flüssigen Schreibstil, kurze Kapitel und liest sich in einem Ritt durch. Durch den Wechsel der Erzählperspektive wird die Sicht der Realität und die der Überlebensstrategie Fantasie geschickt schriftstellerisch nebeneinander gestellt. Der kunstvoll neutrale und schnörkellose Stil trägt nicht wenig dazu bei, die verstörenden Schilderungen so in ein tragisches Licht zu stellen, dass mir beim Lesen ein fetter Kloß im Hals sitzt. Ich verstehe plötzlich selbst, dass Unsichtbarkeit erklärt, warum zu Hause „keiner merkt, dass in seinem Körper keine Freude mehr ist, dass in seinem Gesicht nur noch gezwungen gelächelt wird, dass seine Augen fast immer ins Leere blicken.“

Das Buch sollte zur Pflichtlektüre an Schulen werden, weil es den Perspektivwechsel für die Überseher, Wegseher, Hindurchseher ermöglicht. Es kann das Thema Mobbing und die verbreitete Strategie des Übergehens, die zur Unsichtbarkeit führt, thematisieren helfen. Ein verbreitetes Problem, das alle angeht und unbedingt ins Zentrum der Gesellschaft gehört.

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Veröffentlicht am 21.02.2023

Toxische Frauendynastie, deren Darstellung mich fasziniert

Männer sterben bei uns nicht
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Vorweg sei bemerkt, dieses Buch habe ich zweimal gelesen, bevor ich es einschätzen kann. Angetrieben durch eine magische Fesselung an die bedrückende Stimmung, welche der Roman bei mir zurück ließ, blätterte ...

Vorweg sei bemerkt, dieses Buch habe ich zweimal gelesen, bevor ich es einschätzen kann. Angetrieben durch eine magische Fesselung an die bedrückende Stimmung, welche der Roman bei mir zurück ließ, blätterte ich sofort von Seite 204 zurück zum Anfang und begann erneut suchend zu lesen. Ich wollte besser verstehen, aufklären oder erfassen, konnte dies jedoch nur begrenzt. Nun blicke ich mit einem Kloß im Bauch auf eine latent paternalistische Beziehungskultur, toxische Weiblichkeit und verborgene Misandrie, die Annika Reich in ihrem Buch „Männer sterben bei uns nicht“ konstruiert.

Luise ist in den Dreißigern, als ihre Großmutter stirbt. Anlässlich der Beerdigung treffen sich die Frauen wieder, die man gemeinhin als Verwandtschaft bezeichnen würde, die Großmutter geringschätzte und gar aussortierte. In Rückblenden, die jeweils einen Ankerpunkt im angrenzenden Kapitel haben, schildert Luise Bruchstücke ihrer Erinnerungen und Beziehungen. Dazu gehört immer wieder die Erwähnung, Luise habe als Kind zweimal eine tote Frau im angrenzenden See gefunden. Ebenso wird immer wieder deutlich, dass Luise in der großmütterlichen Dynastie bevorteilt und das Anwesen erben wird. Dieses Anwesen prägt Großmutters Wesen, ihr Handeln und Steuern. Sie wird zusammen mit dem Anwesen zum Kern der Familie, eher einer Dynastie von Frauen. Eine „Großmutter“, für die „das Wahren der Form immer die Lösung für alles gewesen ist - Beziehungen, Stil, Gartengestaltung, Vergangenheitsbewältigung.“ Das führt dazu, dass in dieser Familie Gefühle vermieden werden, sie einsam machen, besiegt oder verkleidet oder betäubt werden müssen. Jede hat ihre Strategie, mit Großmutters Geringschätzung umzugehen. Männer werden frühzeitig entfernt, ignoriert oder sie fliehen, finden nur - wenn überhaupt - in Erinnerungen Platz, werden aber zum Schein von Großmutter immer mitgedacht. Zum Sterben und damit zu einem wirklich wichtigen Beitrag zur Welt, kommt es nur bei Frauen.

Das Buch ist in einem kunstvollen Stil geschrieben, der poetisch und zum Teil malerisch durch einen eher schwachen Plot führt. Es wird ein Schmetterling verscheucht wie eine schlechte Idee, Häuser schweigen und die Familie muss getrimmt werden wie ein Japanischer Garten. Solch anmutige stilistische Mittel, Allegorien und Metaphern nehmen mich mit der latent bedrückenden Stimmung in einen Bann.

Ich gebe eine Leseempfehlung für Freundinnen und Freunde poetischer Sprache, die sich gern in Stimmungen hingeben und auch mit offenen Fragen zurückbleiben können.

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Veröffentlicht am 11.01.2023

Brandaktuelle Familiengeschichte

Rote Sirenen
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Victoria lebt in Amerika, stammt aber aus der Ukraine, wohin es sie auf der Suche nach einem in den 1930er Jahren verschwundenen Urgroßonkel zieht. Dessen Verschwinden wird in der Familie tabuisiert, aber ...

Victoria lebt in Amerika, stammt aber aus der Ukraine, wohin es sie auf der Suche nach einem in den 1930er Jahren verschwundenen Urgroßonkel zieht. Dessen Verschwinden wird in der Familie tabuisiert, aber Victoria wollte „einen Verwandten würdigen, von dem nicht mehr geblieben war als ein durchgestrichener Name“. Auf Spurensuche in der Ukraine gräbt Victoria tief in der sowjetischen Kultur, ukrainischer Vergangenheit, in der Geschichte der Familie und in den ukrainischen Orten wie Kiew und dem Dorf Bereh, das mitten in der Ukraine liegt.
Beim Lesen des flüssigen Textes, der mich emotional mitnehmen konnte, beschäftigt mich immer wieder der Bezug zur aktuellen Situation und die Wiederholung der Geschichte in der heutigen Zeit. Wie auch Victorias Familie damals und heute sind viele Familien sowohl russisch- als auch ukrainisch-stämmig. Beide Nationen sind verwoben, untrennbar und das war lange Zeit gut so. Und dann sind da die beschriebenen Ereignisse, die nicht nur betroffen sondern fassungslos machen ob der menschlichen Abgründe. Jüngst wurde es von Oleksandra Matwijtschuk (ukrainische Nobelpreisträgerin für die Organisation "Zentrum für bürgerliche Freiheiten") präzise auf den Punkt gebracht: „Grausamkeit ist Teil der russischen Kultur“. Auch die von Victoria Belim geschriebene autobiographische Familiengeschichte legt dazu Zeugnis ab. Die Leserinnen und Leser erleben beim Lesen, dass die „Abwesenheit von Wahrheit noch gefährlicher als die Anwesenheit von Lügen“ ist. Schon für die damalige Zeit schreibt Victoria Belim: „Das von der sowjetischen Propaganda abgesteckte Universum bestand aus krummen Spiegeln, die die Wirklichkeit verzerrten.“
Dieses Buch ist vor dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine 2022 geschrieben worden, beschreibt exemplarisch eine wichtige und berührende russisch-ukrainische Familienvergangenheit und ist nun wieder hoch aktuell. Ich gebe eine klare Leseempfehlung.

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Veröffentlicht am 06.11.2022

Ein Buch, das in den Bann zieht

Die Überlebenden
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Alex Schulmann ist ein faszinierendes Werk gelungen, das in jeder Seite besticht und erst am Ende seinen vollen Sinnsog entfaltet. Es beginnt am Ende eines Tages mit dem Treffen dreier Brüder im weit abgelegenen ...

Alex Schulmann ist ein faszinierendes Werk gelungen, das in jeder Seite besticht und erst am Ende seinen vollen Sinnsog entfaltet. Es beginnt am Ende eines Tages mit dem Treffen dreier Brüder im weit abgelegenen Sommerhaus am schwedischen See, mit einer scheinbar wesentlichen Rolle der Urne mit der Asche der gemeinsamen Mutter und einem Polizeiaufgebot. Anschließend wird die Entwicklung des Tages rückwärts erzählt, während alternierend Geschichten aus der familiären Vergangenheit beigeboten werden. Es spannt sich eine Handlung auf, die erst auf den letzten Seiten ihren wahren Kern offenbart und mich als Leserin betroffen, fast geklatscht zurücklässt. Uff, was für ein fulminantes Ende.
Der Roman überzeugt auch durch klare Sprache, nichts Überpoetisches nervt oder setzt Schnörkel. Und doch gelingt es, eine reale Imagination der Geschehnisse aufzubauen und Emotionen herauszustellen, die mich immer weiter haben lesen lassen.
Ich gebe eine deutliche Leseempfehlung für dieses skandinavische Highlight.

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Veröffentlicht am 30.10.2022

Berührend, tragisch, fesselnd

Feldpost
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Wo Mechtild Borrman drauf steht, ist immer auch Mechtild Borrmann drin. Wieder legt sie ein fulminantes Werk vor, das mich vom ersten Kapitel an bindet. Auch dieses Buch „Feldpost“, dessen Cover wunderbar ...

Wo Mechtild Borrman drauf steht, ist immer auch Mechtild Borrmann drin. Wieder legt sie ein fulminantes Werk vor, das mich vom ersten Kapitel an bindet. Auch dieses Buch „Feldpost“, dessen Cover wunderbar ausdrückt, was die Leserinnen und Leser erwartet, hat mich in den Bann gezogen und in einem Ritt lesen lassen bis zum letzten Satz, der einen so wendungsreichen Plot auf eine Weise abschließt, dass er noch lange nachhallt.
Die Geschichte beginnt zunächst ein wenig unauthentisch. Cara Russo ist Anwältin und erhält auf mysteriöse Weise von einer Unbekannten in einem Café eine Sammlung von sehr alten Briefen, Feldpost. Sie begibt sich auf Spurensuche in der Gegenwart, was nicht ganz zur vollständigen Aufklärung der Zeitebene von 1935 bis 1945 führt. Borrmann erzählt aber auf dieser Vergangenheitsebene eine komplette Geschichte, die authentisch, aufregend, spannend und schmerzhaft ist und die Ebene der Gegenwart rund um Cara und das Jahr 2000 fabelhaft ergänzt. Der Plot lebt von den auslösenden Emotionen, dem Mitgefühl und der tief sitzenden Tragik der Ereignisse im Nazionalsozialismus. Es geht um Vertreibung, Flucht, Exil, die Verfolgung Homosexueller, Enteignung, Familienzusammenhalt, Freundschaft, Verrat und Abhängigkeiten, aber vor allem um eine große Liebe. Es gelingt der Autorin in einem flüssigen Schreibstil und durch den geschickten Aufbau der glaubwürdigen Handlung Sympathien und Antipathien aufzubauen, die nicht nur schwarz und weiß malen, sondern in die Abgründe und Höhenflüge des Menschseins entführen, so wie es die Zeit des Nazionalsozialismus vermutlich hervorgebracht hat. Gekonnt wird dies im historischen Kontext platziert, gut recherchiert und glaubhaft dargestellt.
Nach jedem Buch von Mechtild Borrmann denke ich, jetzt ist dieser Stil und sind ihre Geschichten doch aber auserzählt. Und dann kommt ein neues Stück, wieder so faszinierend und mitreißend. Immer wieder gerne Mechtild Borrmann.

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